Zusammenfassung
Generell ist das Wissen über die epidemiologische Situation bei Wildtieren noch sehr
lückenhaft. Durch überwiegend anthropogen bedingte Umweltveränderungen gehen die
Bestände vieler Wildtierpoulationen regional und global immer mehr zurück. Mit ihrem
fortschreitendem Rückgang und der damit sich stets vergrößernden Gefahr des
Aussterbens
von heute bereits seltenen Wildtierarten gewinnen Untersuchungen über den Einfluß von
Krankheiten auf Wildtierpopulationen eine immer größere Bedeutung, da Krankheiten
zunehmend als eine potentielle regulatorische Kraft in Wildtierpopulationen angesehen
werden (Ökofaktor - These). Die Erforschung von Wildtierkrankheiten und die Aufklärung
ihrer Epidemiologie stehen somit mit den Zielen des Artenschutzes ("wildlife conservation")
in enger Beziehung.
Hauptziel der vorliegenden Arbeit waren exemplarische Untersuchungen über
wechselseitige Übertragungsmöglichkeiten von Virusinfektionen zwischen Wild- und
Haustieren sowie zwischen verschiedenen Wildtierarten. Im Vordergrund standen Analysen
über die Besonderheit von Infektionsabläufen in Wildtierpopulationen, sowie über die
Bedeutung
der Wildtiere für Haustiere im epizootischen Prozeß.
Hinsichtlich der bovinen Virusdiarrhoe/Mucosal Disease (BVD/MD), einer
weitverbreiteten und in Rinderhaltungen ökonomisch bedeutsamen Erkrankung, war die
Rolle
der Wildwiederkäuer im Infektionsgeschehen bisher noch nicht geklärt. Aufgrund der
dargelegten Ergebnisse deutet sich an, daß in Cervidenpopulationen eigene, von
Hausrindern
unabhängige Infektionszyklen existieren. Diese Auffassung stützt sich u.a. auf die Isolierung
von zwei gleichartigen zytopathogenen BVD-Viren aus zwei Rehen (Capreolus capreolus),
die Unterschiede zu allen anderen getesteten BVDV-Stämmen aufwiesen, sowie auf die
Tatsache, daß bei Cerviden kein Unterschied in der Seroprävalenz zwischen
Untersuchungsgebieten mit hohen, intermediären und niedrigen Rinderdichten
nachgewiesen
werden konnte.
Bei freilebenden Wildkaninchen ließen sich in einem hohen Prozentsatz (40%)
Antikörper gegen BVDV nachweisen. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, daß diese Tierart
gegenüber BVDV exponiert ist. Es ist deshalb nicht auszuschließen, daß unter
Freilandbedingungen Wildkaninchen als Virusträger bzw. -überträger eine Rolle spielen
könnten.
In Hinblick auf die Ursache der sog. "Wasting Disease" bei Elchen (Alces alces) und
Rehen in Schweden ist eine multifaktorielle Ätiologie plausibel, in der ein niedriger Kupfer-
Spiegel, Mangelernährung, ein Retrovirus sowie BVDV ineinandergreifen.
Die Untersuchungsergebnisse hinsichtlich a-Herpesvirusinfektionen bei Cerviden
deuten ebenfalls darauf hin, daß auch hier eigene, von den Hausrindern unabhängige
Infektionszyklen mit an Cerviden adaptierten a-Herpesviren vorkommen.
Erstmals wurden im Rahmen der vorliegenden Studie Untersuchungen über
Infektionen mit Bösartigem Katarrhalfieber (BKF)-assoziierten Viren (BKFV) bei
freilebenden Cerviden in Deutschland durchgeführt. In dieser Untersuchung konnten
Antikörper gegen BKFV sowohl bei freilebendem als auch in menschlicher Obhut
gehaltenem
Damwild nachgewiesen werden. Die hohe Seroprävalenz und die positiven PCR-Ergebnisse
bei Schafen aus dem gleichen Areal deuten darauf hin, daß in diesem Fall vermutlich Schafe
das Erregerreservoir darstellen.
Bezüglich der caninen Distemper Virus (CDV)-Infektionen bei Wildkarnivoren
ergaben die Untersuchungen bei Rotfüchsen (Vulpes vulpes) signifikant höhere
Seroprävalenzen gegenüber CDV in Großstadtgebieten mit hoher Hundedichte als in dünn
besiedelten Gebieten mit geringer Hundedichte. Ferner wurde durch Sequenzanalysen der
isolierten Virusnukleinsäure von CDV bei Wildkarnivoren nachgewiesen, daß die ermittelten
Sequenzen bis zu über 99% Homologien zu bekannten CDV-Haushundesequenzen
aufweisen.
Es kann vermutet werden, daß sich Füchse in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit an
von Hunden ausgeschiedenen CDV infizieren. Bei Untersuchungen von freilebenden
Dachsen
in Südengland konnten keine Antikörper gegen CDV nachgewiesen werden, was
möglicherweise auf eine intensivere Impfstrategie bei Hunden in England im Vergleich zu
Deutschland zurückzuführen ist.
Im Rahmen der Untersuchungen über die Aufklärung der
Übertragungsmöglichkeiten von Virusinfektionen zwischen verschiedenen Wildtierarten
wurden für 10 verschiedene Virusstämme die Übertragungsrisiken zwischen bedingt
freilebenden Chinesischen Wasserrehen (Hydropotes inermis) und verschiedenen anderen
Ungulatenarten im Whipsnade Wild Animal Park (England) geprüft. Das Ergebnis dieser
serologischen Untersuchungen spricht nicht dafür, daß die zwischen den anderen Arten im
Park lebenden Chinesischen Wasserrehe als bedeutende Reservoire oder Überträger für
die
untersuchten Virusinfektionen in Betracht kommen.
Zur Klärung der Frage, ob freilebende Rotfüchse im Rahmen der Epidemiologie der
Rabbit Haemorrhagic Disease (RHD) eine Rolle spielen können, wurden Fuchsseren auf
Antikörper gegen RHDV getestet. Durch diese Untersuchungen ergaben sich erstmalig
Hinweise auf Calicivirus-Infektionen bei freilebenden Rotfüchsen. Ferner lassen die
Ergebnisse den Schluß zu, daß potentielle Übertragungswege zwischen Füchsen und
Wildkaninchen bezüglich RHDV existieren.
Die im Rahmen der Rückgangsursachen von Wildtierpopulationen durchgeführten
epidemiologischen Arbeiten befassen sich mit Infektionskrankheiten bei bedrohten
Wildtierarten, zu denen in Europa der Europäische Wisent und seit einigen Jahrzehnten
auch
der Feldhase gehören. Eine 1980 im Urwald von Bialowieza (Polen) erstmals festgestellte
chronische Genitalerkrankung bei Wisentbullen, die 1996 bereits bei ca. 15% aller
männlichen
Wisente dieser Population beobachtet wurde, ist hinsichtlich ihrer Ätiologie und
Pathogenese
noch nicht vollständig geklärt. Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand handelt es sich bei
dieser nekrotisierenden und ulzerativen Balanoposthitis um eine bakterielle Mischinfektion,
bei der Fusobacterium necrophorum (als ursächlicher Erreger) mit weiteren, noch zu
bestimmenden Erregern die entstehenden Nekrosen verursacht. Vermutlich spielen hierbei
auch Corynebakterien und Spirochäten eine Rolle. Als ein die Krankheit begünstigender
Faktor könnte auch eine genetische Disposition aufgrund von Inzuchteffekten in Betracht
kommen. Für den Fortbestand der größten freilebenden Wisent-Population ist die
Aufklärung
dieser Erkrankung unerläßlich, da der Ausfall eines zunehmenden Anteils männlicher
Wisente
am Reproduktionsprozeß vermutlich zu einer weiteren Reduktion der genetischen Variabilität
führt.
Im Rahmen der Klärung der Rückgangsursachen des Feldhasen läßt sich die Frage,
welchen Anteil das Brown Hare Syndrome (EBHS) und andere Erkrankungen am
Populationsrückgang haben, aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse noch nicht
eindeutig beantworten. Vermutlich spielt EBHS eine lokal sehr unterschiedliche Rolle. Bei
Untersuchung von Feldhasen aus dem polnischen Untersuchungsgebiet Czempin wurde u.a.
eine hohe EBHS-Antikörper-Prävalenz (38%) festgestellt. Es ist zu vermuten, daß EBHS
mitverantwortlich war für die hohe Mortalität dieser polnischen Hasenpopulation in den
letzten 10 Jahren. In einer weiteren Studie wurde erstmals über das Vorkommen der EBHS in
der Schweiz berichtet. Untersuchungsergebnisse aus dem Land Hessen weisen allerdings
auf
eine gegenüber den 80er Jahren zurückgehende Bedeutung der EBHS für die
Hasenpopulationen in den untersuchten Gebieten hin und deuten an, daß EBHS in Hessen
gegenwärtig wohl nicht für den Populationsrückgang verantwortlich ist.
Im Rahmen einer seroepidemiologischen Studie über verschiedene Infektionen bei
freilebenden Breit- und Spitzmaulnashörnern im östlichen und südlichen Afrika wurde
erstmalig untersucht, gegenüber welchen Infektionserreger freilebende Nashörner exponiert
sind. Die Studie liefert Hinweise auf das Vorkommen und die Verbreitung sowie die
potentielle Bedeutung von Infektionen bei diesen stark bedrohten Tierarten.
Es sollte weiterhin geklärt werden, in welchem Umfang freilebende Greifvögel und
Eulen gegenüber verschiedenen Infektionen exponiert sind. Die Ergebnisse reflektieren das
ubiquitäre Vorkommen von Chlamydia psittaci und zeigen, daß Newcastle Disease, Herpes-
und Adenovirusinfektionen vermutlich eine untergeordnete Rolle bei Vögeln aus der
Untersuchungsregion Berlin/Brandenburg spielen.
Im Rahmen der Untersuchungen zur Identifizierung neuer Erreger sowie zu
regionalen und lokalen Erstnachweisen von Infektionen bei Wildtieren wurden Studien über
das Vorkommen equiner Herpesviren bei freilebenden Bergzebras in Namibia sowie bei
Equiden in Zoologischen Gärten durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen erstmals, daß equine
Herpesvirus-1 (EHV-1), EHV-2 und EHV-4 -Infektionen bei freilebenden Bergzebras
offensichtlich weitverbreitet sind und belegen, daß equine Herpesviren auch bei Przewalski-
Pferden in deutschen Zoologischen Gärten vorkommen. Bei Untersuchungen über aviäre
Hepadnaviren konnte schließlich erstmals bei arktischen Schneegänsen (Anser
caerulescens)
ein neues Hepadnavirus (Schneegans-Hepadnavirus, SGHBV) nachgewiesen und
charakterisiert werden. |