
Modellbildung und Simulation - Multimedia-Toolbox im Physikstudium
Vortrag auf dem Symposium "Informationsinfrastruktur im Wandel", am 15.
9.1997 in Göttingen
Multimedia-Werkzeuge halten seit einigen Jahren Einzug in die fachliche
und fachdidaktische Ausbildung von Lehramtsstudierenden im Fach Physik
an der Universität Bremen. Die Arbeiten werden vom Institut für
Didaktik der Physik betreut. Hintergrund sind Erfahrungen mit dem Einsatz
von Multimedia im Physikunterricht der gymnasialen Oberstufe aus zwei Modellversuchen
der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung
(CPU 1992; FEST 1994). Es geht jedoch nicht primär darum, die Studierenden
auf den späteren Umgang mit Multimedia in der Schule vorzubereiten
(Lernen über Multimedia), sondern um die Unterstützung
des Physiklernens im Studium: Physiklernen mit Multimedia.
Folgende Aspekte werden in diesem Beitrag angesprochen:
-
Ziele: Öffnung der Fachausbildung für
mehr Möglichkeiten zum Experimentieren mit Ideen.
-
Medien: Vorstellung der verwendeten Multimedia-Toolbox.
-
Beispiele: Modellbildung und Simulation
zu realitätsnahen Bewegungsvorgängen.
-
Implementation: Multimediale Lehre
-
Wirkungen: Multimedia und Lernen.
1. Ziele: Experimentieren mit Ideen
Der Einsatz von Multimediawerkzeugen eröffnet neue Möglichkeiten
für die vertiefte physikalische Analyse komplexer und realitätsbezogener
Phänomene. Damit kann einer falsch verstandenen "Theorielastigkeit"
der Physikausbildung entgegengewirkt werden. Im konventionellen Kanon der
Grundvorlesungen stehen vereinfachte, sogenannte "gereinigte" Phänomene
im Vordergrund (wie lineare, reibungsfreie Bewegungen auf Luftkissenfahrbahnen).
Der klassische Kanon begründet sich aus der Systematik der Begriffsbildung,
der Einführung in Meßverfahren und der geschlossenen mathematischen
Lösbarkeit. Zu leicht verbleibt man jedoch bei konstruierten Sonderfällen.
So verzichtet man auf viele physikalisch interessante und für
die Studierenden motivierende Betrachtungen, weil mathematische
oder meßtechnische Schranken im Wege stehen.
Numerische Verfahren und neuartige Sensoren und Meßwandler, die
in einer Multimedia-Toolbox bereitgestellt werden - wie etwa berührungslose
Ultraschall-Entfernungsmesser oder Videotechnik -, können diese Schranken
wenn nicht beseitigen, so doch in erheblichem Umfange abbauen. Da bei numerischen
Herangehensweisen der Zwang zu geschlossenen, analytischen Lösungsverfahren
entfällt, können Studierende mit eigenen Ideen und Lösungsansätzen
experimentieren. Die Steigerung physikalischer Komplexität
wird von der Steigerung mathematischer Komplexität oder des
Rechenaufwandes entkoppelt.
Gleichzeitig wird das Ausprobieren unterschiedlicher Lösungsansätze
gefördert. In einer Fallstudie mit vier Studentengruppen, die mit
einer offenen Multimedia-Toolbox das Thema "Bungee-Jumping" bearbeiteten,
fand Paice (1997, 116ff.) bei den drei erfolgreichen Gruppen recht unterschiedliche
Vorgehensweisen, die bei der Frage nach den beim Sprung auftretenden Kräften
und Beschleunigungen zu jeweils akzeptablen Ergebnissen führten. Zur
Verfügung standen u.a. ein numerisches Grundmodell, eine digitalisierte
Videoaufzeichnung eines Sprungs sowie technische Daten zu den verwendeten
Seilen. Damit waren sowohl rechnerische Abschätzungen, die koordinatenmäßige
Erfassung der Bahnkurve oder auch die Erarbeitung einer modellbasierten
Simulation möglich.
Diese Offenheit in der Auswahl und Anwendung der Werkzeuge ist ein wichtiges
Merkmal einer Multimedia-Toolbox, das sie von Computer-Based-Training (CBT)
Materialien unterscheidet. Die Werkzeuge sind nicht auf ganz bestimmte
Phänomene zugeschnitten und schreiben keine bestimmten Arbeitsschritte
vor. Angestrebt ist eine möglichst kontextfreie, themenübergreifend
einsetzbare und Erweiterungen offene Lernumgebung.
Erste Leitlinie bei der Zusammenstellung einer Toolbox sollte die Nutzung
bereits vorhandener Materialien sein. Es gibt auf dem internationalen Markt
inzwischen eine ausreichende Menge sinnvoll einzubindender Programme und
Geräte, die einen erheblichen Entwicklungsaufwand bereits hinter sich
haben. Man muß das Rad nicht ständig neu erfinden. Wenn ergänzende
Neuentwicklungen notwendig sind, sollte das in Teams mit Softwareprofis
und Lehrenden erfolgen. Aus der fachlichen und fachdidaktischen Sicht ist
das Pflichtenheft zu entwerfen, das dann von versierten Entwicklern in
einem ständigen Abstimmungsprozeß in das Produkt umgesetzt wird.
Durch Entlastung von unnötiger Programmierarbeit werden bei Dozenten
und Wissenschaftlern Ressourcen frei, die effektiver für eine Intensivierung
der Wirkungsforschung genutzt werden sollten.
Das weltweit bekannteste Beispiel für Synergieeffekte bei der Zusammenführung
vorheriger Einzelprojekte ist die Entwicklung des Comprehensive Unified
Physics Learning Environment (CUPLE) aus den USA (Wilson 1992). In die
CUPLE-Toolbox sind die Entwicklungen sehr vieler Gruppen an amerikanischen
Universitäten eingebunden, die auf dem Feld der Multimedia bereits
vorher erfolgreich tätig waren. Inzwischen strahlt CUPLE international
aus. Viele der Ideen und manche der Materialien, die in unsere Bremer Multimedia-Toolbox
eingeflossen sind, stammen aus dem Umfeld des CUPLE-Projekts.
2. Medien: Die Multimedia-Toolbox
Unter einer Multimedia-Toolbox verstehen wir die Vernetzung kontextfreier
Werkzeuge zur Datengewinnung, Datenbearbeitung und Modellierung, die vom
Nutzer flexibel für eigene Fragestellungen herangezogen werden können.
Grundlage der Vernetzung ist ein einfacher Datenfluß zwischen den
Werkzeugen. Dadurch wird es z.B. möglich, Meßdaten, die aus
einem Experiment oder einem digitalisierten Video ermittelt wurden, in
einfacher Weise mit den Vorhersagen eines auf den Vorgang abgestimmten
dynamischen Modells zu vergleichen.
Gemäß dem Konzept des offenen Werkzeugkastens ist die Zusammenstellung
der Werkzeuge nicht fest vorgegeben, sondern kann im Hinblick auf den physikalischen
Themenbereich angepaßt werden. Neben Modellbildungsumgebungen, Meßwerterfassungssystemen
oder Tabellenkalkulationsprogrammen, die nahezu über den gesamten
Bereich des Grundstudiums der Experimentalphysik einsetzbar sind, gibt
es auch domänenspezifische Werkzeuge, z.B. Simulationsbaukästen
für die geometrische Optik oder die Mechanik. Im Folgenden wird die
Zusammenstellung beschrieben, die wir für das Themengebiet Mechanik
(1. Semester) verwenden:
-
Meßdatenerfassung: BREMER INTERFACESYSTEM
-
Modellbildungsumgebung STELLA (s. Schecker im Druck)
-
Tabellenkalkulation: MATHELAB
-
Videoauswertungswerkzeug: 2D_VIDEO_QT
-
Simulationsbaukasten INTERACTIVE PHYSICS
Diese konkrete Ausfüllung der Materialkategorien kann ohne Änderungen
an der Gesamtkonzeption variiert werden. So verwenden wir z.B. auch andere
kommerzielle Meßdatenerfassungssysteme oder Standardsoftware wie
EXCEL.
Abb. 1: Komponenten der Mechanik-Toolbox
2D_VIDEO_QT
 |
Für die Auswertung von Videos muß ein Rechner
als Hardwareerweiterung über ein Digitalisierungsboard verfügen,
in das die Daten von einem Videorecorder eingespielt werden. Die digitalisierten
Videosequenzen werden als Softwarevideos abgespeichert und können
dann mit weniger leistungsstarken Rechnern ausgewertet werden. Dazu dient
2D_VIDEO_QT, mit dem digitalisierte Videosequenzen von Festplatte eingelesen
und wie mit einer Fernbedienung abgespielt werden. Über das Videofenster
wird von 2D_VIDEO_QT ein Koordinatensystem gelegt, in dem man per Mausklick
in jedem Einzelbild die Position eines Körpers markiert. Die Daten
werden automatisch im Hintergrund in eine Datentabelle (z.B. für MATHELAB)
eingetragen. |
MATHELAB
 |
MATHELAB ist ein speziell für mathematisch-naturwissenschaftliche
Zwecke entworfenes Tabellenkalkulations- und Grafikprogramm. Es geht in
seinen Möglichkeiten zur interaktiven, mausgesteuerten Grafikerstellung
und -auswertung sowie den angebotenen Funktionen über Spreadsheets
wie EXCEL hinaus. MATHELAB hat Werkzeugkasten die zentrale Funktion einer
Datenschnittstelle. MATHELAB kann von allen anderen Modulen Daten importieren
und vergleichend gegenüberstellen, z.B. um zu überprüfen,
ob ein mit STELLA erstelltes Modell in seinen Vorhersagen mit einer Messung
oder einer 2D_VIDEO_QT-Auswertung übereinstimmt. |
Stella
 |
STELLA ist ein grafikorientiertes Modellbildungssystem, das
auf dem systemdynamischen Ansatz beruht. Es dient der Formulierung und
numerischen Lösung von (Differenzen-) Gleichungssystemen. Mit seiner
Hilfe kann die Beschreibung komplexer Vorgänge anschaulich in grafisch
repräsentierten Begriffsnetzen entwickelt und dann schrittweise quantifiziert
werden. Dafür sind keine Programmiersprachenkenntnisse erforderlich.
Das Modell kann in Simulationsläufen getestet werden. Für die
Datenausgabe stehen Diagramme und Tabellen zur Verfügung. |
Interactive Physics
 |
Interactive Physics ist ein Baukasten für Simulationen
zweidimensionaler Bewegungsvorgänge. Für die Konstruktion der
Simulationswelt greift man auf eine Auswahl von Quadern, Federn, Dämpfungsgliedern,
Kugeln usw. zurück, die mit physikalischen Parametern (Masse, Geschwindigkeit
usw.) versehen werden. Der Nutzer arbeitet ohne Programmiersprache vollständig
objektorientiert mit Maus- und Menüsteuerung - ähnlich wie bei
einem Grafikprogramm. Die so erstellten Simulationen werden animiert und
können als Softwarevideo abgespeichert werden. Die Simulationsergebnisse
lassen sich an MATHELAB exportieren. |
Bremer Interfacesystem
 |
Das BREMER INTERFACESYSTEM besteht aus einem Hardwaremodul
mit analogen und digitalen Eingängen, an denen Spannungen sowie Digitalsignale
gemessen werden. Es ist für den direkten Anschluß von Standardmeßwandlern
wie Lichtschranken oder Geiger-Müller-Zählrohre vorbereitet.
Das Interface verfügt über die Funktionen Speicheroszilloskop,
Stoppuhr und Digitalzähler. Die Ergebnisse werden in Grafiken und
Tabellen dargestellt und mausunterstützt interaktiv ausgewertet. Die
erhobenen Daten können an Tabellenkalkulationssysteme exportiert werden. |
3. Beispiele
3.1 Car Crash: Simulation mit Interactive Physics
In Abbildung 2 wird mit INTERACTIVE PHYSICS der Aufprall eines Autoscooters
gegen eine feste Barriere simuliert. Die beteiligten Körper Fahrbahn,
Scooter, Dummy (mit Korpus, Kopf und Arm) sowie Bande wurden als Polygonzüge,
Kreise oder Rechtecke gezeichnet und menügesteuert mit physikalischen
Eigenschaften versehen (Masse, Elastizität, Anfangsgeschwindigkeit).
Zur Simulation der Funktion von Sicherheitsgurten ist der Korpus mit Dämpfungsgliedern
an das Chassis des Scooters gekoppelt. Das Dämpfungsverhalten und
die Dämpfungskonstanten sind einstellbar. Der Kopf des Dummys ist
mit einer Feder plus Dämpfungsglied an den Korpus gebunden. Die animierte
Simulation ist besonders im Vergleich zum Ergebnis ohne Gurt interessant.
Die simulierten "Meßdaten", z.B. die autretenden Beschleunigungen,
können als Diagramme eingeblendet werden.
Die Wahl geeigneter Parameter für die Simulation erfordert einigen
Aufwand, und natürlich sind die gewählten Werte noch weit vom
Anspruch entfernt, einen realen Crash nachzubilden - dennoch kann daran
das Grundprinzip des Sicherheitsgurtes verdeutlicht werden, nämlich
die Impulsänderung auf ein möglichst großes Zeitintervall
zu verteilen, um die auftretenden belastenden Kräfte gering zu halten.
Wenn man den Vorgang im Labor mit einem Modellexperiment nachbildet, können
mit dem Interface während der Aufprallphase Kraftdaten gemessen werden,
um den Sachverhalt auch aus der experimentellen Perspektive zu beleuchten.
Film 1: Car Crash Movie (Man benötigt zum Abspielen
das "QuickTime Plugin". Falls der Film dennoch nicht gezeigt wird, markieren
Sie diese Filmunterschrift und klicken Sie auf "Reload").
Abb. 2a bis 2c: Simulation des Aufpralls eines Autoscooters auf
eine Barriere (mit und ohne Sicherheitsgurt); erstellt mit dem Simulationsbaukasten
INTERACTIVE PHYSICS.
3.2 Durchgang eines Meteors durch die Erdatmosphäre
Abbildung 3 zeigt die grafische Ebene eines STELLA-Modells, mit dem man
den Bewegung von Meteoren durch die Erdatmosphäre unter vereinfachenden
Annahmen simulieren kann. Das begriffliche Modell veranschaulicht die qualitativen
Zusammenhänge zwischen den zu berücksichtigenden physikalischen
Größen. Aus Platzgründen kann hier die Symbolik nicht im
einzelnen erläutert werden. Einige wichtige Zusammenhänge sollen
aber benannt werden. Der Meteor fliegt mit hoher Geschwindigkeit auf die
Erde zu und tritt in die dünne Lufthülle der Erde ein (ca. 70km
Höhe) Die Geschwindigkeit "v" nimmt aufgrund einer (negativen) Bremsbeschleunigung
ab, und die jeweilige Annäherungsgeschwindigkeit verringert die Höhe
über dem Erdboden. Der Pfeil von Höhe zur Luftdichte weist auf
den funktionalen Zusammenhang zwischen diesen beiden Größen
hin. Die Luftdichte geht als wesentlicher Parameter in die Reibungskraft
ein, welche letztlich die Bremsbeschleunigung verursacht. Über die
Querschnittsfläche und die Materialdichte kann man verschiedene Größen
und Typen von Meteoren nachbilden.
Abb. 3: Modell zur Bewegung eines Meteors durch die Lufthülle
der Erde; entworfen mit dem Modellbildungsprogramm STELLA.
Nach Festlegung der qualitativen Zusammenhänge wird das Modell quantifiziert.
Durch einfaches Anklicken der einzelnen Größen lassen sich funktionale
Beziehungen und Konstanten eingeben sowie die Differenzengleichungen mit
Anfangswerten versehen. Man legt dann die Zeitparameter für den Simulationslauf
fest, wählt eines der vorgeschlagenen numerischen Verfahren und läßt
das Modell durchrechnen. Abbildung 4 zeigt das Ergebnis für einen
mittleren Steinmeteor und einen größeren Eisenmeteor.
Abb. 4: Simulationsergebnis für zwei unterschiedliche Meteore.
Extremwerte vom Hundertfachen der Erdbeschleunigung g deuten auf zeitweise
enorm hohe Reibungskräfte hin, die zum Verglühen führen
können. Der Kurvenverlauf ergibt sich aus der Überlagerung zweier
Effekte: Zu Beginn erfährt der Meteor aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit
sehr hohe Bremskräfte. Dadurch sinkt die Geschwindigkeit, und die
Bremskräfte gehen trotz zunehmender Luftdichte zurück. Bei leichteren
bzw. weniger dichten Meteoren erreicht die Bremsbeschleunigung früher
hohe Werte als bei schweren. Kleine Meteore werden bereits in großen
Höhen auf geringe Geschwindigkeiten verzögert. Sie fallen wie
Steine herab und graben sich, falls sie nicht vorher verglüht sind,
beim Aufprall nur wenig in die Erdoberfläche ein. Schwere, große
Meteore besitzen beim Aufprall noch eine sehr hohe kinetische Energie.
Sie schlagen große Krater und verdampfen vollständig. Daher
kann man auf der Erde zwar kleine Meteoriten ausgraben, findet aber keine
der spektakulären frühgeschichtlichen Riesenmeteoriten.
Im Sinne des Experimentierens mit Ideen lassen sich nicht nur Parametervariationen
schnell durchführen und in neue Vorhersagen umsetzen; es können
auch unterschiedliche Annahmen über die Form der Bremsbeschleunigung
ausgetestet werden (z.B. lineares versus quadratisches Kraftgesetz).
3.3 Kugelstoßen
Zum Standardrepertoire der Mechanikvorlesung gehört der schräge
Wurf. Als eine Übungsaufnahme gilt die Ermittlung des optimalen Abwurfwinkels
zum Erzielen einer großen Wurfweite. Unter den vereinfachenden Annahmen,
daß Abwurf- und Auftreffpunkt auf gleicher Höhe liegen und die
Luftreibung ausgeschlossen bleibt, ergibt sich 45 Grad. Beide Bedingungen
findet man im Alltag kaum. Beim Torwartabstoß ist die Reibung nicht
vernachlässigbar. Beim Kugelstoßen liegt der Abwurfpunkt deutlich
höher als der Landepunkt. Beide Effekte kann man mit einer numerischen
Simulation sehr einfach berücksichtigen. Der Zusammenhang zu Realbewegungen
kann dann durch Analyse von entsprechenden Videoaufzeichnungen hergestellt
werden.
Abbildung 5 zeigt ein Einzelbild aus einer kurzen Videosequenz der Abwurfphase.
Das Video wurde mit einer normalen S-VHS-Kamera aufgezeichnet und mittels
einer Digitalisierungskarte in computerlesbarer Form auf der Festplatte
abgespeichert. Mit dem Programm 2D_VIDEO_QT kann der Softwarefilm bildweise
abgespielt werden, um mit der Maus die Positionen der Kugel in den "frames"
zu markieren. In der Abbildung sind die Positionen der 5 davorliegenden
frames mit eingeblendet. Die so ermittelten Koordinaten werden als Datentabelle
an das Tabellenkalkulationsprogramm MatheLab exportiert und dort grafisch
weiterverarbeitet. Man legt eine Tangente an die Anfangsphase der gedachten
Flugbahn und bestimmt den Winkel gegenüber der Horizontalen. Der Winkel
sollte stets unterhalb von 45 Grad liegen. Ein Vergleich mit theoretisch
berechneten Werten oder Ergebnissen der numerischen Simulation zeigt, ob
die Werferin in dem für sie optimalen Winkelbereich gestoßen
hat. Für eine tiefergehende Analyse müssen biomechanische Aspekte
einbezogen werden (s. dazu Walter 1995).
Film 2: Kugelstoß-Movie (Man benötigt zum Abspielen
das "QuickTime Plugin". Falls der Film dennoch nicht gezeigt wird, markieren
Sie diese Filmunterschrift und klicken Sie auf "Reload").
Abb. 5: Ermittlung des Abwurfwinkels beim Kugelstoßen aus
einem digitalisierten Video des Bewegungsvorgangs.
4. Implementation
4.1 Einsatz in Lehrveranstaltungen
Multimedia wird im Studium für das Lehramt Physik in folgenden Veranstaltungen
eingesetzt:
-
Grundkurs Physik (1. bis 4 Semester)
(Vorlesung, Praktikum, Übungen; 6 Semesterwochenstunden; Anteil
der Nutzung von Multimedia bezogen auf die Veranstaltungszeit ca. 10-15%)
-
Einführung in schulgemäßes Experimentieren
(Praktikum; 3 SWS; ca. 10-20%)
-
Computereinsatz im Physikunterricht
(Kurs und Praktikum; 2 SWS; durchgehend)
Im Grundkurs dient Multimedia der Unterstützung physikalischer Lernprozesse.
In den beiden anderen Veranstaltungen überwiegen das Lernen über
Multimedia und die fachdidaktische Komponente, d.h. die Reflexion von
Zielen und Wirkungen im Hinblick auf Physikunterricht. Aber auch dies erfolgt
anhand fachlicher Untersuchungen.
In der Vorlesung wird das Videosignal in eine Großprojektionseinheit
eingespeist. Für Praktika und Übungen stehen den Studierenden
im Praktikum 7 Einheiten zur Verfügung. Die Ausstattung eines Arbeitsplatzes
mit physikspezifischer Hard- und Software kostet neben dem PC sowie Bildschirm
und Drucker etwa 5.000 DM.
4.2 Studiengangsübergreifende Aspekte der Implementation
Die folgenden Ausführungen zum Einsatz von Multimedia in die Hochschullehre
beruhen auf einer Erhebung zum Implementationsstand an der Universität
Bremen (Friedrich 1997). Sie gelten studiengangsübergreifend nicht
nur für die Physik.
Multimedia hält nur langsam Einzug in Pflichtveranstaltungen des Grundstudiums
Das Grundstudium hat in kanonisierten Fächern wie der Physik eine
lange Tradition und sollte nach Auffassung vieler Lehrender - wenn überhaupt
- nur sehr behutsam umgestaltet werden. Leichter ist es, Zusatzangebote
im Hauptstudium zu machen, wo nach der obengenannten Erhebung umfangreicher
auf Multimedia zurückgegriffen wird. Im Fachbereich Physik/Elektrotechnik
bestanden Freiräume im Lehrergrundstudium als Experimentierfeld. In
welchem Maße die dort gemachten Erfahrungen in den Diplomkurs eingebracht
werden können, bleibt in den nächsten Jahren abzuwarten.
Integration in klassische Veranstaltungsformen
Der Multimediaeinsatz findet hauptsächlich in den klassischen Veranstaltungsformen
Vorlesung und Seminar statt. Er dient vornehmlich als Ergänzung zur
ansonsten traditionellen Lehre. Dies erfolgt gezielt an wenigen Terminen
in einem Semester. Bisher findet man kaum einen durchgehenden Einsatz von
Multimedia, oder eine grundlegende Neukonzipierung von Veranstaltungen.
Ein Gegenbeispiel ist der "CUPLE - Studio Physics Kurs" am Rensselear Polytechnik
Institute in den USA. In diesem Grundkurs für Physik als Nebenfach
wird vollkommen auf Vorlesungen verzichtet. Dafür arbeiten die Studierenden
in Kleingruppen in einem multimedial ausgestatteten Labor (dem Physics
Studio).
Qualitätsverbesserung der Lehre statt Rationalisierung
Allen Lehrenden mit Multimediaerfahrung ist klar, daß die Implementation
einen hohen Aufwand an Ressourcen und Zeit erfordert. Zumindest kurz- und
mittelfristig ist an Rationalisierungseffekte nicht zu denken. Es geht
nicht um den Ersatz von Dozenten durch Computer sondern um die Verbesserung
der Qualität der Lehre.
Gegensatz zwischen Lernen mit und Lernen über Multimedia
Schaut man sich multimedial gestützte Veranstaltungen an, so geht
es oft mehr darum, den Umgang mit den neuen Medien zu vermitteln als inhaltliches
Lernen neu zu unterstützen. So lernen zukünftige Physiklehrer
in Spezialveranstaltungen, wie man Computer einsetzen kann, um Schülern
physikalische Sachverhalte zu verdeutlichen. Sie - die Studierenden - haben
die gleichen Inhalte jedoch vorher ganz konventionell erarbeitet. Warum,
so lautet die Frage, erfahren die Lehramtsstudierenden nicht in ihrer eigenen
Ausbildung, wie man mit Hilfe von Informationstechnik (selbst) lernen
kann? Damit würde zugleich eine Erfahrungsgrundlage für die fachdidaktische
Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen von Multimedia gelegt, die
später als Lehrer den Schritt zur kritisch hinterfragten Nutzung einfacher
macht. Insgesamt muß der Gegensatz zwischen Lernen mit und
Lernen über Multimedia abgebaut werden.
Sehr unterschiedliche Vorkenntnisse
Die Studierenden bringen ein sehr breites Spektrum an Multimediaerfahrungen
in die Veranstaltungen mit. Man kann davon ausgehen, daß fast alle
über Grundkenntnisse mit Textverarbeitungssystemen verfügen.
Aber bereits bei der Tabellenkalkulation sind Grenzen schnell erreicht.
Man muß daher - anders als bei CBT-Angeboten - eine längere
Einarbeitungszeit einrechnen, bis offene Werkzeugangebote kreativ genutzt
werden können. Daraus folgt andererseits, daß eine solche Einführung
nur Sinn macht, wenn die Werkzeuge dann auch über längere Zeiträume
genutzt werden.
5. Multimedia und Lernen
Es gibt bisher nur wenige Untersuchungen über die längerfristigen
Lerneffekte des Einsatzes von Multimedia im Physikstudium - insbesondere
bei einer offenen Werkzeugkonzeptionen. Ein Ergebnis der bereits angesprochenen
Untersuchung von Paice (1997) besteht darin, daß der Einsatz von
Multimedia-Tools ein trennscharfes Mittel ist, um zwischen leistungsstarken
und leistungsschwächeren Studierenden zu unterscheiden. Das physikalische
Wissen beeinflußt stark den produktiven Umgang mit den Tools. Offene
Werkzeugumgebungen sind nach unseren Erfahrungen kein probates Mittel für
die Erarbeitung neuer Begriffe und Zusammenhänge. Vielmehr dienen
sie der Festigung und Vertiefung von Wissen durch Transfer auf neue, interessante
aber auch herausfordernde Situationen.
Zwei in Bremen und Dortmund laufende Promotionsvorhaben (s. dazu Niedderer
1997) untersuchen, ob die Nutzung von computergestützten Modellbildungswerkzeugen
im Praktikum einen stärkeren Rückgriff auf theoretisches Wissen
aus den Vorlesungen bei der Durchführung von Experimenten im Praktikum
anstößt. Starke Effekte wurden bisher nicht beobachtet.
Um Lerneffekte mit Multimedia anzustreben, müssen als Gestaltungselemente
für die Lernumgebung zur Technologie Erkenntnisse der neueren Lernforschung
hinzukommen. Dazu zählen:
-
der enge Kontakt und die intensive Kommunikation zwischen dem Lerner und
dem Betreuer (cognitive apprenticeship-Ansatz),
-
sozialer Kontext mit Partnerarbeit und Gruppendiskussionen,
-
bedeutsame und authentische Aufgabenstellungen.
Weidenmann (1995, 78) weist darauf hin, daß die implizite didaktische
Struktur von Lernangeboten den Lernprozeß maßgeblich beeinflußt:
"Die instruktionale Methode hat Vorrang vor der Präsentationsform".
Der CUPLE Physics Studio Kurs verfolgt eine solche Verbindung von Multimedia
mit konstruktivistischen Lehrstrategien. Cooper (1995) hat in einer breit
angelegten Evaluation des CUPLE -Studio Kurses am Rensselear Polytechnic
Institute folgende Aspekte untersucht:
-
Konzeptualisierung der Grundbegriffe der Newtonschen Dynamik,
-
Fähigkeit zur Interpretation von v(t)- und s(t)-Diagrammen,
-
Entwicklung von Problemlösungskompetenz,
-
affektive Effekte.
Die Ergebnisse sind ernüchternd. Trotz des integrierten Ansatzes mit
Computertechnologie und neuen Lernformen bewegen sich die Lernfortschritte
im Bereich der Ergebnisse anderer Untersuchungen mit anderen nicht-computergestützten
Vorgehensweisen. Nur bei der affektiven Komponente zeigen sich deutliche
Vorteile. Allerdings war die Präsenzzeit gegenüber dem normalen
Kurs um ca. ein Drittel reduziert. Dafür war der personelle Ressourceneinsatz
wegen der hohen Betreuungsdichte wiederum höher.
In der Physics Learning Research Email-Diskussionsrunde waren
im Herbst 1996 "documented effects of multimedia/computers in the sciences"
ein Thema. Die Beiträge waren überwiegend zurückhaltend.
In einer zusammenfassenden Wertung schrieb der Koordinator der Diskussionsrunde
Dewey Dykstra:
"One moral: If one uses a higher technology to do essentially the
»same thing« one could have done (has been doing) with a 'lower',
less expensive technology, then one should expect to pay more for essentially
the same results.”
Erwartungen an große Lernwirkungen, die sich schnell einstellen,
wären verfrüht. Um so wichtiger ist es, daß der Entwicklung
von Multimedia-Tools eine ebenso intensive fach- und mediendidaktische
Betreuung und wissenschaftliche Begleitforschung zur Seite gestellt wird.
Literatur
Cooper 1995
Cooper, M.A.: An Evaluation of the Implementation of an Integrated
Learning System for Introductory College Physics.
Doctoral Dissertation, State University of New Jersey 1995.
CPU 1992
Niedderer, H., Bethge, T. & Schecker, H.: Computereinsatz im Physikunterricht.
Abschlußbericht des Modellversuchs (4 Bände). Bremen: Universität,
Institut für Didaktik der Physik.
Friedrich 1997
Friedrich, J., Kriwald, T., Marx, C. & Schecker, H.: Ergebnisse
der Befragung zu Multimedia-Aktivitäten in der Lehre an der Universität
Bremen. Universität Bremen, Kommission des akademischen Senats "Multimedia
in der Lehre".
Niedderer 1997
Niedderer, H., Haller, K., Hucke, L. & Sander, F.: Learning processes
during labwork in introductory physics courses in university. Paper presented
at the First ESERA Conference "Science Education Research in Europe", Rom,
September 1997.
Paice 1997
Paice, J.: Entwicklung und Erprobung einer Hypermedia-Lernumgebung
für den Themenbereich "Schwingungen". Aachen: Mainz.
Schecker 1993
Schecker, H.: The didactic potential of computer aided modeling for
physics education. In: Ferguson, D.L. (ed.): Advanced Educational Technologies
for Mathematics and Science. Berlin: Springer, 165-207.
Schecker 1995
Schecker, H.: Möglichkeiten und Grenzen von Multimedia im Physikunterricht.
In: Deutscher Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen
Unterrichts e.V. (Hrsg.): Bericht über die 11. Tagung der Fachleiter
für Physik. MNU-Schriftenreihe, Heft 56, 1995, 27-52.
Schecker 1996
Schecker, H.: Bremer Interface-System: Didactic guidelines for a universal,
open, and user-friendly MBL-system. In: Tinker, R. (Hrsg.): Microcomputer
Based Labs: Educational Research and Standards. Berlin: Springer, 351-367.
Schecker (im Druck)
Schecker, H.: Integration of Experimenting and Modeling by Advanced
Educational Technology: Examples from Nuclear Physics. In: Tobin, K. &
Fraser, B.J. (eds.): The International Handbook of Science Education. Dordrecht:
Kluwer.
Schecker (im Druck)
Schecker, H.: Physik modellieren. Stuttgart: Klett.
Walter 1995
Walter, U.: Hypermedia als Werkzeug für den Physikunterricht.
1. Staatsexamensarbeit, Universität Bremen, Institut für Didaktik
der Physik.
Weidenmann 1995
Weidenmann, B.: Multimedia, Multicodierung, Multimodalität. In:
In: Issing, L. & Klimsa, P. (Hrsg.): Information und Lernen mit Multimedia.
Weinheim: Psychologie-Verl.-Union, 65-84.
Wilson 1992
Wilson, J.M. & Redish, E.F.: The comprehensive unified physics
learning environment: Part I. Background and System Operation. In: Computers
in Physics 6 (1992), 2, 202-209. Part II. The basis for integrated studies.
In: Computers in Physics 6 (1992), 3, 282-286.
Software
2D_VIDEO_QT. Carlisle, PA: Dickinson College.
EXCEL. München: Microsoft.
INTERACTIVE PHYSICS II. San Francisco, CA: Knowledge Revolution.
MATHELAB - Funktionale Tabelle, Graphik, Iteration. Bremen: Landesbildstelle
(Heinz Weißgerber).
STELLA II - Software for Education. Dartmouth, NH: High Performance
Systems.
Dr. Horst Schecker ist unter schecker@physik.uni-bremen.de
zu erreichen.
Die Homepage des Instituts wird gerade umgestaltet. AbNovember 1997 haben
Sie dort wieder besseren Zugriff auf aktuelle Arbeiten.. Sie köennen
es aber auch jetzt versuchen unter : http://www.physik.uni-bremen.de/physics.education/