- 300 Jahre St. Petersburg -
Russland und die "Göttingische Seele"

 
 
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Die "Göttingische Seele" bei Puschkin

Das Göttingische bei Puschkin ist in einem Wort manifest, dem Adjektivum "gettingenskij" (göttingisch), das im Versroman "Eugen Onegin" an auffälliger Stelle erscheint. Es ist jene Stelle, da die Gegenfigur zum Titelhelden eingeführt wird. Onegin, der junge, flatterhafte, gelangweilte Petersburger Dandy, hat sich aufs Land begeben und das von seinem Onkel ererbte Landgut in Besitz genommen. Nur kurz vermag er die neue Landluft zu genießen; bald holt ihn die Langeweile wieder ein, die "russkaja chandra". Da nun taucht Onegins junger Gutsnachbar Wladimir Lenski auf und bringt ein wenig Abwechslung in Onegins ländliche Einsamkeit. Das erste Attribut, mit dem Lenski gekennzeichnet wird, ist seine "Göttingische Seele" - im Originaltext bildet "göttingisch" das Reimwort zu dem Namen Lenski:




In der Übersetzung von Rolf-Dietrich Keil:

Wladimir Lenskij hieß der Mensch;
An Seele wahrhaft göttingensch.


Während Onegin als egoistischer, kalter Skeptiker gezeigt wird, den die Langeweile in Bosheit und Dämonie treibt, ein russischer Lord Byron, erscheint Lenski als Idealist, von Begeisterung und Illusionen beherrscht, zudem ist er ein Dichter. Er hat im nebligen Deutschland Kants Philosophie studiert, verehrt Goethe und Schiller, ist von den Ideen der Freiheit und des Naturrechts durchdrungen. Man erkennt in Lenski und Onegin zwei Typen des Romantikers wieder, den deutschen Frühromantiker und den Byronisten, wobei gewisse Unstimmigkeiten in der von Puschkin gegebenen literarhistorischen Erscheinungsform sich durch die spezifische russische Rezeption der europäischen Romantik erklären lassen. Damit gewinnt der Antagonismus zwischen Onegin und Lenskij, der wegen einer Lappalie zum Duell zwischen beiden führt, das für Lenski tödlich endet, den Rang eines Widerstreites zweier verschiedener Geisteshaltungen. Onegin wird, obwohl er Lenski im Zweikampf tötet und die aufrichtig-naive Liebe der Tatjana Larina zurückweist, am Ende doch unterliegen. Nach Jahren von langen Reisen nach St. Petersburg zurückkehrend, wird er Tatjana als Dame der großen Welt, Gattin eines Generals und Fürsten, wiederfinden. Nun ist es Tat' jana, die ihn aus ehelichem Pflichtgefühl abweisen wird.

Gerade wegen der für Komposition und Sinngehalt des Romans überaus wichtigen Rolle Lenskis muß man die göttingische Physiognomie dieser Gestalt wichtig nehmen. Denn es läßt sich zeigen, dass Puschkin das Attribut "gettingenskij" keineswegs zufällig, sondern mit vollem Bedacht gewählt hat. Zunächst war er sich zwar unschlüssig ist darüber, ob er Lenski als Phantasten oder Studenten (Scholaren) oder einfach als "lockigen Jüngling" kennzeichnen sollte, das Adjektiv "gettingenskij" in Reimposition allerdings blieb in allen überkommenen Textvarianten unverändert.

PuschkinPuschkins Beharren auf dem Epitheton "gettingenskij" für seinen Nebenhelden Lenskj muß auf den ersten Blick verwunderlich, ja abwegig erscheinen, denn in der Zeit, in der Lenskij in Göttingen zu vermuten wäre - es müssten die Jahre zwischen 1815 und 1819 sein (die Handlung der ersten Kapitel des "Eugen Onegin" spielt im Jahre 1819) - hat es nachweislich überhaupt keine russischen Studenten in Göttingen gegeben. Die russische Regierung hatte nach dem Vaterländischen Krieg, in den Jahren der nationalen Begeisterung und "demagogischen" Umtriebe das Auslandsstudium erneut untersagt, zumal unter Zar Alexander I. inzwischen einheimische Universitäten gegründet worden waren, die das Auslandsstudium überflüssig machten. Dass Wladimir Lenski just im Jahre 1819 von dem Studienaufenthalt im "nebligen Deutschland" nach Russland zurückgekehrt sein soll, kann demnach geradeheraus als Anachronismus abgetan werden.

Man kann weiter einwenden, dass Puschkin ja niemals in persona in Göttingen geweilt habe und das Kennzeichen "gettingenskij" daher keine tiefere Bedeutung besitzen könne. Das erste trifft zu, das zweite nicht. Denn Puschkin besaß mit Sicherheit wenigstens vom Hörensagen detaillierte Kenntnisse über Göttingen und seine Universität. Ja, man kann sagen, dass ein wesentlicher Teil des Wissensfundamentes sowie der weltanschaulichen und politischen Haltung des jungen Puschkin aus Göttinger Quellen gespeist wurde, da Puschkin in der Lyzeal-Zeit in Zarskoje Selo, 1811-1817, und darauf in den drei Petersburger Jahren bis zur Strafversetzung nach Bessarabien, also 1817-1820, unter massivem göttingischen Einfluß stand. Dies hat aber offenbar noch immer nicht ausgereicht, um aus dem 20-jährigen unbändigen, flatterhaften Schelm Puschkin, einem, mit Jurij Lotmans Worten, "wüsten Schürzenjäger" und "grobschrötigem Freigeist", einen ernsthaften, gesitteten Edelmann zu machen. Und so erteilte sein älterer Dichterkollege Konstantin Batjuschkow in einem Brief an Alexander Turgenew den Rat:

"Es wäre nicht schlecht, ihn (Puschkin) in Göttingen einzusperren und drei Jahre lang mit Milchsuppe und Logik zu füttern."



Das LyzeumDabei befand sich Puschkin längst in der Göttinger Schule, wenn auch in absentia. Alexander Turgenew, einer der engsten Freunde Puschkins hatte dem Knaben Puschkin zur Aufnahme in das Lyzeum in Zarskoje Selo (Abb. rechts), die Elite-Bildungsstätte im damaligen Russland, verholfen; er wird es sein, der als einziger den Sarg Puschkins zum Begräbnis im Swjatogorsk-Kloster begleiten wird. Von den "Göttinger Russen" der ersten und zweiten Generation wirkten nicht wenige als Lehrer am Lyzeum von Zarskoje Selo, andere, wie die Brüder Alexander, Semjon und Nikolai Turgenev oder der Gardehusar Pjotr Kawerin, zählten zum engsten Freundeskreis des jungen Puschkin. Er geriet also in Kontakt mit einer Reihe von Persönlichkeiten, die den Göttinger Geist der Aufklärung, der Menschenrechte und der deutschen Philolosphie in sich aufgenommen hatten. Dies gilt namentlich für einige seiner verehrten Lehrer am Lyzeum, die als Vermittler "göttingischer Ideen" in erster Linie genannt werden müssen. Freilich gab es auch solche "Göttinger Russen" wie den stockreaktionären Lyzeumsinspekteur Martyn Pilezki, die in ihm eine abstoßende Vorstellung von geistiger Verknöcherung und trockener Pedanterie auslösen mussten. Man darf aber annehmen, dass Puschkin in der Lage war, sich ein komplexes Bild von Göttingen und den Göttingern, von der göttingischen Seele und dem göttingischen Geist zu machen.

Reinhard Lauer
(gekürzte Fassung des Katalogbeitrages)