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Kapitel 8 - Auswärtige Wissenschaftler | Übersicht |


88 Ein kaiserliches Schreibmeisterbuch

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L’art d’écrire.
Pergamenthandschrift,
Deutschland, 17. Jahrhundert.
Signatur: 4° Cod. Ms. philos. 27 Cim.
Provenienz: Johan Lundblad, 1792

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4° Cod. Ms. philos. 27 Cim. (Ausschnitt)
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Kalligraphie ist im Zeitalter unübersehbar vieler Schriftfonts für den Computer und dem offenbar unaufhaltsamen Verschwinden ganzer Schriftfamilien wie den Frakturschriften eine fast verlorene Kunst. „Schreiben können“ war natürlich auch in früheren Zeiten zunächst eine unterschiedlich weit verbreitete Grundfertigkeit, über die große Teile der Bevölkerung mehr schlecht als recht verfügten. Trotzdem gab es zu jeder Zeit ein Bewusstsein dafür, dass auch Schriftzeichen unter dem Gestaltungswillen des Künstlers wie ein Bild oder ein Bauwerk zum Kunstobjekt werden können. Zuständig dafür waren die Schreibmeister.

Als Gattung haben die Schreibmeisterbücher ihre Wurzeln im Geist des Humanismus, auch wenn natürlich schon mittelalterliche Schreiber zum Teil großartige kalligraphische Fähigkeiten an den Tag gelegt hatten. Von ihnen unterschieden sich die neuzeitlichen Schreibmeister dadurch, dass sie sich ihrer Arbeit mit theoretischem Wissen über Geometrie und Ästhetik näherten. Die ersten Vertreter der Gattung kommen entsprechend aus dem 16. Jahrhundert. Wichtige Vorarbeiten stammten von so namhaften Wissenschaftlern und Künstlern wie Luca Pacioli und Albrecht Dürer. Das von solchen Größen erreichte Niveau konnte die Gattung aber nicht durchgängig halten, und in zahlreichen Musterbüchern trieben schon bald abenteuerliche Akrobatik und filigrane Schnörkelei ihr Unwesen. Aber immer gab es auch den Willen zur Reform und zur Überwindung unerwünschter Auswüchse. Virtuosität wurde dann wieder in den Dienst der Sache gestellt, und die Sache waren Briefvorlagen, offizielle Dokumente, Erbverträge, Neujahrswünsche, Einladungen usw.

Eine weitere, ganz wesentliche Nutzung von Schreibmeisterbüchern erfolgte in den Zentralen der politischen Macht. In den Schreibstuben der Höfe gab es stets Bedarf an Schriftvorlagen, die für die Abfassung von offiziellen Dokumenten aller Art gebraucht wurden. In diesen Kontext gehört auch das vorliegende Schriftmusterbuch. Es kann zeitlich und inhaltlich dem Umkreis des kaiserlichen Hofes im 17. Jahrhundert bzw. den Kaisern Ferdinand I. oder Ferdinand II. zugeordnet werden, diente also vermutlich als Musterbuch in der kaiserlichen Kanzlei oder war zumindest dafür gedacht. Für diesen vornehmen Zweck spricht nicht zuletzt der wertvolle Beschreibstoff Pergament, auf dem die Schriftbeispiele kunstvoll und aufwändig ausgeführt wurden.

(JM)