88. Bibliothekartag - Kurzreferate

Themenkreis I: Nationalbibliotheken

Mittwoch, 3.6.98, 9.00 - 13.00, DDB


Die nationale und internationale Rolle der Schweizerischen Landesbibliothek
Dr. Jean-Frédéric Jauslin, Bern

1895 gegründet, hat die Schweizerische Landesbibliothek in den 100 Jahren ihres Bestehens ein wechselvolles Schicksal erlebt. Nach einer ziemlich bewegten Anfangsphase hat sie sich in den ersten sechs Jahrzehnten rasch entwickelt und sogar einen durchaus rühmenswerten Bekanntheitsgrad erreicht, indem sie sich national und international eines Rufs erfreuen konnte, der ihre relativ bescheidenen Sammlungen weit überstieg. Bedauerlicherweise wurden seit dem Ende der sechziger Jahre starke finanzielle Einschränkungen von ihr gefordert. Zum sozusagen total veralteten Gebilde herabgesunken, verlieh ihr die Schweizer Regierung 1989 neue Impulse; sie beauftragte die soeben ins Amt getretene Direktion mit einer durchgehenden Reorganisation der Bibliothek. Diese Erneuerung verläuft seit 1993 in sehr befriedigender Weise, und zwar auf der Grundlage eines Bundesgesetzes über die Schweizerische Landesbibliothek, das vom eidgenössischen Parlament einstimmig gutgeheißen wurde. Seit Ende 1997 steht ein neues Magazin zur Verfügung; im Herbst 1998 beginnt die Renovation des Hauptgebäudes, die im Jahr 2000 abgeschlossen sein sollte; die Automatisierung des Betriebs hat erfreuliche Fortschritte gemacht; die Konvertierung der Kataloge ist abgeschlossen; die Qualität der Dienstleistungen hat sich weitgehend verbessert. Zudem wurde der Landesbibliothek eine neue Sektion angegliedert, das Schweizerische Literaturarchiv, das weit über die helvetischen Grenzen hinaus großes Ansehen genießt.

Was die Rolle der Schweizerischen Landesbibliothek im Land selbst betrifft, so unterscheidet sie sich in mehreren Punkten von den anderen europäischen Nationalbibliotheken. Zunächst beschränkt sich ihr Sammelauftrag auf die Helvetica, das heißt auf die Informationsträger, die die Schweiz betreffen. Immerhin präzisiert das Gesetz, daß es sich dabei um alle gegenwärtig und künftig vorhandenen Träger handeln soll. Zur Beschaffung dieser Dokumente kann sich die Bibliothek allerdings nicht auf ein Pflichtexemplar-Gesetz stützen, sondern ist auf Vereinbarungen mit den zahlreichen Informationsproduzenten angewiesen. In der Regel besitzt sie von einem bestimmten Werk nur ein Exemplar, das einer breiten Öffentlichkeit nicht bloß in den Lesesälen, sondern auch über die Heimausleihe zur Verfügung steht. Der nationale Koordinationsauftrag schließlich, den ihr das Parlament zugeschrieben hat, kann sich weder auf eine gesetzliche noch eine finanzielle Grundlage stützen; es ist demnach keine leichte Aufgabe, eine koordinierte nationale Politik durchzusetzen. Trotz dieser einigermaßen besonderen Bedingungen entwickelt sich die schweizerische Bibliothekslandschaft rasch und bereitet sich auf die Herausforderungen des dritten Jahrtausends vor. Die Rolle, die die Schweizerische Landesbibliothek dabei zu spielen hat, ist keine sehr einfache. Mit Erfolg kann sie nur rechnen, wenn sie sich auf europäischer Ebene einbringt und wenn es ihr gelingt, mit den anderen Nationalbibliotheken Europas partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Die Position der Zurückhaltung, die die Schweiz gegenüber den Veränderungen in Europa einnimmt, erleichtert ihr die Aufgabe leider nicht. Dank der ausgezeichneten Zusammenarbeit zwischen den europäischen Nationalbibliotheken und dem Geist der Offenheit, der in der CENL herrscht, kann sie dennoch aktiv an der Entwicklung teilnehmen, welche die Informationsgesellschaft verlangt.


Nationalbibliothek?
Dr. Hermann Leskien, München

Einleitung
Aktuell bieten sich mehrfach Anlässe, über das Thema zu reflektieren:

Konzeptionsstreit um die Staatsbibliothek zu Berlin
Neubau DBF
Entscheidung über eine drohende Schließung des DBI

Aufgaben einer Nationalbibliothek

UNESCO-/IFLA-Definitionen
Liste der Aufgaben von Nationalbibliotheken nach gegenwärtigem Diskussionsstand
Buntes Bild der Realisierung im Ausland
Verschiebung der Akzente vom Bestand zu Verzeichnung und Dienstleistung
Allgemeiner Trend zur Nationalisierung als Gegenwirkung zur Globalisierung
Verlust der Bedeutung von Zentren

Gegenwärtige Lage in Deutschland

Historische Grundzüge zur Wahrnehmung der Aufgaben einer Nationalbibliothek
Kulturhoheit der Länder in der Bundesrepublik
Gesamtstaatliche, durch Gesetze (DDB, DBI, Stiftung PK) abgesicherte Aufträge
Überblick über die überregionalen bibliothekarischen Institutionen und Gremien
»Blockierte Republik« auch im deutschen Bibliothekswesen?
Wertende Einstellung zum Problemkreis »national«

Prognosen

Nationalbibliographische Verzeichnung
Zentrale Datenbanken versus Suchmaschinen
Bestandserhaltungsmaßnahmen / Sekundärformen / Digitalisierung
Forschung und Entwicklung
Außenvertretung und Repräsentanz
Allgemeine Koordination

Schluß

Nicht der Status, sondern die Leistung von Nationalbibliotheken ist entscheidend
Deutschland braucht eine effiziente Wahrnehmung nationalbibliothekarischer Aufgaben
Dies erfordert nicht zwangsläufig eine Nationalbibliothek im klassischen Sinn

Die Deutsche Bibliothek als digitale Depotbibliothek im europäischen Kontext.
Prof. Klaus-Dieter Lehmann, Frankfurt/Main

Die Deutsche Bibliothek ist die nationale Archivbibliothek für Printmedien und digitale Medien und das nationalbibliographische Zentrum. Mit dem 1997 eröffneten Neubau in Frankfurt am Main verfügt sie über eine hochkomplexe moderne Informationsinfrastruktur, mit der ca. 900 passive Anschlüsse, 50 Multimedia-PC und ca. 600 Endgeräte realisiert werden. Ein Multimediabereitstellungssystem (MMB) erlaubt den Zugang zum Online-Katalog, zu digitalen Publikationen und zum Internet, die Kopplung von Online-Katalog und digitalen Publikationen, die Arbeit in einer WWW-Umgebung, die Nutzung vorinstallierter Publikationen einschließlich Ausdruck bzw. Diskettenexport und die Konvertierung und Migration digitaler Publikationen in eine Archivversion zur Langzeitverfügbarkeit. Mit den 38 europäischen Nationalbibliotheken bildet sie die virtuelle Europäische Bibliothek "Gabriel" (http://www.ddb.de/gabriel/). Gemeinsam mit 7 Nationalbibliotheken, 3 Softwarehäusern und 3 Verlagen entwickelt sie im Rahmen der EU-Förderung ein Demonstrator-Projekt zur Langzeitarchivierung von digitalen Publikationen: NEDLIB (Networked European Deposit Library). Untersucht werden technische, organisatorische und Managementaspekte. Die technische Infrastruktur befaßt sich insbesondere mit Fragen stabiler Datenträger, Konversions- und Migrationsverfahren sowie geeigneten Zugriffsverfahren über Metadaten. Das Projekt soll Ende 2000 abgeschlossen sein. Parallel dazu läuft die Beteiligung an Global Info mit dem Schwerpunkt Archivierung und Dokumenttypen sowie Dissertationen online. Für den Bereich Netzpublikationen besteht eine Verabredung mit deutschen Verlagen zur Ablieferung von Belegexemplaren.


Metadaten und nationalbibliographische Verzeichnung
Reinhard Rinn, Frankfurt/Main

Zahl, Vielfalt und Besonderheiten von Netzpublikationen stellen insbesondere in nationalbibliographischen Archiv- und Dienstleistungszentren neue Anforderungen an die Erschließung und Verzeichnung. Dies betrifft sowohl die Definition der zu berücksichtigenden Dokumente (Sammlung) als auch die Festlegung, Strukturierung und Standardisierung der Erschließungselemente (Regeln und Datenformat). Dabei ist im Hinblick auf die Sammlungs- und Erschließungskontinuität sowie die Erschließungseinheitlichkeit bzw. -kompatibilität eine Abstimmung mit den Definitionen und Festlegungen, die für konventionelle Publikationen gelten, vorzunehmen.

Der Beitrag versucht, die sich stellenden Probleme, aber auch die sich bietenden Möglichkeiten sowie angedachte bzw. projektierte Lösungen zu skizzieren. Projekte und Lösungen anderer Nationalbibliotheken werden ebenfalls einbezogen. Schließlich sollen auch die Empfehlungen des Nationalbibliographiekongresses, der 1977 in Paris stattfand und im November 1998 eine Neuauflage in Kopenhagen erleben wird, an den neuen Anforderungen und Möglichkeiten geprüft und neue Überlegungen zu nationalbibliographischen Dienstleistungen angestellt werden.


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