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III. Lesen im Lebenslauf

1. Zur Anwendung biographischer Methoden in der Lese(r)forschung

Hauptgegenstand meiner Untersuchung ist die persönliche Lesebiographie als Ausschnitt aus dem kompletten Lebenslauf.

Im vorliegenden empirischen Teil werden die Aussagen der von mir erhobenen fokussierten Interviews analysiert und interpretiert, mit dem Ziel, die Bedeutungen, Funktionen und Veränderungen des Lesens im Lebenslauf von drei Lesergenerationen zu untersuchen. Denn "neben der Bedeutung und der Funktionalität, die das Lesen für die ganze Gesellschaft hat, erfüllt es einen speziellen Nutzen für das Individuum. Dieser ergibt sich aus der Möglichkeit, daß der einzelne bestimmte Bedürfnisse durch das Lesen bzw. durch die Lesemedien befriedigt."[1] )

Bezogen auf das Lesen soll so auch den Entwicklungsprozessen von Handlungsritualen und Habitualisierungen nachgespürt werden. Dies ist erst möglich, wenn die eigenen Darstellungen und Interpretationen der Betroffenen wie in der vorliegenden Arbeit mit berücksichtigt werden.

Auf der Grundlage der lebensgeschichtlichen Zeugnisse kristallisieren sich das Leseverhalten fördernde und hemmende Lebensumstände heraus. Untersucht wird, ob sich Zusammenhänge zwischen einem buchnahen oder buchfernen Milieu im Elternhaus, der späteren Funktion des Lesens sowie der Mediennutzung im Erwachsenenalter rekonstruieren, analysieren und in Beziehung zu parallel dazu existierenden sekundären Sozialisations- und Förderangeboten setzen lassen. Im Sinne der Forschung wird hier "Biographisches Material (...) erhoben und interpretiert, um das Handlungsverständnis und das Handeln innerhalb bzw. unterhalb der Regeln institutioneller Strukturen kennenzulernen, um die 'Sicht von innen' von intentional strukturierten Handlungsräumen der Beteiligten zu erreichen".[2] ) Dazu gehören z.B. Aussagen über das familiäre Leseklima, das Lesenlernen und den Schulbesuch, als Grundlage für das Nachvollziehen der Entwicklung und Wandlung des Lesens im Lebenslauf.

Anhand der auf die Leseerinnerung fokussierten Forschung soll ferner herausgearbeitet werden, ob es Lebensläufe gibt, aufgrund derer sich die Entwicklung zum Leser oder Nicht-Leser exemplifizieren läßt. Anhand der Analyse der Interviews wird untersucht, inwieweit intensives Leseverhalten, das von den familiären Konstellationen her unerwartet ist, in spezifischen Kindheits- oder Jugenderlebnissen gründet. Läßt sich dieses Phänomen häufiger nachweisen, so ist davon auszugehen, daß eine "lesedeterminierte" Persönlichkeit als wesentliche Voraussetzung zum medienpädagogischen Erfolg oder Mißerfolg angesehen werden kann.

Dabei drängt sich die Frage auf, ob es im Lebenslauf Schlüsselerlebnisse gibt, die das spätere Leseverhalten bestimmen, bzw. ob seine Prägungen wirklich weitgehend in den Lebensumständen der Kindheit begründet sind. Die Analyse des Zusammenspiels der Determinanten - wie historischer Kontext, sozialer Status, Schulerfolge, Persönlichkeitstyp - ermöglicht es, die Vielfalt der Leserbiographien zu deuten und gemeinsame Funktionen des Lesens im Lebenslauf zu erkennen.

Es wird zu prüfen sein, ob sich bei aller Individualität der Befragten dennoch Gruppen von Lesern mit ähnlichen Lebensverläufen und dadurch bedingten spezifischen Bedeutungen des Lesens herauskristallisieren. Auch Brüche und Hemmnisse, die eine freie Entscheidungsmöglichkeit in bezug auf das Lese- und Mediennutzungsverhalten des jeweiligen Individuums behinderten, sollen aufgespürt werden. Da das Lesen aber infolge der wachsenden Vielfalt des Medienangebotes nicht losgelöst von der Nutzung aller Medien beurteilt werden kann, wird neben dem Schwerpunkt des Lesens auch das weitere individuelle Mediennutzungsverhalten bis zum Zeitpunkt des Interviews berücksichtigt.

Dabei ist die offensichtliche Subjektivität in der Darstellung der einzelnen Befragten für die spätere Analyse keine Einschränkung, sie ist bei biographischen Erhebungen vielmehr intendiert, bzw. unabdingbar.

Meine Untersuchung steht im Kontext großstadtorientierter Volkskunde, deren allgemeine Grundlagen, gerade auch im Hinblick auf die Bevölkerungsstruktur durch Elisabeth Pfeil geschaffen wurden.[3] ) Speziell für Hamburg waren die Forschungen von Herbert Freudenthal zum Vereinswesen in Hamburg grundlegend, und wurden in der Gegenwart besonders von Albrecht Lehmann intensiviert.[4] )

In Orientierung an diesen Forschungen sehe ich auch meine Arbeit als Beitrag zur Bewußtseinsforschung an. Dementsprechend subsumiere ich auch die Erforschung der Prägung individueller Lesesozialisation unter großstädtischen Einflüssen zur volkskundlichen Bewußtseinsforschung.

Da es sich bei den bisherigen Untersuchungen zum Leseverhalten der Bevölkerung vorwiegend um quantitative Erhebungen handelte, die letztendlich "Momentaufnahmen" des jeweiligen Themas darstellen, blieben Fragen nach der individuellen Bedeutung von Lesen und Literalisierung im persönlichen Lebenslauf - privat wie beruflich - weitgehend unbeantwortet. Diese Lebensferne der quantitativen Erhebungen, denen es vor allem um globale Aussagen und statistisch auszuwertendes Zahlenmaterial ging, soll mit der biographischen Methode überwunden werden. Mit ihrer Hilfe frage ich in meiner volkskundlichen Untersuchung nach einer Kontinuität im Bewußtsein, bezogen auf Lesen, Lektürezeiten und Lesestoffe sowie dem dadurch mitgeprägten späteren Mediennutzungs- und Leseverhalten unter großstädtischen Lebensbedingungen. Der Einzelne erzählt einen speziellen Teil der Geschichte seines Lebens, seiner Lesebiographie und Sozialisation sowie seiner Erfahrungen mit Lesemedien. Derart persönliche Erfahrungen sind zugleich Bestandteil kollektiver Lebenserfahrung, die den Angehörigen einer Leser- und Mediengeneration gemeinsam

ist.[5] )

Bereits Ende der 60er Jahre gab es unter den Entwicklungspsychologen erste Ansätze, ihre bisherigen Arbeitsgebiete durch die "Ausarbeitung einer Lebenslaufperspektive" zu ergänzen.[6] ) An dieser Neuorientierung wurden auch einige soziologische Forschungen zur frühen Sozialisation ausgerichtet.[7] )

In den 70er Jahren entdeckten dann nicht nur Erziehungswissenschaftler und Sozialhistoriker den qualitativ hohen Informationsgehalt autobiographischen Materials für sich, auch die Soziologen und die Historiker arbeiteten zunehmend mit empirisch erhobenen Lebensberichten.[8] ) Wo bei älteren soziologischen Forschungsarbeiten noch die sogenannten "persönlichen Dokumente", also bereits schriftlich fixierte biographische Zeugnisse, wie Tagebücher und Briefe, die Basis der Forschung bildeten, wird seitdem vor allem das Interview zur Erhebung des Datenmaterials genutzt. Die Berücksichtigung von Erinnerungen ist besonders dann sinnvoll, wenn soziale Vorgänge für den Forscher nicht allein durch die Beobachtung zu erschließen sind, oder wenn Handlungsmuster einem ihm nicht bekannten Alltagszusammenhang entstammen.[9] ) Diese Aussage besitzt auch für die Erforschung des Lesens als persönliches Handeln Gültigkeit. Leseverhalten läßt sich kaum von "außen" beobachten und wird erst durch die Selbstaussagen der Leser (oder Nichtleser) plastisch und lebendig.

Im Gegensatz zu anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen richtet sich die Aufmerksamkeit volkskundlicher Forschungen seit längerer Zeit auf das Individuum in seinen alltäglichen Lebenssituationen und -handlungen, im Bemühen, Bewußtseinsprozesse nachzuzeichnen. Der Einzelne in der Gesellschaft und das Alltagsgeschehen gewannen somit an Bedeutung. Zur Erforschung dieser Phänomene wurde auch in dieser Disziplin zunächst überwiegend mit bereits bestehendem Datenmaterial gearbeitet[10] ) bis man dazu überging, die Lebensgeschichten mittels ausführlicher und intensiver Leitfadengespräche oder narrativer Interviews zu erheben.[11] ) Die verspätete Hinwendung der Volkskundler zum 'durchschnittlichen Erzähler'[12] ) ist mit der ehemals eher literaturwissenschaftlichen Auffassung volkskundlicher Erzählforschung zu erklären und auf ihre weitgehende Beschränkung auf literarische Genres der Volksüberlieferungen, wie Märchen, Sage und Schwank zurückzuführen. Erst nachdem auch das "Erzählen im Alltag"[13] ), das sich nicht direkt auf eine mündliche Überlieferung stützt oder entsprechende Stoffe transportiert, als möglicher Gegenstand der Forschung akzeptiert wurde, konnte die Volkskunde ihren Beitrag zur biographischen Forschung erbringen. Bedeutsam hierfür wurden die Forschungen Albrecht Lehmanns,[14] ) der für die Volkskunde fordert, "gerade die mündlich erzählte Lebensgeschichte zu einer wichtigen empirischen Grundlage ihrer Fragen und Analysen (...) zu machen."[15] ) Die Anwendung der biographischen Methode hat zur Folge, daß der Forscher in der zeitlichen Dimension bestimmten Grenzen unterworfen ist, die erfordern, besonders das Alter und die geistige Verfasung der Befragungspersonen zu beachten. Denn Menschen, die Zeugen eines bestimmten Zeitgeschehens waren, können natürlich nur solange befragt werden, wie sie psychisch und physisch dazu in der Lage sind. Die Bedeutung der Alltags- und Lebensgeschichtlichen Erzählung als Quelle der Bewußtseinsforschung wird nicht nur in der Volkskunde nicht mehr in Frage gestellt.[16] )

2. Das methodische Vorgehen

Für die Erhebung von erzählten Lebensläufen und Lebensgeschichten ist das Interview als besonders geeignetes Verfahren anzusehen.[17] ) Dies vor allem da der Mensch nicht nur von äußeren Sozialisationsfaktoren abhängt, sondern seinen Lebenslauf selbst aktiv gestaltet, von äußerer Einflußnahme und seiner Einschätzung der eigenen Entwicklung und des persönlichen Werdegangs berichten kann.[18] ) An einem Leitfaden orientierte, offene aber fokussierte Interviews ermöglichen ein spezielles Eingehen auf den jeweiligen Interaktionspartner.[19] ) Im Gegensatz zu den standardisierten Verfahren, bei denen oft unklar bleibt, wie der Informant eine Frage verstanden hat, liegt die Bedeutung der qualitativen Methode gerade darin, auch dies zu erforschen. Ein einfühlsamer und gewandter Interviewer kann so die Formulierung einer Fragestellung an seinen Gesprächspartner anpassen und dadurch Verständnisschwierigkeiten vorbeugen. Durch das Verwenden eines Gesprächsleitfadens ist es möglich, eine Basis miteinander vergleichbaren Materials zu erheben.[20] )

Für eine den Befragten möglichst "natürlich" erscheinende Gesprächsatmosphäre ist die Umgebung wichtig, in der das Interview stattfindet. Die Befragten sollen sich möglichst innerhalb der ihnen "vertrauten Interaktionsformen" verhalten und ausdrücken können."[21] ) Dies gilt vor allem, wenn die Informanten ungeübt darin sind, "offiziell" von sich und ihrem Leben zu berichten. So handelt es sich bei keinem der von mir befragten Informanten um eine sogenannte "Erzählerpersönlichkeit".[22] ) Für eine derart ungeübte Erzähler-Klientel ist die Motivierung durch den Forscher von besonderer Bedeutung, denn dieser soll den Informanten im Gespräch anregen und gleichzeitig lenken, ohne ihn einzuschränken oder ihm Gedanken vorzugeben.[23] )

Die Interviews fanden in den Wohnungen und Häusern der Befragten statt und wurden von ihrer Seite aus fast immer mittels "Bewirtung" als eine Art des "Besuchs" gestaltet.[24] ) Die Gespräche nahm ich auf Tonbandkassette auf und transkribierte später alle Gesprächsphasen, die sich auf meine Fragestellung bezogen.[25] )

Zu Beginn eines jeden Gespräches ging es zunächst etwas distanziert zu und dauerte meistens ein paar Minuten, bis das Tonband und die anfänglichen Hemmungen vergessen waren. Solche Verlegenheiten äußerten sich z.B. in der Gestik oder in einem knappen, fast schroffen Erzählstil, der im Laufe des Interviews meistens einem unbefangenen Unterhaltungston wich.

Die ersten drei Interviews führte ich nach einer verbalen Introduktion durch, ohne den Leitfaden vorgelegt zu haben. Die Erinnerungen dieser Informanten kamen zunächst schleppend in Gang, und es bedurfte häufiger Nachfragen und Gedankenpausen. Bei den folgenden Gesprächen händigte ich deshalb den Gesprächsleitfaden einige Tage vor dem Gespräch aus und erläuterte bei diesem Treffen noch einmal kurz Ziel und Absicht meiner Erhebung. Die auf diese Weise vorab informierten Interviewpartner konnten sich wesentlich besser auf die Erinnerungen an ihre Lesesozialisation konzentrieren. Einige hatten sogar vorher bei ihren Eltern, bevorzugt den Müttern, nachgefragt, weil sie bezüglich der eigenen Erinnerung unsicher waren. Während der Gespräche gaben die Angesprochenen sich in der Regel sehr offen und berichteten mir bereitwillig von sehr persönlichen Lebenssituationen, deren privater Charakter durch die Anonymisierung der Belegstellen gewahrt bleibt. Die Gespräche dauerten in der Regel zwei bis drei Stunden, wobei der eigentliche themenzentrierte Teil meistens nicht länger als anderthalb bis zwei Stunden, in einigen Fällen auch kürzer, ausfiel.

Während der Interviews fragte ich nicht explizit nach statistischen Daten, weil diese durch die Buchmarktforschung bereits wesentlich gründlicher erhoben wurden.[26] )

Von fast allen Gesprächspartnern wurde das Gespräch als Reflexion auf Ereignisse und Entwicklungen des eigenen Lebens genutzt. Das Thema beschäftigte viele noch in der darauffolgenden Zeit, so daß ich auch noch nach den Interviews Anrufe mit Hinweisen und Ergänzungen erhielt.[27] )

Obwohl jeder Erzähler aufgefordert wurde, die Erinnerungen nach eigenem Ermessen zu gestalten, folgte die Einteilung des Lebenslaufs in der Rückschau kanonisierten, lebensgeschichtlich maßgeblichen Phasen wie Kindheit, Jugend, Schulzeit sowie Berufsausbildung, Berufstätigkeit und Familiengründung, die als strukturierende Elemente dienten. Es ist davon auszugehen, daß die Informanten bereits ein festes Bewußtsein für einzelne Lebensabschnitte besitzen und dementsprechend spezifische Erinnerungen im Geiste "vorsortieren", bevor sie geschildert werden.[28] )

Die umfangreichen, eine gründliche Arbeit voraussetzenden Hinweise zur Transkription von Interviews, die bei Schröder als "Katalog von Transkriptionsregeln"[29] ) verzeichnet sind, habe ich mir in wesentlichen Punkten zu eigen gemacht und die Tonbandprotokolle entsprechend transkribiert. Hierbei nahm ich möglichst wenig Eingriffe vor, um die Besonderheiten des alltäglichen Erzählens zu erhalten.[30] ) Eine sprachliche Überarbeitung war nicht notwendig, da sich alle Befragten klar und verständlich ausdrücken konnten."[31] )

Ich habe die Tonbandaufzeichnungen wortgetreu übernommen und keinerlei Textpassagen umgeschrieben, sie allerdings in gültiger Orthographie wiedergegeben, da die gute Lesbarkeit von Zitatstellen entscheidend durch Satzzeichen gewährleistet wird.[32] ) Grammatische Fehler wurden nicht korrigiert (falscher Kasus) und auch Verwechslungen von "wie" und "als" wurden übernommen. Die Wortfolge und Abfolge der Sätze blieben unverändert. Die ausgewählten Interviewabschnitte werden vollständig zitiert und eventuell ausgelassene Passagen durch runde Klammern mit drei Punkten gekennzeichnet (...). Wortbeiträge respektive Fragen meinerseits hebe ich im Text durch fette Schreibweise hervor, wodurch der Dialogcharakter erhalten bleibt. Teilnehmende Äußerungen von mir, die das konzentrierte Zuhören signalisieren sollten, habe ich weggelassen.

Auch Äußerungen bzw. Unterhaltungen, die mit dem Thema des Interviews nicht im Zusammenhang stehen - "Hintergrundgespräche"[33] ) - wurden nicht schriftlich festgehalten. Längere Gesprächspassagen habe ich in der Transkription durch Absätze sinnvoll gegliedert. Für die Analyse wurden die Texte in Einheiten zerlegt, die den biographischen Abschnitten der Lesesozialisation im Lebenslauf entsprechen, und im Kontext mit theoretischen Ausführungen zitiert.

Die lebensgeschichtlichen Interviews werden von mir ferner unter der Fragestellung analysiert, ob sich aus individuellen Lebensläufen kollektiv bedeutsame Handlungsstrukturen und Parallelen der Lesesozialisation und -erziehung erkennen lassen.

Zur Bestimmung dieser Parallelen greife ich auch auf Albrecht Lehmanns Konzept der "Leitlinien des Erzählens" zurück. Er stellte bei der Erhebung mündlich erzählter Lebensläufe fest, daß "eine erzählte Ereignisfolge als Teil einer übergreifenden Erzählstruktur - als Teil der gesamten Chronologie eines erzählten Lebens - (als) Leitlinie des lebensgeschichtlichen Erzählens zu begreifen ist".[34] )

Primär handelt es sich beim lebensgeschichtlichen Erzählen um persönliche Erfahrungen, es können aber durchaus sekundäre Erfahrungswelten anderer Menschen - tradierte Erlebniskonstellationen - einfließen. Derartige Strukturierungen im Sinne der oben angeführten "Leitlinien des Erzählens" werden auch in den von mir durchgeführten Interviews deutlich. Der Begriff der "Leitlinien" bezieht sich dabei auf Gedanken- und Erinnerungsstränge, die sich wiederholen und zeigen, inwieweit das Erzählte Teil eines kollektiven gesellschaftlichen Bewußtseins ist. Darüber hinaus sind die aufzuspürenden Leitlinien in Zusammenhang mit der Lesesozialisation weniger politisch oder gesellschaftlich orientiert als vielmehr an den Stationen der persönlichen Lesebiographie ausgerichtet. Dazu gehören die Erinnerungen an die frühe Kindheit, die lesespezifische Atmosphäre im Elternhaus, die Schule und die Erwartungen, die von diesen pädagogischen Instanzen an den Einzelnen herangetragen wurden.[35] )

In Unterscheidung zu gesellschaftlich vorgegebenen Lebensstationen und Leitlinien gibt es ferner die persönlichen Erfahrungen, die sich beim Erzählen über private Dinge als "private Erzählorientierungen" manifestieren. Es handelt sich dabei um Ereignisse und ihre Abfolgen, die das rein private Leben betreffen, wie z.B. die Entwicklung der Wohnverhältnisse oder alle Reisen, die man sich leisten konnte.

In den Interviews boten die über das Lesen hinausgehenden, lebensgeschichtlichen Details zu Beginn der Interviews den groben Rahmen für das Erzählen. Nachdem sie als grundsätzliche Sozialisationspunkte sozusagen "geklärt" waren, kam es zu den eher privaten Erzählorientierungen, die die Lesesozialisation und das Lesen im Lebenslauf betrafen.[36] )

Zu klären ist, ob in Bezug auf das Leseverhalten von einer Identität der Erinnerung bei interessengleichen Gruppierungen gesprochen werden kann, und ob Lesemotivation weniger auf der gezielten Ausrichtung der Lesesozialisation, als vielmehr auf persönlicher Entwicklung und

individuellen Interessen basiert. Die Leitlinien zeigen sich als Ergebnisse von Erfahrungen innerhalb lebenslaufspezifischer Entwicklungsphasen, auch bei fokussierten Themen wie der schulischen Lesesozialisation. Mehr oder weniger stark ergänzt wurden sie dann durch die rein privaten Erzählorientierungen. Eine dieser Leitlinien ist z. B. die Frage nach dem Erwerb der Lesefähigkeit, die auch in die Reihenfolge "subjektiver Chronologie" gehört. Prägend waren in den Erinnerungen z. B. an die Schulzeit das Lesenlernen, die Persönlichkeit der Lehrkräfte und das eigene Lern- und Auffassungsvermögen sowie die Art und Dauer des Schulbesuchs.

Zur besseren Kategorisierung teile ich die Angehörigen der Befragungsgruppe in drei Leser-Generationen auf, die über gemeinsame biographische Hintergründe verfügen. Dabei ist zu beachten, daß die jeweilige historische Zeit durchaus unterschiedliche Auswirkungen auf die Befragten einer Generation hat.[37] ) Dementsprechend erfolgte meine Unterteilung der Gewährspersonen in drei Generationen nach den Umständen und Bedingungen der Lesesozialisation und Medienerfahrung in Kindheit und Jugend, das heißt von der Einschulung bis etwa zum 14. Lebensjahr.

Auch die übergreifende Erfahrung des jeweiligen persönlichen Mediennutzungsverhaltens - in welcher das Leseverhalten integriert ist - wird von generationenspezifischen Profilen geprägt. Das kulturelle Muster "Lesen" hat sich verändert, weniger gemessen am Inhalt der Lesestoffe, als vielmehr an der Notwendigkeit und der Funktion des Lesens sowie der Beschäftigung mit Büchern oder bestimmten Lektürekenntnissen - dies wird an anderer Stelle noch deutlich werden.

Den angedeuteten Veränderungen der Funktionen des Lesens entsprechen auch divergierende Erfahrungen von Angehörigen verschiedener Lesergenerationen. Daher ist die von mir gewählte generationsbezogene Differenzierung als Rahmenvorgabe für die Beurteilung der differenten Formen von Lesesozialisation in den erfragten Lebensläufen sinnvoll.[38] )

2.1. Die fokussierten Interviews und die Auswahl der GesprächspartnerInnen

Die von mir geführten mehr als 60 Interviews fanden ausnahmslos in Hamburg statt. Um erste Kontakte zu knüpfen, habe ich mit den Gesprächen im weitläufigeren Bekanntenkreis begonnen und durch diesen dann zahlreiche weitere Interviewpartner gewonnen. Für deren Gesprächsbereitschaft war es bestimmend, daß ich den Personen, die mich vermittelten, bekannt war und durch diese einen guten Leumund hatte.[39] )

Ich erhielt mehrere Absagen, weil die Angesprochenen der Auffassung waren, sie hätten zu dem Thema "sowieso nichts zu sagen". Ich mußte den Informanten oft darlegen, daß es dabei nicht um eine Bewertung ihres Leseverhaltens ginge.

Auch Hinweise meinerseits, daß ich ja nicht ausdrücklich "Leser" suchen würde, konnten sie nicht umstimmen. Diese Verweigerung eines direkten Gesprächs über die eigene Lesebiographie läßt auf die nach wie vor gültige enge Konnotation des Lesens mit dem Bücherlesen bzw. dem Lesen von längeren Texten und einem damit gekoppelten Verständnis von Bildung schließen. Niemand sollte von mir zu einem solchen Gespräch genötigt werden, so daß ich bei Verweigerungen eines Interviews zwar noch einmal nachgefragt, aber nie versucht habe, die Menschen zu überreden, gegen ihren Willen etwas zu diesem Thema sagen. Einge führten an, der Zeitaufwand sei ihnen zu groß, sie wollten die Leitfragen lieber schriftlich beantworten, was sie dann zum Teil auch recht ausführlich taten. Die Ergebnisse dieser schriftlichen "Interviews" habe ich den Resultaten eines vorher von mir durchgeführten "Pretests" hinzufügt, die ich als verifizierendes Hintergrundmaterial einbeziehe.[40] )

Weil in der vorliegenden Arbeit vor allem Lebensbedingungen in der Großstadt erforscht werden sollen, stammen mehr als Dreiviertel meiner Interviewpartner/Innen aus dem großstädtischen Raum. Das restliche Viertel hat den überwiegenden Teil des Lebens in der Großstadt verbracht. Ich wählte diese Gesprächspartner bewußt, um auch Aussagen über die Frequentierung und Nutzung des Angebotes städtischer Bibliotheken, des Buchhandels und anderer kulturell orientierter Einrichtungen zu erhalten.[41] )

Für alle Beteiligten war dies die erste Konfrontation mit lebensgeschichtlicher Erinnerung zum Themenkomplex Lesesozialisation, die über den engsten Familienkreis hinausging. Die Eltern unter den Befragten hatten sich zwar - auf Nachfrage ihrer Kinder hin - immer wieder einmal an einzelne Begebenheiten, Zusammenhänge oder Ereignisse erinnert. Zu der von mir angesprochenen Thematik der eigenen Lesebiographie aber, die sich als ein selten oder nie abgefragtes Gebiet entpuppte, gab es mit der präzisen Erinnerung in einigen Fällen Probleme - ein Hinweis darauf, daß innerhalb der eigenen Lebensgeschichte die Themenkomplexe "Lesen und Lesesozialisation" sowie "Mediennutzung" eher als nebensächlich eingeordnet werden.

In der Erinnerung an das Lesen und gerade auch das Vorlesen erzwingt die Rückbesinnung auf entsprechende Situationen zugleich eine Rückschau auf Phasen des eigenen Lebens, besonders auf die Kindheit. Bedingt durch die sozialen Verhältnisse und zeitlichen Kontexte, in die meine Gesprächspartner jeweils hineingeboren wurden, stellte sich diese Lebensphase nicht immer als eine glücklich empfundene Zeit dar. Die Erinnerung führte die Informanten auch auf elementare Entwicklungsstufen und -voraussetzungen, zum Beispiel für ihren späteren beruflichen Werdegang, zurück.

Ich beabsichtigte ursprünglich, ein nach sozialer Herkunft gemischtes Spektrum von Interviewpartnern zu befragen, um auszuschließen, daß ein tradiertes Bildungsideal die Ergebnisse meiner Untersuchung zu stark bestimmen würde. Diese Absicht ließ sich mit dem Anliegen, ein Interview zu führen, so nicht ausschließlich realisieren und ich beschränkte mich darauf, möglichst wenig Akademiker zu befragen, bzw. bevorzugte solche, die erst über den Zweiten Bildungsweg studiert hatten.

Unter den Befragten der ersten Generation sind Handwerker, untere Beamte und Akademiker. In der zweiten Generation finden sich mehrere Befragte mit Mittlerer Reife und Abiturienten, die nicht studierten, die Schulabschlüsse der dritten Generation bestehen ebenfalls heterogen aus der Mittleren Reife und dem Abitur ( Vgl. Tabelle 1).[42] )

Die Ergebnisse der Auswertung zeigten, daß die Mischung verschiedener Bildungsmilieus innerhalb einer Generation durchaus gerechtfertigt ist und keine willkürliche Auswahl darstellt, weil bereits die jeweilige Interviewbereitschaft eine generationstypische Einstellung zum Lesen widerspiegelt.

2.2 Die drei Lesergenerationen und ihre historischen Kontexte 1929 bis 1996

Von denjenigen, die sich zum Interview bereit erklärten, wurden letztendlich mehr als 60 Personen zwischen 20 und 67 Jahren von mir befragt und in drei "Lesergenerationen" aufgeteilt: Die erste umfaßt die Geburtsjahrgänge 1929-1949, deren Kindheiten und Jugend weitgehend in das Dritte Reich oder in die direkte Nachkriegszeit fiel; die zweite besteht aus den Jahrgängen 1950 bis 1960, die in den Anfängen der Bundesrepublik groß wurden; und zur dritten Lesergeneration zähle ich die Jahrgänge 1960 bis 1970, die bereits in einer erstarkenden wirtschaftlichen Stabilität aufwuchsen. Nutzten die Mitglieder der ersten Generation noch als Jugendliche und junge Erwachsene neben Printmedien vorwiegend Radio und Plattenspieler, so wuchsen die Angehörigen der zweiten Generation mit mehreren audioivisuellen Medien auf und lernten Tonbänder sowie bald auch den Fernseher zu nutzen. Die dritte Generation, die Jahrgänge 1960 bis 1970, hatte bereits mit einem umfangreichen Medienenangebot Kontakt, das Farbfernsehen, Kassetten- und Videorecorder sowie die ersten Personalcomputer einschloß.

In der Generation der über 50jährigen hatte ich kaum Probleme Gesprächspartner zu finden, denn fast alle Angesprochenen stimmten einem Interview sofort zu. Lediglich diejenigen, die nach ihrer Selbsteinschätzung "nicht lesen", mochten nur ungern Auskunft geben.

Unter den Jahrgängen 1950-60 (zweite Generation) war die Auskunftswilligkeit derer am größten, die über den Schulabschluß Abitur verfügten. Auch in dieser Gruppe wollten sich Menschen, die von sich selbst sagen, "daß sie keine Bücher lesen", nur ungern befragen lassen. Die Angehörigen der Generation der Geburtsjahrgänge 1960 - 1970 schienen dagegen, auf das Thema Lesen angesprochen, über ein größeres Selbstbewußtsein zu verfügen, denn auch unter ihnen erhielt ich keine Absagen für ein Interview.

Ich wählte bewußt Informanten, die mit ihren Erinnerungen dazu beitragen konnten, eine persönliche, aber zugleich in vielen Aspekten kollektive Geschichte der familiären und institutionellen Lesesozialisation seit 1935 zu untersuchen. Um hierzu aussagekräftige Zeugnisse zu erhalten, mußten meine Gewährsleute zumindest fähig sein, reflektierend auf ihre Lebensgeschichte zurückzublicken, sich verständlich zu artikulieren und die Kulturtechniken Lesen und Schreiben beherrschen.

Die erste Generation (Geburtsjahre 1929-1949)

Die erste Generation der von mir Befragten, die zwischen 1929 und 1949 Geborenen, erlebte je nach Geburtsjahr ihre Kindheit und Jugend noch während des Dritten Reiches und zum Teil als Flüchtlinge in der Nachkriegszeit während der ersten Jahre des Wiederaufbaus. Ihre schulischen Voraussetzungen und die zur Verfügung stehenden Bildungsmittel und Medien waren dadurch nicht immer einheitlich, sind aber in Abgrenzung zu den beiden jüngeren Generationen als recht speziell anzusehen. Die älteren Angehörigen dieser Generation hatten, soweit sie bereits im Schulalter waren, nach dem Krieg einen Nachholbedarf, auch an kulturellen Dingen wie Büchern und Kino. Doch zunächst gab es für alle nur eine stark begrenzte neue Auswahl und den Rückgriff auf noch Existierendes (besonders auch im Schulbuchbereich). Bedingt durch eine Flucht oder Ausbombung der Familie standen in zahlreichen Haushalten manchmal nicht einmal mehr alte Buchbestände zur Verfügung.

Erweitert wurde das Angebot erst, als die Lizensierungspflicht für die Verlage von Seiten der Alliierten gelockert und 1949 schließlich aufgehoben wurde. Eine erweiterte Literaturproduktion kam Ende der 40er Jahre durch die Anfänge einer neuen Buchindustrie auf den Markt. Als der Rowohlt-Verlag im Jahre 1947 die Produktion der ersten "Rotationsromane" aufnahm, wurden Bücher für viele erstmals finanziell erschwinglich.[43] )

Doch nicht nur die Offerten an käuflich zu erwerbenden Bücher veränderten sich, auch die Ausleihsysteme wandelten sich gravierend. Die gewerblichen Leihbüchereien - oft gekoppelt mit einem Schreib- oder Tabakwarenhandel -, die bis dahin vor allem im großstädtischen Raum die Möglichkeit der Bücherausleihe boten, verschwanden bis zum Ende der 50er Jahre nahezu völlig, so daß die für sie produzierenden Verlage die Absatzmärkte für ihre Produkte verloren. Die Billig-Produktion für ein kleinbürgerliches Publikum war stark an die knappe ökonomische Gesamtsituation in den Anfangsjahren der Bundesrepublik gebunden. Ein Ersatz für diese Verlage und ihre Vertriebsstellen waren die Buchgemeinschaften, die für viele Bundesdeutsche zur neuen Quelle für Lesestoffe wurden. Entsprechend eroberten die Buchgemeinschaften große Anteile des Marktes für gehobene Unterhaltungsliteratur. Die Buchvielfalt in Form von populären Reihen und Angeboten erweiterte sich beständig, und auch im Rahmen der Buchklubangebote erreichte die Beliebtheit der populären Sachbücher in den 60er Jahren ihren ersten Höhepunkt. Blieb das literarische Spektrum für Interessierte bis dahin überschaubar, so eröffneten sich mit den Buchgemeinschaften neue Möglichkeiten. Da der Buchbesitz nach wie vor zum "guten Ton" und einem angestrebten höheren gesellschaftlichen Status gehörte, verschafften sich viele über diese Mitgliedschaften einen Grundstock aus der angebotenen Literatur.[44] )

Anfang der 50er Jahre kam es neben der steigenden Buchproduktion zu einem Gründungsboom großer und kleiner Heftroman-Verlage. Die Massenliteratur in Form von "Groschenheften" konsolidierte sich als separater Bereich der Literatur.[45] )

Die Orientierung in der Literaturauswahl und Literaturvermittlung für den Schulunterricht dieser Zeit war zunächst noch von der Tendenz her rückwärtsgewandt und konservativ. "Für die Gesamttendenz der literarischen Kultur in der Adenauerzeit ganz entscheidend, war zweifellos die Ausrichtung des Literaturunterrichtes in den Schulen verantwortlich. Sie kann nur als extrem restaurativ, ja geradezu reaktionär bezeichnet werden."[46] ) Manche Lesebücher stellten nur notdürftig bereinigte Neuauflagen von Bänden dar, die auch vor 1945 benutzt worden waren. Die Lehrpläne knüpften an die Vorstellungen der 20er Jahre an.[47] ) "Dichtung als der Hort höherer Werte", das war die allgemeine Auffassung von der Aufgabe des Literaturunterrichtes, in dessen Rahmen es undenkbar schien, sich mit quantitativ dominanten populären Lektüren wie Heftromanen, billiger Unterhaltungsliteratur, Bestsellern oder populären Sachbüchern zu befassen.

Neben den Printmedien stellte das Radio in den 50er Jahren ein wichtiges Medium zum Zwecke der Unterhaltung und Information dar. Das Hörspiel erlebte bis in die 60er Jahre hinein seine glanzvollste Zeit und wurde früh Bestandteil des entstehenden Gefüges von Massenmedien.

Bereits gegen Ende der 5oer Jahre begannen ehemalige Radiohörer den sonst allabendlichen Hörfunk-Empfang durch das Fernsehen zu ersetzen. Der Rundfunk wurde zunehmend in einer Form des "nomadisierenden Hörens", also nebenbei, rezipiert.[48] ) Analog zum Hörspiel sollten Fernsehspiele möglichst heiter und spannend sein, ohne gehobene literarische oder inhaltliche Ansprüche. Parallel dazu verlagerten sich auch die Literaturadaptionen und -präsentationen in das neue, zum Leitmedium aufgestiegene Fernsehen, das viele Menschen als neues Freizeitmedium - vor allem im Bereich der Unterhaltungssendungen - begrüßten."[49] ) Rasch verlangte das Publikum nach weiteren Sendungen, so daß die einsetzende Programmerweiterung- und verschiebung nicht über eine Verdrängung der Informationssendungen, sondern über die Ausdehnung des Programmvolumens insgesamt verlief.[50] )

Die zweite Generation (Geburtsjahre 1950-1960)

Für die ab 1950 Geborenen, die zweite Lesergeneration, ergaben sich in der frühen Kindheit und ersten Schulzeit nur bedingt gravierende Veränderungen im Medienangebot. Die ersten Schüler dieser Generation wurden 1955 und 1956 eingeschult. Der Unterricht fand regelmäßig statt, allerdings standen noch zahlreiche überalterte Lehrkräfte im Dienst und auch die Schulbücher waren noch lange nicht alle aktualisiert, ein Vorgang der bis in die 60er Jahre hinein andauerte. Das Medienangebot entsprach zunächst dem der ersten Generation, erweiterte sich aber allmählich, indem die Buchproduktion, gerade auch für Kinder und Jugendliche, immer umfangreicher und vielfältiger wurde. Der Großteil der Haushalte war bis zum Beginn der 60er Jahre mit einem Fernseher ausgestattet. Für das Jugendalter dieser Informanten bedeutete der mit dem Wirtschaftswachstum einhergehende gesellschaftliche Wandel eine wichtige Möglichkeit, auch im kulturelle Bereiche eigene Vorstellungen zu realisieren und sich so vom Elternhaus zu distanzieren. Sie waren die ersten, für die Konsum- und Freizeitinteressen zu zentralen Lebensinteressen wurden.[51] )

Diese neuen Tendenzen der Jugendkultur spiegelten sich bei meinen Informanten erst in den Aussagen der jüngeren Befragten der zweiten Generation wider. Unter den vor 1955 Geborenen konnte sich niemand erinnern, die "Bravo" gekauft zu haben. Ihre ersten Kindheitsjahre waren von relativ homogenen Medienerfahrungen geprägt. Die Beschäftigung mit Büchern werteten sie in der Regel positiv und verbanden fast unisono das Lesen mit einer Auffasung von Bildung, die die Lektüre von Büchern als etwas Selbstverständliches mit einschloß. Diejenigen, die in den ersten Jahren nach Kriegsende und der Zeit des "Wirtschaftswunders" geboren wurden, haben in der Regel noch Zeiten großer finanzieller Engpässe in den Familien erlebt. Häufig mußten beide Elternteile arbeiten, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern.

Geprägt waren diese Jahre vom Bemühen der Eltern um eine Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse und einer damit verbundenen emsigen Geschäftigkeit, Sparsamkeit und Genügsamkeit.

Da einige der Angehörigen der zweiten Generation bereits Ende der 60er Jahre, andere aber erst ein Jahrzehnt später zehn Jahre alt waren, wuchsen sie im Zuge der raschen Entwicklungen zum Teil bereits in differierenden gesellschaftlichen und medialen Kontexten mit unterschiedlichen Lese- und Medienerfahrungen auf. Zu den Medien, die ihnen vertraut waren, gehörte zunächst das Radio und erst später der Fernseher. In einigen Familien gab es schon die ersten Plattenspieler (Musikmöbel). Das Kino stellte ein wichtiges außerhäusliches Medium dar, da es zugleich die Möglichkeit zur Kommunikation und Geselligkeit mit Freunden bot. In den wenigsten Familien wurde bereits kurz nach der Einführung des Fernsehens ein Fernsehapparat angeschafft - zahlreiche Familien konnten sich den Erwerb erst in den frühen 60er Jahren leisten.

Ende der sechziger Jahre begannen die Studentenunruhen, und die neuen reformpädagogischen Ansätze für das Schulsytem wurden umgesetzt. Für die Älteren in dieser Befragungsgruppe stellten die Entwicklungen der 60er Jahre so bereits eine Möglichkeit der Emanzipation vom Elternhaus dar. Wie auch bereits für einige der Jüngeren der ersten Generation, waren für sie die Trends der Kulturindustrie wichtig. Die Ablösung vom Elternhaus erfolgte "zusehends über den lustbetonten Bereich der Freizeit und (... neben) der Familie wurde der Freizeitbereich ein wichtiges Terrain."[52] )

Neben ansteigenden Fernseh- und Rundfunkangeboten fand auch auf dem Buchmarkt eine stete Erweiterung statt, und in der ständig expandierenden Buchproduktion waren populäre Sachbücher, Romane und Ratgeberliteratur besonders beliebt. Neben Taschenbuch- und Paperbackausgaben für Erwachsene erschienen die ersten Taschenbuchreihen für Kinder und Jugendliche.[53] ) Die Buchgemeinschaften und Buchklubs warben nach wie vor um Mitglieder und erweiterten ihr Angebot auf populäre Wissenschaft, Ratgeber, Kinder- und Jugendbücher sowie Schallplatten, Schreib- und Geschenkartikel.

Die dritte Generation (Geburtsjahre 1960-70)

Wiederum völlig anders und stark erweitert präsentierten sich die Medienangebote und -kontexte, in die die Befragten der dritten Lesergeneration hineinwuchsen. Ihre gruppenübergreifende Gemeinsamkeit ist, daß sie fast alle in einem Haushalt mit Fernsehgerät und kontinuierlich expandierendem Medienangebot lebten. Einige unter ihnen konnten ihre primären Buch- und Leseerfahrungen bereits mit neu konzipierten Bilderbüchern machen. Ihre ersten Fernsehkontakte wurden zunächst durch drei, später mehrere Programme, als Folge der Erweiterung durch Kabelanschlüsse und Satellitensender geprägt.

Die Buchproduktion erreichte in Menge und Angebotsvielfalt etwa 1980 einen ersten Höhepunkt. Zeitungen und besonders Zeitschriften präsentierten sich zum Teil in neuem Layout. Empfanden die Älteren dieser Generation die ersten Personalcomputer noch als revolutionäre Novität, avancierten sie für die Jüngeren bereits zum selbstverständlichen Bestandteil ihres Mediengebrauchs. Zu den immer häufiger vertretenen elektronischen Abspielgeräten gehörten für sie Videogeräte und Kassettenrecorder. Auch die neuen Techniken der Vorläufer heutiger "Camcorder" und Videokameras, die Super-8 Filme, fanden bei Hobbyregisseuren eine immer größere Verbreitung.[54] )

Kennzeichnend für die familiale Situation dieser Generation ist eine weitgehende finanzielle Sicherheit, infolge eines starken wirtschaftlichen Aufschwungs. Somit wuchsen eigentlich alle Befragten dieser Generation zumindest in bescheidenem Wohlstand auf. Die erste Wirtschaftskrise Anfang der 70er Jahre wirkte sich auf die Erinnerungen meiner Befragten nicht aus, bzw. wurde in bezug auf die Lesebiographie und das ihnen zugängliche Medienangebot kaum registriert. Größere Meinungsfreiheit und Pluralität prägten das gesellschaftliche Denken, was sich auch auf die Konzepte aller Schularten auswirkte. Mitte der siebziger Jahre absolvierten die ersten Abiturienten ihre Hochschulreife bereits nach dem Prinzip der "Reformierten Oberstufe".

Die kulturellen Angebote erweiterten sich für die Jugendlichen durch Programmkinos, Diskotheken, Jugendclubs und verbilligte Theaterkarten. Auch das Reisen junger Menschen wurde allmählich zur Selbstverständlichkeit (inter-rail-tickets). Innerhalb der Familien meiner Informanten wurde eine Reise pro Jahr nahezu Standard und so kamen die Befragten der dritten Generation anläßlich der Familienurlaube bereits in jungen Jahren viel häufiger ins Ausland als die Angehörigen der ersten und auch noch teilweise der zweiten Generation.

Auffällig sind Überschneidungen in den Erfahrungswelten des Lesens und der Mediennutzung bei den jüngeren der ersten Generation mit denen der älteren der zweiten Generation. Bei ihnen überwiegt noch die Zuwendung zu schriftlichen Medien. Hingegen orientierten sich die jüngeren Befragten der zweiten Generation und die Befragten der dritten Generation bereits sehr stark an den neuen medialen Entwicklungen wie Personalcomputer und digitale Übertragungstechniken. Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Interviewphase, Mitte 1996, hatte erst einer der Befragten Kontakte mit dem "internet", und lange nicht alle verfügten in ihren Privathaushalten über einen Computer. Am Arbeitsplatz wurden allerdings fast alle Befragten mittlerweile mit der Arbeit am Personalcomputer konfrontiert.[55]

Wie die von mir Befragten ihre Lesesozialisation erlebten und welchen Stellenwert das Lesen in ihren Lebensläufen einnimmt, wie sich ihr Leseverhalten und ihre Leseabsichten im Lebenslauf verändern und unter welchen Konditionen sich Lesen überhaupt etabliert, wird in den folgenden Kapitel untersucht. Dabei stehen zwar die Aussagen aus den Interviews im Mittelpunkt, werden aber stets unter der Berücksichtigung wissenschaftlicher Sekundärliteratur interpretiert und analysiert.

Dabei geht es mir weniger um Repräsentativität - dafür ist die Anzahl der Befragten zu gering -, sondern vielmehr um einen interpretativen Zugang zum Selbstverständnis der Informanten. Die jeweilige Lesesozialisation soll so auch unter dem Aspekt betrachtet werden, unter welchen Konditionen sie als Schlüssel für habitualisiertes Lesen

gelten kann. Die Motive und Einstellungen zum Lesen lassen sich demographisch nicht auszählen, sondern lediglich darstellen und interpretieren. Jenseits von Statistiken wird danach gefragt, welchen Stellenwert das Lesen im Leben der Menschen unterschiedlicher Lesergenerationen hat. Wie konstruieren sie im Zusammenhang mit dem Lesen bestimmte Erfahrungs- und Sinnwelten, warum und wie nutzen sie Lesemedien?

Den mehr als 60 Interviewpartnerinnen und -partnern gehört mein Dank. Sie haben bisweilen sehr persönliche Dinge preis gegeben und mir vertraut, ohne genau zu wissen, was ich mit den Interviews anfangen würde. Ohne ihre Auskunftswilligkeit hätte ich das Basismaterial für die vorliegende Arbeit nicht erstellen könnnen.

 

Fußnoten:

[1])Fritz, Angela; Suess, Alexandra: Lesen. Die Bedeutung der Kulturtechnik Lesen für den gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß. Konstanz 1986a. S.118.

[2])Fuchs, Werner: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen 1984. S.142.

[3])Pfeil, Elisabeth: Großstadtforschung. Entwicklung und gegenwärtiger Stand. Hannover 1972 (2. neubearb. Auflage).

[4])Freudenthal, Herbert: Vereine in Hamburg. Ein Beitrag zur Geschichte und Volkskunde der Geselligkeit. Hamburg 1968. Lehmann, Albrecht: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M. und New York 1983. hier S.49/50: Lehmann weist darauf hin, daß sein Untersuchungs-Sample ganz bewußt auf die Großstadt beschränkt ist, weil es dringend erforderlich sei, volkskundliche empirische Untersuchungen endlich großstädtisch lebenden Populationen zu widmen.

[5])Dabei ist stets zu berücksichtigen, daß "Biographien (...) Selbstbeschreibungen von Individuen im Kreuzungsbereich gelebter Lebensgeschichte und gelebter Gesellschaftsgeschichte (sind)." Fischer-Rosenthal, Wolfram; Alheit, Peter (Hrsg.): Biographien in Deutschland. Soziologische Rekonstruktionen gelebter Gesellschaftsgeschichte. Opladen 1995. Hier S.44.

[6])Fuchs, wie Anm. 2, S.135: Er weist darauf hin, daß durch die Erweiterung des Sozialisationsbegriffes auf eine lebenslange Gültigkeit statt der Sicht als eine auf Kindheit und Jugend beschränkte Phase die grundsätzlichen Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Bereich der Sozialfoschung und Persönlichkeitspsychologie geschaffen wurden. S.127: Die "althergebrachte Arbeitsteilung zwischen Jugendsozialisation, Soziologie des Erwachsenen und Alterssoziologie" ist heute weitgehend nivelliert.

[7])Vgl. Berger, Peter; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M. 1984. Auf ihrem Konzept zur Konstruktion der Wirklichkeit durch die Gesellschaft basieren meine Ausführungen zur Sozialisation im IV. Kapitel.

[8])Die soziologische Forschung wurde so um die Soziologie des Lebslaufs ergänzt. Besonderen Niederschlag fand die Biographische Methode unter den Historikern. Hier erlebte sie als "Oral History" ihre große Blütezeit, die den Anfang einer Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung, die ausdrücklich an den Lebenserinnerungen der "kleinen Leute" interessiert war, darstellt. Vgl.u.a. die von Lutz Niethammer herausgegebenen Bände und Titelangaben in der Bibliographie.

[9])Fuchs, wie Anm. 2, S.139.

[10])Darunter sind insbesondere Tagebücher, schriftliche Erinnerungen, Fotos, historische Aufzeichnungen, Aktensammlungen von Institutionen und Behörden zu verstehen.

[11])Auf den entscheidenden Vorschub, den die technischen Neuerungen in Form transportabler Aufnahme- und Widergabegeräte dieser Forschungsmethode gewährten, verweist auch Fuchs, wie Anm.2, S.132; Die Möglichkeit Gespräche aufzuzeichnen, bedeutete für die Forscher eine immense Erleichterung, indem man sich in der Erhebungssituation so ganz auf begleitende Fragen und Notizen konzentrieren konnte. Außerdem wird eine subjektive Färbung durch den Forscher, die bei den bis dahin üblichen Gedächtnisprotokollen nie auszuschließen war, noch weiter eingeschränkt.

[12])Lehmann, Albrecht: Erzählen eigener Erlebnisse im Alltag. Tatbestände, Situationen, Funktionen. In: ZfVK 74/1978. S. 198-215, hier S.199.

[13])Ehlich, Konrad (Hrsg.): Erzählen im Alltag. Frankfurt/M. 1980. Hier S.11-27.

[14])Lehmann, wie Anm. 4; Schröder, Hans-Joachim: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählungen im Interview. Tübingen 1992. Er führt das von Lehmann entwickelte Konzept der Leitlinien des Erzählens weiter und begründet damit seine Theorie zur Erforschung narrativer Interviews in der Literaturwissenschaft; Nolthenius, Rainer: Alltag, Traum und Utopie. Lebensgeschichte als Lektüre und Mediengeschichte am Beispiel von zwei Angehörigen der Arbeiterbewegung. Unveröff. Manuskript Recklinghausen 1988.

[15])Lehmann, Albrecht: Autobiographische Methoden, Verfahren und Möglichkeiten. In: Ethnologia Europea 11/1979-80. S. 36-54, hier S.40. "Auf diesem Wege paßt sich die Forschung den Gepflogenheiten und Gewohnheiten der untersuchten Menschen an und bezieht deren im Alltag verbreitete Artikulationsweisen in ihr methodisches Instrumentarium ein."

[16])Fischer-Rosenthal, Wolfram; Alheit, Peter (Hrsg.): Biographien in Deutschland. Soziologische Rekonstruktion gelebter Gesellschaftsgeschichte. Opladen 1995. S.14.Auch hier wird auf die Subjektivität des biographischen Quellenmaterials verwiesen, das selbstverständlich im Forschungsvorgehen vor dem Hintergrund fest belegbarer Daten, wie historischen Eckdaten und sozialen Rekonstruktionen stattfinden muß. Die Subjektivität biographischen Materials wird auch von mir nicht bestritten, aber Aussagen über die Lebensweisen der sozialialen Unter- und Mittelschichten sind zum Teil nicht anders zu erbringen, als die Betroffenen selbst "sprechen" zu lassen. Der Gewissenhaftigkeit des Forschers unterliegt es das Material entsprechend zu analysieren und in Verknüpfung mit wissenschaftlichem Basismaterial zu interpretieren. Für meine Untersuchung impliziert dies, daß die Einteilung der Generationen und damit der Aussagen der Befragten, anhand der gesellschaftlichen Voraussetzungen der Lesesozialisation, wie dem Schulsystem sowie der Entwicklung bzw. dem verfügbaren Angebot an Print- und audiovisuellen Medien erfolgte.

[17])Die Probleme von Erhebungen und Auswertungen ähneln sich dabei interdisziplinär in volkskundlichen, historischen oder soziologischen Arbeiten. Vgl. Fuchs, wie Anm. 2, S.126: "Manche Projekte nutzen Fragestellungen und Verfahren aus beiden Diskussionslinien, sind im Schnittbereich von Oral History und soziologisch-biographischer Forschung angesiedelt."

[18])Durch die Erforschung sozialer Aspekte und subjektiver Motive für bestimmte Handlungsweisen, unter der Berücksichtigung gesellschaftlicher wie historischer Dimensionen, ist die Biographieforschung für die volkskundlichen Bewußtseinsforschung wichtig. Vgl. Lehmann, Albrecht: Autobiographische Erhebungen in den sozialen Unterschichten. Gedanken zu einer Methode der empirischen Forschung. In: ZfVK 73/1977. S. 161-180, hier S.179/180. Er weist darauf hin, daß lebensgeschichtliche Dokumente dazu beitragen können: die "Genese des Bewußtseins des Durchschnittsmenschen (...)" sowie die "Wirkung geschichtlicher Epochen und ihrer regionalen Erscheinungsweisen (...)" darzustellen, sowie "(...) Verlaufsformen 'durchschnittlicher' Biographien (...) und milieuspezifisches Sprachverhalten (...)" zu ergründen.

[19])Die Fachliteratur zum Interview und zur damit einhergehenden biographischen Methode wird von Hans-Joachim Schröder sehr detalliert aufgearbeitet. Ders., wie Anm. 14. Die Arbeit beinhaltet eine umfangreiche Bibliographie zum Thema. Für Schröder "...erweist sich das Interview als ein Instrument, dessen Bedeutung zur Erforschung alltagsweltlicher und lebensgeschichtlicher Strukturen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann". Ebda., S.12. Speziell zum fokussierten Interview siehe Merton, Robert K.; Kendall, Patricia L.: Das fokussierte Interview. In: Hopf, Christel; Weingarten, Elmar (Hrsg.): Qualitative Sozialforschung. Stuttgart 1979. S.171-204.

[20])Fuchs, wie Anm. 2, S.179 "Ein Leitfaden soll, neben der im Unterschied zum standardisierten Interview möglichen Offenheit des Gesprächs, einen Grundstock von an alle Befragten in etwa gleicher Weise gestellten Fragen garantieren, ein Minimum an Vergleichbarkeit sichern."

[21])Lehmann, wie Anm. 18, S.164: Seine Hinweise zur mündlichen Befragung in den sozialen Unterschichten erweisen sich für die Art der Gesprächssituation auch auf Angehörige mittlerer sozialer Schichten als anwendbar und sinnvoll.

[22])Meine Informanten hatten zuvor noch niemals jemandem außerhalb des eigenen Familienkreises so ausführlich über einen Teilaspekt ihrer Biographie berichtet. Es handelt sich also durchweg um "ungeübte Erzähler". "Zur Erzählerpersönlichkeit" siehe Lehmann, wie Anm. 18, S.166 f. und S.169: Er verweist dort auf Henßen, der bewußt eine seiner eigenen Bevölkerungsschicht überlegene "Erzählerpersönlichkeit" als Gewährsperson wählte.

[23])Vgl. Fuchs, wie Anm. 2, S.182: "Durchweg besteht die Aufgabe des Interviewers darin, den Informanten zu motivieren und in die Lage zu versetzen, seinen thematisch relevanten Erfahrungsschatz möglichst vollständig zu explizieren. Nicht zuletzt wird durch diese offene Vorgehensweise auch der gesamte Forschungsprozeß relativ lange variabel gehalten und zwingt den Forscher zur Flexibilität bei der Hypothesenbildung. Der Forschungsprozeß kann - da das "lebendige" Material durchaus Überraschungen bergen kann - erst am Ende der Erhebungen und Analysen als abgeschlossen gelten.

[24])Vgl. Lehmann, wie Anm. 14, S. 53/54. Auch er betont, daß Gesprächsführung und Gesprächsverlauf grundsätzlich dargestellt werden müssen, weil sie in einem unmittelbaren Verhältnis zum Ergebnis der gesamten Untersuchung stehen. Die Gesprächspartner brauchen Anlaufzeit, danach erzählen sie sehr flüssig. Negativ wirken sich Abneigungen zwischen Hörer und Sprecher aus (S.55/56).

[25])Da der Themenkomplex Lesen während des Erinnerungsprozeßes durchaus zum "Abschweifen" einludt, habe ich längere Inhaltsangaben von Büchern oder Kinofilmen aufgezeichnet und protokolliert, aber nicht immer vollständig transkribiert.

[26])Fritz, Angela: Was ist Lesen. Orientierungsstudie zur Analyse des Leseverhaltens in Österreich. Wien 1987. S.54/55. Berg, Klaus; Kiefer, Marie-Luise: Massenkommunikation V. Eine Langzeitstudie zur Mediennutzung und Medienbewertung 1964-1995. Baden-Baden 1996. Vgl. auch Kapitel I und II der vorliegenden Untersuchung.

[27])Diese habe ich dann jeweils wortgetreu notiert und den transkribierten Interviews als "Nachtrag" beigefügt.

[28])Lehmann, wie Anm. 3, S. 173: Entsprechend Lehmanns Konzept können so einzelne Lebensabschnitte als Leitlinien des Erzählens gedeutet werden. Dazu gehören Schule, Berufsausbildung, Familiengründung, Kriegszeiten. Auch wenn die Erzähler ihre Lebensgeschichte nach eigenem Ermessen gestalten konnten, so handelt es sich doch um subjektive Reaktionen auf Ergebnisse der "kanonisierten" Historiographie.

[29])Schröder, wie Anm. 14, S. 89/90: Zur Lesbarkeit von Texten; Zum Katalog von Transkriptionsregeln: S.91-96.

[30])Ebda., S.139: "Die Eigenart des alltäglichen Erzählens erschließt sich der Forschung am ehesten dort, wo in der Transkription des Gesprochenen auf redigierende Eingriffe weitgehend verzichtet wird."

[31])Ebda., S.84: Zur Frage nach einer sprachlichen Gestaltung der Inhalte gilt für mich, was Schröder konstatierte: "daß die Umgangssprache in den Formen ihrer Satzbildungen und Sequenzen, in ihrem 'Stil'oft genug eine bemerkenswerte Lebendigkeit besitzt, eine Vielgestaltigkeit und Differenziertheit, die in der Transkription zu erhalten sich lohnt."

[32]) Ebda., S.95.

[33])Schröder, wie Anm. 14, S.94.

[34])Lehmann, wie Anm. 4, S.19: "Eine Leitlinie des Erzählens als Teil der gesamten lebensgeschichtlichen Erzählstruktur zeigt sich als Strang mehrerer aufeinander bezogener Ereignisse". Vgl. auch S.20: Dabei ist zu berücksichtigen, daß "eine lebensgeschichtliche Gesamterzählung (...) im allgemeinen aus einer Fülle von Leitlinien (besteht) (...) die sich fürs erste als subjektive Gliederungen der verflossenen Lebenszeit erweisen". Er hebt hervor, daß Leitlinien "vor allem ein heuristisches Modell, eine analytische Kategorie zur Erforschung von Lebensgeschichte" darstellen. Ebda., S.20. Sie können allerdings auch zu einem Leitfaden für den Biographen werden, zu einer Orientierung, der er planmäßig folgt, um seinen Darstellungen Ordnung und Kontur zu verleihen.

[35])Ebda., S.173. Erinnerungen an den eigenen Buchbesitz, an eine Bibliotheksnutzung, an die Schule wären dann entsprechende "teilkulturell spezifische Thematiken".

[36])Für das von mir verfolgte Forschungsziel ist die "Oral History", als eine möglichst präzise Beschreibung kollektiver historischer, gesamtgesellschaftlich bezogener Zeiträume und Entwicklungen demnach weniger bedeutsam, als vielmehr die Frage nach gemeinsamen Erinnerungen, die in den lebensgeschichtlichen Erzählungen als eine "subjektive Chronologie" zu finden sind. Lehmann, wie Anm. 4, S.279. Menschen bilden beim Erzählen eigene lebensgeschichtliche Chronologien, welche innerhalb von z.B. bestimmten Berufs- und Generationsgruppen im Erzählen des Lebenslaufs zu Leitlinien des Erzählens führen. Diese Leitlinien beziehen sich auf konkrete Sujets des Erzählten, ebenso wie auf die Strukturierung der Chronologie in der Erzählung. Die Gruppenzugehörigkeit dokumentiert sich über ein festes gleiches Empfinden zum Strukturzusammenhang des Lebenslaufs. Besonders prägnant ist dieses bei Generationen in deren Lebenslauf außergewöhnliche Ereignisse wie Krieg, Katastrophen, Verluste eingebettet sind.

[37])Zur Zusammengehörigkeit und Bestimmung von Generationen siehe auch: Plessner, Helmuth: Nachwort zum Generationsproblem. In: Ders.: Diesseits der Utopie. Frankfurt 1974. S.74-86. Hier S.82: "Und in dem Maße, in welchem das Lebensalter von der Gemeinsamkeit der Lebenssituation und diese wiederum von der einer Überzeugung in den Schatten gestellt wird, bildet sich innerhalb bestimmter Gruppen eine 'Generation' im geschichtlich faßbaren Sinne heraus".

[38])Vgl. Fischer-Rosenthal; Alheit, wie Anm. 16, hier S.70: "Es reicht nicht aus, die gemeinsamen historisch-gesellschaftlichen Konstellationen als generationsbildend anzusetzen, sondern ganz wesentlich sind die Eigenwahrnehmungen und Kommunikationen über Erlebtes in der innerfamiliären Generationsabfolge generationsbildend. Das heißt, welche Generationen wir unterscheiden, kann nicht einfach 'von außen' über die gesellschaftlichen Ereignisdaten benannt werden, sondern muß in empirischer Untersuchung aus der Erfahrungsperspektive rekonstruiert werden."

[39])Auf die Notwendigkeit, daß der Forscher sich den zu befragenden Personen erklären und bekannt machen sollte, speziell wenn eine längere Befragung geplant ist, sei hier nur kurz verwiesen.

[40])Von 100 Fragebogen mit den Leitfragen, die auch für das fokussierte Interview als Grundlage dienten, erhielt ich knapp 60 ausgefüllt zurück. Verteilt hatte ich diese an Personen, die den von mir gewählten Lesergenerationen entsprachen. Ihre Aussagen sind natürlich knapper als die Interviewinhalte, Tendenzen lassen sich aber in der Heranziehung dieser Ergebnisse bestätigen bzw. interpretieren.

[41])In Ergänzung hierzu stehen zwei Erhebungen per Fragebogen, die ich 1989 und 1993 in drei Hamburger Kindergärten unter den Eltern durchführte. Eine parallele Erhebung in Norderstedt führte nicht zu stark differierenden Angaben. Hier ist das Angebot der nahen Großstadt Hamburg selbstverständlicher Bestandteil des kulturellen Lebens. Zur Verfügbarkeit von Medien und der Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen für kleinstädtisch und dörflich lebende Jugendliche siehe auch: Baacke, Dieter; Frank, Günter; Radde, Martin; Schnitke, Manfred: Jugendliche im Sog der Medien. Medienwelten Jugendlicher und Gesellschaft. Opladen 1989. Bonfadelli, Heinz u. a.: Jugendliche und Medien. Frankfurt/M. 1986.

[42])Viele Angehörige der ersten Generation arbeiten in gänzlich anderen Berufszweigen und Sparten als ihr Lehrberuf oder ihre anfängliche Ausbildung es vorgaben. Viele konnten bedingt durch die Kriegs- und Nachkriegszeiten nicht die Ausbildung erhalten, die sie eigentlich anstrebten, bzw. die sie vom Intellekt und der familiären Förderung und Tradition her hätten leisten können.

[43])Diese Rotationsromane wurden zunächst im Din A 3 Format gedruckt und wie eine Zeitung gefaltet. Seit Ende der 50er Jahre sind Taschenbücher ein eigenständiger Vertriebssektor; 1951 erschien das erste Taschenbuch von Rowohlt auf dem Markt. Die gleichzeitige Freigabe der englischsprachigen Lizenzen begünstigte einen neuen Aufschwung der Buchindustrie. 1952 folgten weitere Taschenbuchausgaben der Verlage Fischer, List, Ullstein, Goldmann. Der 1959 gegründete "dtv-Verlag", war der erste, der ausschließlich literarische Taschenbücher verlegte. Vgl. Gollhardt, Heinz: Taschenbücher. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Literaturbetrieb in Deutschland. München 1971. S. 117-134.

[44])Leider fehlen für diesen Zeitraum bislang abgesicherte Untersuchungen über das Lesen in Unter- oder Mittelschichtsfamilien. Ebenso, wie es keine Sozialgeschichte der Nachkriegsliteratur gibt, die auf die Verwertungsrechte eingeht, die bis 1956 bei den Alliierten lagen, eine Bindung, die für die Verlage weitreichende Konsequenzen mit sich brachte. Zahlen über die reale Buchproduktion dieser Zeit sind ebenfalls sehr schwankend. Die noch bestehenden Verlage bemühten sich rasch darum, wieder unabhängig produzieren und drucken zu können.

[45])Um 1953 fand in der Verlagsbranche der Heftromanproduzenten ein Konzentrationsprozeß statt, dem zahlreiche kleine Verlage zum Opfer fielen. Bereits 1965 gab es nur noch sechs große Verlage für die Heftromanproduktion; im selben Zeitraum halbierte sich die Anzahl der angebotenen Serien und Reihen; allerdings stiegen parallel dazu die Auflagenhöhen. Vertrieben wurden diese fast ausschließlich über den Kiosk- und Schreibwarenhandel. Die Kritik verurteilte diese Heftreihen alsbald als schlechte, geradezu schädliche Lektüre, und im Rahmen der "Schmutz und Schund Debatten" wurde dieser Zweig der populären Literatur als minderwertig deklariert, ein Stigma, das sich lange hielt und bis heute noch nicht ganz ausgemerzt ist. Vgl. auch Bamberger, Richard: Lese-Erziehung. Wien und München 1973. S.354 ff. Ab 1957 begann auch die multimediale Verwertung dieser Produktion, zum Beispiel die Verfilmung von Serien, wie den "Perry Rhodan" Heften.

[46])Fischer, Ludwig: Zur Sozialgeschichte der westdeutschen Literatur. In: Schildt, Axel; Sywottek, Arnold: Modernisierung im Wiederaufbau. S.551-562. S.557; S.512. Zusätzlich integrierte man die Jugendlichen im Markt der Jugendkultur immer stärker als Konsumenten; S.501: "Die Kulturindustrie half somit den Jugendlichen bei ihrer kulturellen Emanzipation von den Eltern, und die Jugendlichen formten sich aus den Angeboten der Massenkultur ihre eigene 'popular culture'".

[47])Zeitgenössische literarische Werke, wie z.B. die von Berthold Brecht waren bis Ende der 50er Jahre im Deutschunterricht nicht vorgesehen.

[48])Schildt, Axel: Der Beginn des Fersehzeitalters. Ein neues Massenmedium setzt sich durch. In Schildt; Sywottek, wie Anm. 47, S.477-492. Hier S.486.

[49])Ebda., S.490 ff. Zunächst wurden Quizsendungen aus den USA importiert. Diese, wie auch die ersten Familienserien stießen auf große Begeisterung seitens der Zuschauer. "Mit Quiz, Kinospielfilm, volkstümlichen Mundart-Kommödien, den ersten Familienserien und den Kriminalfolgen sind die tragenden Bausteine der abendlichen Fernsehunterhaltung genannt." Allerdings waren dies nicht die einzigen Wünsche der Zuschauer, auch auf Information wurde großen Wert gelegt, so daß seit dem 1.10.1956 die Tagesschau täglich gesendet wurde. Die Sendezeiten des ersten Programms wurden verlängert, und aufgrund des großen Erfolges und der Erweiterungswünsche der Zuschauer startete am 1.4. 1963 das Zweite Programm. Quizmaster wie H-J. Kuhlenkampf und P. Frankenfeld eroberten die Bildschirme und wurden vom Publikum verehrt. Die erste Fernsehfamilie "Schölermann" z.B., brachte es rasch auf eine Sehbeteiligung von 91%.

[50])Die Zuschauer wünschten sich Unterhaltungssendungen, sogenannte "Bunte Abende", die in modifizierter Form noch heute das Bild der privaten Sender bestimmen. In den letzten Jahren etablierte sich die tägliche Ausstrahlung von Gewinnspielen in Form der sogenannten "Game-Shows" und diversen Typen von Talkshows im Programm fast aller Sender, die sich nicht ausschließlich einem Sendepublikum verschrieben haben, wie Musikvideo- oder Kindersender.

[51])Luger, Kurt: Jugendkultur und Kulturindustrien im Österreich der 50er Jahre. In: Schildt; Sywottek, wie Anm. 47, S.493-512, hier S.509. "Die Geburtsjahrgänge, die Ende der 50er bis Mitte der 60er Jahre ihre Jugendzeit erlebten, werden auch als 'Konsum- und Kulturpioniere' in die Geschichte der Mediensozialisation eingehen. Sie hatten als erste mit der sich expansiv entwickelnden Kultur- und Freizeitindustrie zu tun." Die hier von Luger angesprochene Gruppe stellt in meiner Untersuchung genau die Überschneidung zwischen erster und zweiter Generation dar. Die von ihn angedeuteten Auswirkungen ließen sich aber erst in den Aussagen der Angehörigen der zweiten Generation verorten. Die um 1945 herum geborenen Informanten gaben an, in der Regel gar nicht über Geld für die Teilnahme an der neuen "Jugendkultur" verfügt zu haben. Ein wichtiges Symbol dieser neuen Jugendkultur stellte die Zeitschrift "Bravo" dar, die 1956 erstmals auf dem deutschen Markt erschien. Vgl. auch Kapitel dieser.

[52])Vgl. Ebda., S.512. Zusätzlich integrierte man die Jugendlichen im Markt der Jugendkultur immer stärker als Konsumenten. S.501: "Die Kulturindustrie half somit den Jugendlichen bei ihrer kulturellen Emanzipation von den Eltern, und die Jugendlichen formten sich aus den Angeboten der Massenkultur ihre eigene 'popular culture'".

[53])Die ersten Taschenbücher für Kinder und Jugendliche brachte der Ravensburger Verlag Otto Maier bereits 1958 heraus. Diese glichen in der Aufmachung und Einbandgestaltung sehr viel mehr einem Buch als die gleichzeitig auf dem Markt erhältlichen billigen Broschuren mit Pappdeckeleinbänden, wie z.B. die Serie von "Pucki", von Magda Trott. Auch aus diesen Zeiten aktuell sind die kleinen Bände der "Pixi"-Buchreihe, die es zunächst für 50 Pfennige gab.

[54])Bedauerlicherweise sind die alltäglichen privaten Lebensweisen und Konsumgewohnheiten der sechziger und siebziger Jahre nicht in gleichem Maße Gegenstand der bisherigen Forschung, wie es die fünfziger Jahre inzwischen sind. Zu diesen vgl. Wildt, Michael: Am Beginn der "Konsumgesellschaft": Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren. Hamburg 1994; Luger, wie Anm. 52, S.512. Zusätzlich integrierte man die Jugendlichen im Markt der Jugendkultur immer stärker als Konsumenten. Ebda., S.501: "Die Kulturindustrie half somit den Jugendlichen bei ihrer kulturellen Emanzipation von den Eltern, und die Jugendlichen formten sich aus den Angeboten der Massenkultur ihre eigene 'popular culture'".

[55] Für die Beurteilung des jeweiligen Lesens im Lebenslauf ist es außerdem wichtig, darauf zu verweisen, daß die Lesebiographien der dritten Generation noch nicht abgeschlossen sind. Die Befragten standen zum Teil am Anfang ihres Berufslebens, planten eine Familiengründung und es ist anzunehmen, daß sie ihr Leseverhalten noch verändern.