IX.
Judenverfolgung im Mittelalter*
Fragst du nicht, die einst in Flammen geglühet,
nach dem Gruß deiner trauernden Jünger,
die keinen Wunsch so sehnlich hegen,
als zu wallen und zu weilen
in deinen Höfen, in deinen Hallen;
die da lechzen und sich sehnen
nach dem Staub von deinem Boden,
und mit Schmerz und Grauen
nach der Brandstatt schauen,
in der du einst verglommen?
Sie wallen in der Finsternis,
verdüstert ist das Lebenslicht;
sie hoffen auf das Licht und auf den Tag,
der aufgehen werde,
leuchten werde
über sie und über dich.
Fragst du nicht nach dem Gruße des jammernden
Menschen,
der da weinet.
der da klaget,
dem das Herz bricht,
wenn er gedenket deiner Schmerzen, deiner
Wehen?
Wie Strauß und Uhu in den Wüsten, in den
Wäldern,
klagt und stimmt er an um dich das
Trauerlied.
Der berühmte Rabbi Meir von Rothenburg (gest.
1293) hat dieses Klagelied gedichtet, dessen Anfangsverse hier wiedergegeben
sind. Es findet sich noch heute im Siddur der aschkenasischen israelitischen
Gemeinden zum 9. Ab, dem Tag, an dem der Zerstörung Jerusalems gedacht wird[1]. Die Klage gilt nicht
dem Verlust von Menschen, sondern dem Verlust von Büchern. Freilich nicht von
irgendwelchen Büchern, sondern R. Meir klagt über die Talmud-Verbrennung 1242
in Paris, wie er sie selbst miterlebt hatte[2]. 24 Wagenladungen von
Talmud-Exemplaren sollen damals an einem einzigen Tag verbrannt worden sein,
nicht in einem Ausbruch von Volkszorn, sondern ganz nach "Recht und
Ordnung": als Exekution des Urteils eines geistlichen Gerichts, besetzt
mit den geistigen Leuchten der Universität Paris, die am Schluß einer sich über
Jahre hinziehenden Prüfung das Urteil der Verdammung und Verbrennung über den
Talmud gefällt hatten. Dieser Scheiterhaufen war das Fanal für weitere
Autodafés, nicht nur damals, sondern über die Jahrhunderte hinweg; nach dem
Erscheinen der ersten Druckausgabe des Talmud in Venedig 1520/23 loderten auf
päpstliches Geheiß 1553 in Rom und anderswo in Italien erneut die
Scheiterhaufen, und zuletzt, soviel ich weiß, 1757 in Kamenez-Podolsk im
damaligen Polen[3]. Aus dem ganzen
Mittelalter, dem Zeitraum immerhin eines vollen Jahrtausends, hat sich nicht
mehr als ein einziges vollständiges Exemplar des in Europa gebräuchlichen
babylonischen Talmud erhalten: der Cod. hebr. 95 der Bayer. Staatsbibliothek
München, datiert auf 1343[4] - ein heiliges Buch für
jeden, nicht nur für jeden frommen Juden.
Der Bericht über diese Verfolgung sei an den
Anfang eines Vortrags über Judenverfolgung ganz allgemein im Mittelalter
gestellt, um die Dimension des Vorgangs begreiflich zu machen:
Menschenverfolgung ist etwas Furchtbares, und doch zielt sie nur auf Äußeres -
auf bloße physische Existenz. Wer einem Volk aber die Quelle seiner Tradition
verschütten will, aus der heraus und durch die hindurch es gewohnt ist, dem
eigenen Leben gemäß der Richtschnur der Tora sub specie aeternitatis Sinn zu
geben - dies ist ja die Aufgabe des Talmud und deshalb spielt er im Leben des
jüdischen Volkes eine so zentrale Rolle -, der zielt auf Vernichtung der
geistigen und geistlichen Existenz dieses Volkes. Wer daher den Talmud
verbrennt, der will dem Juden nicht nur das Leben, sondern auch die Seele
nehmen. Judenverfolgung im Mittelalter zielt auf die Totalität jüdischer
Existenz.
Macht man sich das klar, dann stellen sich zwei
Fragen:
1. Weshalb hat das
europäische Judentum eigentlich überhaupt das Mittelalter
überlebt? und
2. Worin wurzelt der christliche
Vernichtungswille?
I.
Die erste Frage ist ziemlich schnell
beantwortet: Zum einen haben so viele
Juden das Mittelalter ja auch tatsächlich nicht überlebt, zumindest nicht an
den Stätten, wo sie sich einmal für Jahrhunderte niedergelassen hatten. Am
Ausgang des Mittelalters waren West-, Süd- und Zentraleuropa weitestgehend
`judenrein', wenn ich diesen Begriff aus dem "Wörterbuch des
Unmenschen" einmal gebrauchen darf: In England waren die Juden 1290, aus
Frankreich 1306, von der iberischen Halbinsel und aus Süditalien 1492 bzw. 1496
vertrieben worden, und was an Judengemeinden in Deutschland die
Verfolgungswellen 1298, 1330ff. und vor allem die Pestpogrome 1348ff.
überstanden hatte oder wiederbegründet worden war, wurde im Lauf des 14., 15.
und 16. Jhs. zur Abwanderung gezwungen, so daß ganze Territorien wie z.B. Bayern-Landshut
und Bayern-Ingolstadt (1450), Österreich (1420), die Pfalz (1390) sowie die
geistlichen Kurfürstentümer Trier (1418) und Mainz (1470), und außer Worms und
Frankfurt nahezu alle deutschen Städte ihre Juden verloren hatten[5]. Soweit das europäische
Judentum seit dem 13. Jh. also nicht umgebracht oder vertrieben worden war,
hatte es sich - von Norditalien und der Provence sowie einigen, meist
ländlichen Siedlungsinseln in Deutschland abgesehen - im großen ganzen in den
vom Osmanischen Reich beherrschten islamischen Machtbereich zurückgezogen oder
es hatte im polnisch-litauischen Großreich ein, wie sich freilich auch dort
zeigen sollte, recht prekäres Refugium gefunden.
Ein weiterer Grund, weshalb das europäische
Judentum trotz aller Verfolgungen während des Mittelalters in seiner physischen
Existenz nicht ganz vernichtet wurde, liegt in der Widersprüchlichkeit der
mittelalterlichen Denk- und Verhaltensweisen. Wenn eine Stadt wie Nürnberg im
Jahre 1349 ihre Juden nach langen Beratungen und mit königlichem Segen
umbringen ließ, so hinderte das dieselbe Stadt mit demselben Stadtregiment und
demselben König als Stadtherrn in keiner Weise, drei Jahre später Juden wieder
in ihren Mauern aufzunehmen, um sich ihrer anderthalb Jahrhunderte später nach
jahrzehntelangen Verhandlungen mit dem Kaiser erneut zu entledigen, diesmal auf
dem Vertreibungswege und bis zum Beginn des 19. Jhs. endgültig[6]. Ob man im späten
Mittelalter die Juden umbrachte, vertrieb oder wieder aufnahm, war eher das
Ergebnis zufälliger Ad-hoc-Entscheidungen als die Konsequenz aus irgendeiner
zielstrebig betriebenen Politik oder einer prinzipiellen Einstellung ihnen
gegenüber.
Juden waren z.B. 1306 in Frankreich nicht
beliebter oder verhaßter, ärmer oder reicher als in anderen Teilen Europas,
aber der französische König brauchte Geld und suchte außerdem eine Gelegenheit,
seine Prärogative reichsweit zur Geltung zu bringen; die Juden waren ein in
seinen Augen dankbares Opfer für beide Zwecke[7]. Er hätte sich auch
andere Opfer wählen können - und in den Tempelrittern z.B. fand er fast
gleichzeitig auch noch andere -, aber sein und seiner Berater Blick war eben
zunächst einmal auf die Juden seines Reiches gefallen und so wurden sie seine
ersten Opfer, wanderte ihr Vermögen in seine Kassen. Für seine Handlungsweise
lassen sich plausible Gründe finden, aber keiner läßt das Schicksal der Juden
Frankreichs als geschichtlich zwingend notwendig erscheinen. So sind auch Juden
später in Frankreich wieder zu finden, freilich in nur noch ganz unerheblicher
Zahl. (Erst mit dem Zugriff Frankreichs auf Reichsgebiet wie die Länder links
der Rhone und zuletzt das Elsaß und Lothringen sollte sich das ändern.)
Nicht viel anders ihr Geschick im Deutschen
Reich: Ob und wo sie lebten oder ansässig blieben oder nicht, hat etwas stark
Zufälliges an sich, ist weitgehend bedingt durch kleinräumig begrenzte, von
individuellen Umständen abhängige Entscheidungen. Der die Entwicklung
nachzeichnende Historiker vermag zwar durchaus einen lebensfeindlichen Trend
für das spätmittelalterliche europäische Judentum zu erkennen, aber weil im
Mittelalter sich geschichtliche Prozesse weniger noch als in der Gegenwart
nicht geradlinig, sondern komplex, voll innerer Widersprüchlichkeit und
Inkonsequenz vollzogen, kann er nicht erklären, weshalb im Einzelfall Juden
hier vertrieben oder umgebracht wurden und dort leben blieben.
Dem christlich-theologischen Prinzip nach
nämlich hätte jüdische Existenz nicht vernichtet, sondern erhalten werden
müssen: Dieses Prinzip geht auf den Apostel Paulus zurück, u.z. auf das
berühmte Israel-Kapitel des Römerbriefs (c.11), das die Verheißung enthält,
daß, wenn die Heidenschaft - das neue Gottesvolk! - am Ende der Zeiten den Weg
des Heils vollendet haben würde, auch das alte Gottesvolk, Israel, gerettet
werde. In der Prägung der Kirchenväter, namentlich Augustins, ist aus dieser
Verheißung das endzeitliche Konzept eines untrennbaren Zusammenhangs zwischen
der Bekehrung Israels und der Wiederkunft Christi geworden, so daß es im
Weltenplan Gottes als geradezu heilsnotwendig für die Menschheit angesehen
wurde, daß Juden als Juden erhalten blieben, um als alttestamentlich
überlebtes, gleichsam - wie man formulierte - Stein gewordenes Zeugnis für die
neutestamentlich lebendige Wahrheit des christlichen Glaubens stets präsent zu
sein.
Nicht also die christliche Doktrin schmiedete
die geistigen Waffen zur Vernichtung jüdischer Existenz. Der Vorgang ist
subtiler. Und damit komme ich zum zweiten Fragenkomplex: zur Betrachtung, worin
denn eigentlich der bei aller theoretischen und faktischen Gebremstheit immer
wieder zum Ausdruck kommende Vernichtungswille der christlichen Welt gegenüber
den Juden wurzelte.
II.
Dazu ist zunächst einmal festzustellen, daß
Judenhaß nicht am Anfang der mittelalterlichen Entwicklung des Verhältnisses
zwischen Juden und Christen stand[8]. Sehr lange Zeit sogar,
bis ins 11. Jh. hinein, scheint das Verhältnis gut gewesen zu sein, so gut
sogar, daß Kirchenmänner wie Agobard, Erzbischof von Lyon, gegenüber Kaiser
Ludwig d.Fr. bittere Klage führen konnten, an seinem Hofe seien Juden in Sachen
Religion wohlgelitten und fänden bei "unbedarften Christen" mehr
Gehör als christliche Priester[9]. Und Agobard gibt auch
eine Begründung für diese Wertschätzung: sie käme "aus der Achtung vor den
Patriarchen". Das bedeutet: Den Christen des Frankenreiches und zuerst
auch noch dessen Erben galten die Juden ihrer Zeit nicht so sehr als
Christusmörder, sondern als Nachfahren der allseits hochgeachteten Erzväter und
Propheten des Alten Testaments. Von Juden erwartete man daher, da sie in
genuiner alttestamentlicher Tradition stünden, daß sie darüber eher
authentische Auskunft zu geben vermöchten als ihre neutestamentlich geprägten
Konkurrenten aus dem christlichen Priesterstand.
Doch dieser günstige Wind drehte sich, spürbar
spätestens seit dem beginnenden 11. Jh. Die christliche Frömmigkeit wird in
dieser Zeit zunehmend christologisch und neutestamentlich, Leitbilder werden
das Apostelvorbild und die urkirchliche Frömmigkeit mit ihrem Schlichtheits-,
ja radikalen Armutsideal, gipfelnd im Ideal der Nachfolge Christi, und zwar
nicht des Königs Christus, sondern des armen, am Kreuze gequälten Christus (nudus
nudum Christum sequi), mit dem spirituell eins zu werden zum Bedürfnis
breiter Kreise wird, das in zunehmend inbrünstiger werdender eucharistischer
Frömmigkeit und mystischer Spekulation die Ausdrucksmittel findet[10]. Das Pendant der
Frömmigkeit ist der Fanatismus, gesteigertes Gemeinschaftsbewußtsein im
gemeinsamen Kult bedingt ein verschärftes Empfinden für das Anderssein des
Andersgläubigen und führt zu dessen Ausgrenzung, ja Haß auf ihn[11]; dies vor allem
gegenüber den Juden, weil sie seit neutestamentlichen Tagen von einem
bestimmten Strang der christlichen Theologie - der nur nicht immer die
Diskussion beherrschte, aber doch stets griffbereit vorhanden war - als Mörder
Christi gebrandmarkt worden waren, dessen Blut über sie kommen werde, wie es im
Matthäus-Evangelium heißt[12].
Die aus tiefchristlicher Reformgesinnung
geborene Kreuzzugsbewegung des späten 11. Jhs. zog jedenfalls die erste
große mittelalterliche Welle der Judenverfolgung nach sich, der 1096 vor allem
die blühenden Judengemeinden am Rhein zum Opfer fielen. Wie die jüdischen und
manche christlichen Berichte darüber mitteilten, wurden die ins Hl. Land aufbrechenden
Kreuzzugsscharen mit dem Argument aufgehetzt, wer Feinde Christi suche, brauche
nicht erst zu warten, bis er sie im Hl. Lande fände, sondern könne mit dem
Aufräumen gleich vor der eigenen Haustür beginnen[13].
Man kann nicht sagen, daß diese Stimmung die
Öffentlichkeit damals schon insgesamt beherrscht hätte. Ein innenpolitisch so
schwacher Monarch wie Kaiser Heinrich IV. konnte es wagen, den, wenn nicht
erschlagenen, dann zwangsbekehrten Juden entgegen dem kanonischen Recht die
Rückkehr zum alten Glauben zu gestatten und sie im Verein mit den herrschenden
Kräften des Reiches in den berühmten ältesten Reichslandfrieden von 1103
zusammen mit Witwen, Waisen, Klerikern und Kaufleuten als schutzbedürftige
Personen aufzunehmen. Noch eher bezeichnend für den bloßen Exzeßcharakter der
Kreuzzugspogrome, wo der dem Geschehen zugrunde liegende Glaubenshaß die
Ausnahme und noch nicht den Regelfall in den Beziehungen zwischen Christen und
Juden darstellte, ist - neben hochherzigen Beispielen christlicher Nächstenliebe
gegenüber den Verfolgten - das offenkundige Erstaunen der jüdischen Gemeinden
über diese Eruption von Haß: nichts in ihrer Umgebung hatte bis dahin darauf
hingedeutet.
Die nächsten Kreuzzüge - insbesondere der zweite
und dritte, 1145-49 und 1187-92 - zeigten zwar immer wieder die besondere
Gefahr, die das Aufputschen der Emotionen für einen Heiligen Krieg den religiös
Andersgläubigen bescherte - und im Falle Englands mit den Massakern vor allem
unter den Yorker und Londoner Juden 1189/90[14] wiederholten sich sogar
die Ereignisse von 1096 -, aber auf dem Kontinent kam es in diesem Zusammenhang
nicht mehr zu nennenswerter Verfolgung der Juden. Leider heißt das nicht, daß
die Verfolgungen aufgehört hätten: sie änderten vielmehr nur ihren Anlaß und damit
ihren Charakter. 1144 begegnet uns in Norwich in England erstmals im
Mittelalter der Typus einer Judenverfolgung aufgrund einer Ritualmordbeschuldigung[15]. Der dramaturgische
Rahmen, in dem diese Beschuldigungen standen, ist durch die Jahrhunderte hinweg
bis in die jüngere Vergangenheit hinein mutatis mutandis derselbe geblieben: In
zeitlich unmittelbarem Zusammenhang mit dem Passionsgeschehen der Karwoche geht
ein Kind verloren oder wird eine Kinderleiche gefunden, das Gerücht taucht auf,
Juden hätten es in ritueller Wiederholung des Christusmordes umgebracht, ihm
dabei das Blut abgezapft und wohl auch zur Herstellung des Passah-Brotes
verwendet. Daraufhin werden Juden gefangengesetzt, ihnen - zumeist mittels
Folter - die verlangten Geständnisse abgepreßt, und dann werden sie
gerichtsförmlich umgebracht.
Wie gesagt: Norwich 1144 ist das erste Beispiel
einer Judenverfolgung aufgrund einer Ritualmordbeschuldigung; Kielce in Polen
1946(!) das letzte. Daß dieses Element zum Repertoire der alldeutsch-antisemitischen
wie der nationalsozialistischen Antijuden-Propaganda gehörte, sei nur der
Vollständigkeit halber miterwähnt. Das englische Beispiel fand ringsum in
Europa rasche Nachahmung: 1171 in Blois in Frankreich, 1182 in Saragossa in
Spanien, relativ spät erst, 1235, in Deutschland, und zwar ziemlich
gleichzeitig in Lauda bei Tauberbischofsheim und in Fulda. Das gab damals Anlaß
zu einer allerhöchsten staatlichen Untersuchung: Kaiser Friedrich II., selbst
hochgebildet und umgeben von einem Kranz erlesener christlicher, arabischer wie
jüdischer Gelehrter, ließ den Vorwurf von Experten untersuchen und als gänzlich
unbegründet verwerfen, verbunden mit der Drohung, Verfolgungen dieser Art als
gegen die kaiserlichen Interessen gerichtet künftig zu ahnden[16]. Auch das Papsttum
(Innocenz IV.) sah sich wenig später zu einer ähnlichen Stellungnahme veranlaßt[17].
So haben die beiden universalen Gewalten des
Mittelalters, Kaiser wie Papst, relativ früh und eindeutig - und ohne daß sie
jemals später diese Position revidiert hätten - in der Frage des Ritualmords
Stellung zugunsten der Juden bezogen. Genutzt hat das den Juden nicht viel.
Quer durchs späte Mittelalter, ja fast bis in die unmittelbare Gegenwart
hinein, zieht sich die Blutspur der Judenverfolgungen aufgrund der Ritualmordbeschuldigung:
in England etwa 1255 bei dem berühmten Fall des Little Hugh von Lincoln, in
Frankreich nach Blois noch 1288 in Troyes[18], nach der Vertreibung
der Juden aus England und Frankreich dann vor allem im Deutschen Reich und
später dann in Osteuropa; als Aufsehen erregende Fälle erwähne ich nur den
Guten Werner von Oberwesel und Bacharach 1287 und den Kleinen Simon von Trient
1475, beide bis in unsere Tage als heilige Märtyrer verehrt[19].
Die Verfolgungen dieser Art unterscheiden sich wesentlich von den Kreuzzugspogromen. Waren letztere Ad-hoc-Ereignisse und nicht selten - wie etwa 1096 - eher von außen importiert als durch die sozialen Bedingungen an den Orten des Geschehens hervorgerufen, so verrät die Ritualmordbeschuldigung den religiösen Spannungszustand auf lokaler Ebene. Die Kreuzzügler, die die rheinischen Judengemeinden 1096 vernichteten, kamen von weither: aus Nordfrankreich und aus Flandern. Nur wenige Einheimische schlossen sich ihnen an, nirgendwo hatten sie die Initiative, vielmehr mußten sie stets erst mitgerissen werden; ihre Beteiligung hatte deutlich sekundären Charakter. Diejenigen aber, die Juden in Lauda und in Fulda, in Oberwesel und in Trient umbrachten, waren deren Nachbarn, mit denen sie auf engstem Raume zusammengelebt, denen sie täglich begegnet waren. Verfolgung dieser Art hat eine andere Qualität, ist sozialpsychologisch anders begründet. Sie setzt auch eine andere Art der Frömmigkeit voraus: nicht die dynamische Aufbruchstimmung einer zum Hl. Krieg fanatisch entschlossenen Kriegerschar, die nach dem Blut von Christi Feinden lechzt, wer immer das sein mag: Jude, Heide, Moslem, Ketzer; sondern sie setzt den schwelenden Haß auf den religiös Anderen voraus, den man als Pfahl im eigenen Fleisch empfindet - ein latent stets vorhandener Haß, der sich in periodischen Ausbrüchen immer wieder konkret äußerte.
Er suchte sich unterschiedliche Anlässe. Denn
die Ritualmordbeschuldigung war nur die älteste, atavistischste, nach Zeit,
Raum und Häufigkeit am meisten vertretene Form, in der sich dieser Haß
artikulierte. Mittelalterliche Varianten waren die Beschuldigung des
Hostienfrevels und der Brunnenvergiftung. Die Beschuldigung des Hostienfrevels[20] ist eigentlich nichts
anderes als eine sakramentalisierte Ritualmordbeschuldigung. Form und Folgen
beider Beschuldigungen glichen einander aufs Haar: Irgendwie - in der Regel
durch ein Wunder - wurde offenbar, daß geweihte Hostien gestohlen und zu Juden
gebracht worden waren, welche in ritueller Form das Corpus Christi, das sie ja
in alter Zeit schon einmal konkret zu Tode gebracht hatten, nunmehr gleichsam
in effigie marterten, mit dem Ergebnis freilich, daß im Unterschied zu den
christusförmig gemarterten Christenknäblein der in der Hostie real präsente
Heiland sich zur wunderbaren Verteidigung seiner selbst herausgefordert fühlte,
die Hostie füglich allen Marterungen widerstand, sich weder von Zangenzwicken
noch Hammerschlägen oder Messerstichen beschädigen noch gar im Ofen verbrennen
ließ, was die peinigenden Juden zu Entsetzen und bisweilen auch zur Konversion
führte, stets aber die Entdeckung durch die christlichen Nachbarn nach sich
zog, womit es dann zu Prozeß, Tortur, Geständnis, und wo nicht zur Taufe, dann
zum Tod der Juden kam. 1290 haben wir in Paris das erste Beispiel dieser Form von
Judenhaß und Judenverfolgung. 1298 werden die Judengemeinden in ganz Franken
und Schwaben im Zuge der sog. Rintfleisch-Verfolgungen auf der Grundlage dieser
Beschuldigung verheert. Ebenso motiviert sind die sog. Armleder-Verfolgungen in
den 30er Jahren des 14. Jhs. Berühmte Beispiele dieser Zeit sind schließlich
noch die Hostienfrevel-Verfolgungen in Pulkau in Niederösterreich und in
Deggendorf in Niederbayern, die in späterer Zeit in Form von Bilderzyklen
künstlerisch verewigt wurden - Bilder, die noch heut vorhanden, leider aber
nicht mehr überall sichtbar sind[21]. Ich sage bewußt
`leider', denn die Zeugnisse der Nachtseite von Geschichte sollte man nach
meiner Überzeugung zur Anschauung bringen und nicht schamhaft verstecken, denn
nur so können sie Mahnmal sein.
Es ist nicht immer sicher, ob Judenverfolgungen
in diesen Orten tatsächlich auf den Vorwurf des Hostienfrevels zurückzuführen
sind. Zumindest im Deggendorfer Fall dürfte das eine Geschichtslegende sein.
Das heißt: es gab den Judenmord, das ist verbürgt. Daß ihn ein Hostienfrevel
hervorrief, weiß erst eine spätere Tradition[22]. Das belegt: Dieser
Vorwurf ist derart zum Stereotyp geworden, daß man ihn unbedenklich zur
Erklärung heranzog, wollte man begründen, wie es zu Judenverfolgungen kam, von
denen man nichts Genaueres wußte.
Der Hostienfrevel-Vorwurf hat das Mittelalter
nicht überdauert; jedenfalls ist mir kein neuzeitliches Beipiel bekannt
geworden. Das hat etwas mit dem Wandel der Frömmigkeitsformen zu tun, denn
dieser Vorwurf setzt eine gesteigerte eucharistische Frömmigkeit voraus, die
schon nach Wyclifs Attacken auf die Transsubstantiation, nach dem Siegeszug des
Utraquismus in Böhmen und der schon in Prag 1417 und bei den Taboriten 1420
begegnenden Leugnung der Realpräsenz Christi in der Hostie spätestens seit der
Reformation selbst in katholisch gebliebenen Ländern nicht mehr dieselbe Rolle
spielte wie zu jener Zeit, die die Geburt der Legende vom jüdischen
Hostienfrevel gesehen hatte.
Zeitlich gesehen noch ephemerer, weil im
wesentlichen nur auf diese eine Verfolgungswelle beschränkt, in der Wirkung
aber nur noch von der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten
übertroffen, war die Judenverfolgung der Jahre 1348ff. aufgrund des Vorwurfs
der Brunnenvergiftung[23]. In diesem Vorwurf und in
der kalten Brutalität, mit dem er zur nachbarlichen Judenvernichtung benutzt
wurde, gipfelt, sozialpsychologisch gesehen, der Judenhaß als Form religiöser
Fremdstereotyp-Bildung.
Der gegen die Juden erhobene Vorwurf der
Brunnenvergiftung tauchte im Zusammenhang mit dem Massensterben auf, das im
Zuge der Großen Pest seit dem endenden Jahre 1347 weite Teile Europas
heimsuchte und vermutlich rund ein Drittel der Bevölkerung vorzeitig ins Grab
sinken ließ. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Seuche will ich
hier nicht näher betrachten; mir geht es nur um den Zusammenhang mit den
gleichzeitigen Judenverfolgungen. Der Zusammenhang stellt sich, vergleicht man
Einzelfall mit Einzelfall, ziemlich komplex dar, läßt aber als Gesamtphänomen
doch ein ziemlich einheitliches Grundmuster erkennen. Sobald das Gerücht von
der unheimlichen Seuche zu zirkulieren begann, wußte man auch schon, wer daran
schuld war: die Juden. Und wie hatten sie ihre Untat vollbracht? Sie hatten
Gift in Brunnen gestreut, hier und da und überall, getrieben von Haß und
Rachegefühlen gegen die Christen und beseelt von dem Drang nach Weltherrschaft[24]; das
Weltverschwörungsmodell der Weisen von Zion kündigt sich an. In Savoyen hat man
sie aufgrund dieser Vorwürfe im September 1348 erstmals von amts wegen
verhaftet, verhört und mittels Folter die gewünschten Geständnisse erpreßt[25]. Verhörsberichte
kursierten bald rhoneaufwärts in der Schweiz und rheinabwärts in Deutschland,
es kam zu neuen Verhören, Folterungen, Geständnissen, entsprechenden Nachrichtenübermittlungen[26], und wo immer es
Stadtobrigkeiten oder nennenswerte städtische pressure groups für angezeigt
hielten, brachte man im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahre die jüdischen
Mitbürger um.
Das Motiv war offensichtlich nie eine Angstpsychose
sich vom Pesttod bedroht sehender Massen[27], ja nicht einmal
Judenhaß als solcher scheint die Ursache für Judenmord gewesen zu sein, sondern
der stets vorhandene Judenhaß scheint in Verbindung mit dem drohenden
Damoklesschwert der Pest allen möglichen Interessenklüngeln die Gelegenheit
gegeben zu haben, auf dem Rücken der Juden ihre auf ganz anderen Ebenen
angesiedelten materiellen oder politischen Konflikte auszutragen. In Straßburg
z.B. nutzten die sich politisch benachteiligt fühlenden Gruppen des Stadtadels
und der Zünfte die Gunst der Stunde, die damals das Stadtregiment ausübende
Gruppe der patrizischen cives mit dem Argument der Judenfreundlichkeit
zu stürzen. In den meisten Reichsstädten begnügte man sich damit, die
ungefestigte Stellung des mit dem Gegenkönigtum Günthers von Schwarzburg
konfrontierten Königs Karl IV. auszunutzen und ihm, der seinen Krieg mit
Anweisungen auf Judensteuern und mit Judenverpfändungen zu finanzieren suchte,
diese Finanzquellen als Ursachen für ständige Eingriffe außerstädtischer Mächte
in innerstädtische Angelegenheiten ein für allemal zu verstopfen. Karl hat sich
für diesen Mord an seinen Kammerknechten - d.h. also den ihm mit Leib und Gut
zugehörigen Eigenleuten - Abstandssummen zahlen lassen; gesühnt hat er ihn nicht.
Wie wenig ihm an seinen Juden lag, zeigt das schon einmal genannte Nürnberger
Beispiel, wo Karl dem Stadtrat freie Bahn gab zum Judenmord. Einziges
erkennbares Motiv der Stadt: Abbruch des Judenviertels und Umwandlung in den
noch heute als Christkindelmarkt beliebten Hauptmarkt; Konkurrenzneid des
christlichen Großkapitals gegenüber dem jüdischen Kreditgewerbe vermutet man
übrigens auch noch[28].
III.
Der Judenmord im Zuge der Großen Pest trug also
keinen Pogromcharakter im strengen Sinn, wo zutiefst verunsicherte Menschen
außer Kontrolle geraten und für ihre Nöte Sündenböcke suchen, finden und
erschlagen[29]. Von wenigen Fällen
eines anscheinend tumultuarischen Verlaufs der Verfolgung abgesehen[30], war der Regelfall, wie
Juden damals zu Tode kamen, der Gerichtsprozeß, und das heißt kalter
Justizmord. Warum beging man ihn? War die Zeit so entmenscht, daß ihr jegliche
Moral und Sitte abhanden gekommen war? Keineswegs. Nicht die Zeit war
entmenscht, sondern der Jude war es - in den Augen der Zeit. Denn ob Ritualmord,
Hostienfrevel, Brunnenvergiftung - dies alles traut man nur Menschen zu, für
die die Qualität des Menschseins im Grunde nicht mehr zutrifft. Diese Vorwürfe
sind Indikatoren für einen Haß, der im Anderen nicht mehr den Nächsten sieht,
sondern das Ungeheuer.
Das ist nicht nur pathetisch dahingesagt, das
läßt sich vielfach belegen: Wer z.B. die Bildzeugnisse mit Judendarstellungen
durch die Jahrhunderte verfolgt[31], kann unschwer
feststellen, wie sich etwa seit dem beginnenden 13. Jh. der Bilderkanon mit
typisch jüdischen Motiven deutlich zum Pejorativen hin verändert. Und zwar in
doppelter Hinsicht: Die Gleichung Gut und Jüdisch kommt allmählich außer
Gebrauch. Das läßt sich z.B. an den Darstellungen der Patriarchen und Propheten
beobachten, die noch im 12. Jh. - wie bei den Obergadenfenstern des Augsburger
Doms - ohne weiteres mit Judenhütchen als Juden charakterisiert werden konnten
(wie übrigens auch Joseph und sogar Christus selbst); danach ließ man dieses
Attribut für diesen Personenkreis weg. Auch die Synagoge, deren Anmut und
Schönheit am Straßburger Münster noch heute die Blicke auf sich zieht, wandelt
ihren Charakter: die jüngeren Beispiele seit dem endenden 13. Jh. zeigen sie
als Hure, dem Laster ergeben und mit Bocksattribut der Höllensphäre sichtbar
zugeordnet. Und es kommt Neues und noch weit weniger Appetitliches auf: Seit
dem 13. Jh. grüßt die Judensau den kunstsinnigen Betrachter als
Skulpturenschmuck der Kirchen im Inneren wie von Außen[32], also jenes Motiv, wo
Juden (durch das Hütchen charakterisiert) an den Zitzen einer Sau hängen oder
ihr das After lecken, rittlings auf ihr reiten, zentaurenartig aus ihrem Leib
herauswachsen oder sonst mit ihr schöntun - eine doppelte Verhöhnung für den
Juden, dem dieses Tier wie kein anderes als unrein gilt und der mit diesem
Gestus auch in christlichen Augen als Sau im Sinne des Schimpfworts dargestellt
wird. Zudem ist das Schwein als Sinnbild nicht nur das possierliche Attribut
des hl. Antonius, sondern auch der Welt des Teufels; für Hexen gilt es z.B. als
ein beliebtes Reittier, und seit Jesus Besessene heilte[33], galten Schweine als
klassische Einfuhr-Orte für Dämonen. Diese weltbildhafte Zuordnung hat Methode:
Juden gehören zum ständigen Repertoire von Darstellungen des Antichrist[34] und überhaupt der Welt des
Satans[35]. Daß Juden auf
Passionsdarstellungen spätmittelalterlicher Tafelmalerei nicht eben
schmeichelhaft erscheinen, brauche ich kaum noch zu betonen. In summa: Der Jude
wird in den Bildern der Zeit seit dem späteren Mittelalter zunehmend
dämonisiert.
Was die Bilder dem Auge der Menschen zur
Anschauung bringen, das kann er - so er zu lesen vermag - auch im Worte
wiederfinden. Eine kurze Blütenlese aus der antijüdischen polemischen Literatur
mag das illustrieren: Das ständige Beiwort für Jude ist perfidus,
"treulos". Selbst wo man es als Christ gut meint mit den Juden, wie
im Fürbitt-Gebet der Karfreitagsliturgie, lautet die Bitt-Formel nicht etwa
einfachhin: "... für die Juden", sondern: "für die treulosen
Juden"[36]. Typisch die
Charakterisierung bei dem als Kirchenfürst wie Theologen bedeutenden Großabt
von Cluny, Petrus Venerabilis[37]: "Blinden Auges,
tauben Ohres, steinernen Herzens" verweigern sie die Annahme von Christi
Botschaft, ein populus durae cervicis, wie es Ex. 32,9 heißt, ein
"halsstarriges Volk" also, "obstinat", das den Herrn Jesus
"nach seiner Art" (wie auch sonst?) verachtet, verlacht, getötet hat;
wofür sie Christus ohne Zweifel "im Feuerofen der Hölle endlos quälen
wird"[38]. Ich breche ab! Es ist
keine Schmähung zu grob, kein Wort zu häßlich, um nicht den Juden als
Widersacher des christlichen Glaubens zu entwürdigen. Denkwürdig die Worte[39]: "Ich weiß
wirklich nicht, ob der Jude ein Mensch ist, denn weder weicht er der
menschlichen Vernunft, noch dem Worte Gottes, sondern er hört nur auf sich
selbst. Ich weiß nicht, so sage ich, ob er ein Mensch ist, denn aus seinem
Fleisch ist noch nicht das Herz aus Stein gerissen worden, ihm wurde noch kein
lebendes Herz verliehen, in seinem Inneren wohnt noch nicht der Geist Gottes,
ohne den der Jude niemals zu Christus bekehrt werden kann." Es mag
Rhetorik sein, die Petrus Venerabilis die Feder lenkte. Aber Sprache ist nun
einmal verräterisch: Als der Abt von Cluny dem Juden das Menschsein absprach,
faßte er nur in Worte, was allgemeine Überzeugung war oder doch damals, als er
schrieb (kurz vor der Mitte des 12. Jhs.), zu werden begann.
IV.
Wie kam das? Wo lagen die Ursachen für die
Entstehung von diesem Bild vom Juden, das seine Verfolgung und seine
Vernichtung zur scheinbar natürlichsten Sache der Welt machte?
Von einem war schon die Rede: Von der
tiefgreifenden Veränderung der christlichen Spiritualität und Frömmigkeit seit
dem 11. Jh., die den Juden wie jeden anderen Andersgläubigen - vollkommen
gleichgültig, was er tat - zum outcast werden ließ. Im selben Maße, wie die
Christen fromm wurden, wurden sie intolerant. Man täusche sich nicht über die
oft von Hochachtung geprägten Aussprüche und ritterlichen Gesten gegenüber den
Arabern, wie sie uns von einem Friedrich II., einem Richard Löwenherz, auch von
dem einen oder anderen Kirchenmann überliefert sind: Weder in Süditalien noch
auf der Iberischen Halbinsel haben die in den Machtbereich christlicher
Herrscher und Völker geratenen Moslems als Moslems auf Dauer überlebt[40]. Christliche Religion
gleich welcher Schattierung ist gerade zu ihren Hoch-Zeiten ausgesprochen
unduldsam gewesen gegenüber Andersgläubigen.
Die Gegenseite gebrauchte auch nicht gerade
Samthandschuhe: Was uns an Schmähkritik aus antichristlicher jüdischer Sicht
überliefert ist, wo der christliche Gottesdienst Götzendienst, wo Christus nur
der Gehenkte hieß, die Gottesgebärerin mit schmuddeligen Geschichten bedacht
wurde, zeigt auch nur, daß Juden im Christen als religiösem Widerpart lediglich
einen Greuel zu sehen vermochten[41]. Freilich ist es für
das Opfer schwer, im Henker noch den Menschen zu erkennen, doch der Psychologe
weiß, daß auch das Umgekehrte gilt: Der Henker kann erst dann mit Überzeugung
Henker sein, wenn er das Opfer vorher seiner Menschlichkeit beraubte. Man meine
nicht, das despektierliche Vokabular der antichristlichen jüdischen Polemik
hätte einen nennenswerten Einfluß auf die antijüdische Einstellung der
Christenheit gehabt: Man kannte dieses Schrifttum so gut wie gar nicht, nur
Bruchstücke davon drangen hin und wieder an christlich-gelehrte Ohren und
wurden aufgeregt und entrüstet kommentiert und weitergegeben[42]. Auch als man den
Talmud näher kennenlernte und das wenige, was man daraus als antichristlich
einstufte, verdammte und als verdammt publizierte (übrigens mit beträchtlicher
Breitenwirkung[43]), verstärkte das nur
den ohnehin vorhandenen Trend, rief ihn aber nicht erst hervor. Was man da
erfuhr, paßte ins Bild, aber dieses Bild war von anderswoher gewonnen.
Woher gewonnen? Das heißt in diesem
Zusammenhang: Was trug der mittelalterliche Jude selbst dazu bei, daß man ihn
haßte? Natürlich zunächst schon die bloße Tatsache, daß er Jude war. "Jude
sein" - das ist im Mittelalter noch im großen ganzen eine Definition der
religiösen Zugehörigkeit, wiewohl schon im Spanien der Generalinquisition des
15. Jh. das "reine Blut" in deutlich rassistischer Manier als
Unterscheidungskriterium zwischen (unverdächtigen) `Altchristen' und
(verdächtigen) vom Judentum konvertierten `Neuchristen' hat herhalten müssen[44]. Aber das ist - aufs Ganze
des Mittelalters gesehen - doch nur als regionale und temporäre
Ausnahmeerscheinung einzustufen. Im allgemeinen aber hörte jemand auf, Jude zu
sein, wenn er den Glauben wechselte, durfte sich dann freilich auch keinen
`Rückfall' in den alten Glauben leisten, sonst schlug der Ketzerrichter zu[45]. Aber mit dem Übertritt
zum Christentum erwarb der Jude im allgemeinen - je nach Stand - die vollen
Rechte eines Christenmenschen, und welche Aufstiegschancen das eröffnen konnte,
zeigt etwa der Fall der ehemals jüdischen römischen Familie Pierleone, von
denen ein Mitglied in der dritten Generation als Anaklet II. den päpstlichen
Stuhl hat besteigen können; freilich nur als Gegenpapst zu Innocenz II., und
daß er sich am Ende auf der Verliererseite wiederfand, hat nun doch wieder
etwas mit seiner jüdischen Herkunft zu tun, die seine Gegner in der auf die
gespaltene Wahl 1130 anhebenden publizistischen Schlammschlacht nicht müde
wurden hervorzukehren[46].
Die religiöse Andersartigkeit also machte im
Mittelalter den Juden zum Juden, damit aber auch zum nicht integrierbaren
Fremdkörper in einer sich wesensmäßig als christlich verstehenden Gesellschaft.
Die Folgerungen daraus hatten fundamentale Bedeutung für die jüdische Existenz:
Ihre Vereinzelung inmitten eines sich als Gemeinschaft empfindenden
Sozialkörpers beginnt mit dem Rechtsstand[47]: Juden regelten ihre
eigenen Angelegenheiten untereinander nach ihrem Religionsgesetz; wo dies
versagte - z.B. bei Gehorsamsaufkündigung durch ein Gemeindemitglied und darauf
ausgesprochenem Bann (Cherem) -, trat die christliche Obrigkeit als
Exekutivorgan auf den Plan, die im übrigen in Form von königlichen, fürstlichen
und seit dem 14. Jh. dann auch städtischen Privilegien Rechte und Pflichten der
Juden und Judengemeinden im Verhältnis zur christlichen Umwelt regelten. Das
klingt gut, bedeutet aber infolge der Bildung eines eigenen Rechtskreises
Isolation von der Umwelt, zudem totale Abhängigkeit von dem, der die
Privilegien garantierte. Bei der notorischen Schwäche des spätmittelalterlichen
deutschen Königtums war zum Beispiel der vom König gewährte Rechtsschutz im
Notfall nicht viel wert.
Beinahe noch gravierender waren die Konsequenzen
des eigenen Religionsstandes im Bereich der Verbandsbildung, die ja auch
für das Wirtschaftsleben von erheblicher Bedeutung war und ist. Da jede Form
sozialer Vereinigung im Mittelalter (Kaufmannsgilden, Bruderschaften, Zünfte,
selbst das städtische Lenkungsgremium des Rates) Elemente religiöser Bindung
aufwies und eo ipso gleiche Religionszugehörigkeit der Mitglieder voraussetzte,
waren Juden grundsätzlich von christlichen Vereinigungen ausgeschlossen. Sie
bildeten einen gleichsam hermetisch von der Umwelt abgeschlossenen
Sozialkörper, dessen Überlebenschance zum einen abhing von den eigenen
Machtmitteln (die waren gering), und zum anderen (und das war entscheidend) von
Gunst oder Ungunst der christlichen Umgebung.
Achtung oder Verachtung der christlichen
Umgebung gegenüber den Juden nun waren keine allzeit festliegenden Größen. Das
Sozialprestige des weitgereisten reichen jüdischen Fernhändlers der
Karolingerzeit war groß: Ein Karl d.Gr. bediente sich solcher Leute als
Gesandte zum Kalifenhof nach Bagdad, ein Otto II. ließ sich in der katastrophal
ausgehenden Sarazenenschlacht bei Cotrone (982) von einem Mitglied der
bedeutenden jüdischen Familie Kalonymos das Leben retten[48], muß diesen Mann also
in seiner nächsten Umgebung gehabt haben. Daß die gesellschaftliche Creme der
Judenschaft in Spanien an allen dortigen Fürstenhöfen bis weit ins 14./15. Jh.
hinein beträchtlichen Einfluß besaß, ist gut bekannt, jüdische Gelehrte wirkten
am Hofe Kaiser Friedrichs II.[49], jüdische Bankiers an
der Kurie in Rom zumindest seit den Zeiten Papst Martins V.[50]. Das alles geschah
nicht immer zur Freude streng gesinnter Kirchenmänner, vor allem aber spiegelte
solch Fürstengunst nicht unbedingt die allgemeine Stimmung gegenüber Juden.
Aber, wie schon gesagt: bis ins 11., teilweise -
wie z.B. gerade in Deutschland - noch bis weit ins 12., ja ins 13. Jh. hinein
überwogen die Sympathien die Animositäten. Dann aber trat jener Umschwung der
öffentlichen Meinung ein - allmählich und graduell und nach Raum und Zeit
verschieden schnell -, der den Juden zunehmend als Ungeheuer erscheinen ließ.
Eine ganz entscheidende Ursache dafür nun war die Veränderung im Berufsbild
des Juden. Aus dem exotischen reichen Fernhändler, wie er in Mitteleuropa und
Nordfrankreich das berufstypische Bild des Juden im frühen Mittelalter geprägt
hatte, wurde seit dem 11. Jh. der kleine oder große Bankier[51]. Das wäre an sich nicht
so schlimm gewesen (obwohl Geld immer Neid hervorruft und nicht immer beliebt
macht), wenn nicht die christliche Moraldoktrin der Zeit bis in das
Kirchenrecht hinein das Kreditgewerbe verfemt hätte wie kein anderes. Das
Kreditgeschäft galt als Wucher, Kreditzinsen waren auch zum Teil tatsächlich
halsabschneiderisch, und so verbanden sich echte Not, schlechte Zahlungsmoral
und abgrundtiefe Verachtung für ein unüberbietbar schmutziges Gewerbe mit dem
Haß auf eine Religion, deren Inbegriff der Christusmord war.
Es leuchtet ein, daß, wer dies alles so
zusammensah, im Juden nicht den Menschen, sondern das Monster erblickte, den
sichtbaren Teil vom Reiche Satans, dessen Bedrohung allgegenwärtig war.
Weltverschwörungssyndrom, Fremdstereotype, Dämonisierung - auf den Juden paßte
alles. Und so ist das Wundersame an seiner mittelalterlichen Geschichte nicht,
daß er verfolgt wurde - wieder und wieder und immer bestialischer -, sondern
daß er diese Verfolgungen überstand. Jehudah ha-Levi, der gefeierte Poet des
sephardischen Judentums, in den Kämpfen zwischen Christen und Moslems um die
Herrschaft in Spanien sich als Jude zwischen Hammer und Amboß fühlend, gab -
bei aller Verzweiflung, die in seiner Dichtung gleichfalls Gestalt gewann -
diesem Gewahrwerden der fast irrwitzigen Möglichkeit der Errettung seines
Volkes in einem seiner berühmten Zionslieder folgenden Ausdruck[52]:
Ihr Himmelsschaaren alle,
Engel, lichtbeschwingt,
Weckt Zion laut mit Schalle,
Frieden, Frieden bringt!
Sie sitzt in bangen Klagen,
Trüb' ihr Auge schaut;
Ihr will das Herz verzagen,
Rings vom Feind umgraut.
Und horch! vom Wind getragen,
Rahels Klagelaut:
"Wohl
hatt' ich einst Propheten,
Zog
vom Nile frei;
Nun
werd' ich, ach, zertreten -
Alles
ist vorbei!"
So tönt der Hoffnungslosen
Klag' in Seufzern schwer,
Und wilde Völker tosen,
Brüllen um sie her;
Und sie, sie hat nicht Mosen,
Samuel nicht mehr.
Sie
fleht mit Händeringen:
"Gieb
mir, Gott, Bescheid!
Wann
wird dein Herz bezwingen,
Enden
dieses Leid?
Kann ich dein Herz erweichen,
Ich, dein ärmstes Kind,
Dem Schirm im Kampf nur Zeichen
Deiner Liebe sind,
Balsam bei ihren Streichen
Deine Satzung sind?
Ha,
Rettung! da mich nieder
Schon
der Strudel reißt -
Schüttle
dein Gefieder,
Heil'ger
Rachegeist?"
"Da bin ich, dich zu retten,
mein geliebter Sohn!
Mußt' ich auch hart dich betten,
Herrlich sei dein Lohn.
Inmitten deiner Ketten
War ich um dich schon.
Heermassen,
wüst und brausend,
Drangen
auf dich zu -
Mehr
als die hunderttausend,
Einziger,
bist du!
"Auf, auf zu frohen Mähren!
Engel, gebt Bericht!
Nicht strahl' aus hohen Sphären
Holdes Himmelslicht,
Bis Lust aus ihren Zähren,
Dank und Jubel bricht.
Sagt
ihnen, daß gemessen
All
ihr Elend sei;
Sagt:
alles ist vergessen,
Alles
Leid vorbei!"
* Erweiterte
Fassung eines Vortrags, der zuerst im Rahmen der 34. Fortbildungstagung für
Deutsch- und Geschichtslehrer an den Gymnasien in Bayern am 30. August 1988 im
Schloß Ising am Chiemsee gehalten wurde. Ich danke dem Leiter der Tagung, Herrn
Ministerialrat Dr. Helmut Kreutzer, für seine freundliche Bereitschaft
zuzustimmen, den Beitrag auch außerhalb des vom Bayerischen Staatsministerium
für Unterricht und Kultus vorgesehenen Publikationsorts zu veröffentlichen.
[1] Vgl. den Text mit deutscher
Übersetzung in: Festgebete der Israeliten nach der gottesdienstlichen Ordnung
im israelitischen Bethause zu Wien und in mehreren anderen Gemeinden, Bd. 3
(o.J., Nachdruck Tel Aviv 1978) S. 272-277 unter der irrigen Rubrik
"Klagen über den Brand der Thora". - Die im folgenden gegebenen
Anmerkungen sind nicht auf Vollständigkeit hin angelegt. Sie wollen bestimmte
präzise (oder nicht so präzise) Angaben belegen und auf weiterführende
Literatur aufmerksam machen.
[2] Das geht aus dem Text des
Klagelieds hervor. Vgl. im übrigen Irving
A. Agus, Rabbi Meir of Rothenburg. His Life and his Works as Sources for the
Religious, Legal, and Social History of the Jews of Germany in the Thirteenth
Century, 2 Bde. (Philadelphia 1947), hier S. 10f.
[3] Weiterführende Hinweise zu dem
gesamten Komplex der christlichen Talmudkenntnis, zu dem ich eine größere
Arbeit vorbereite, im Artikel "Talmud, burning of", in: Encyclopaedia
Judaica 15 (1971) Sp. 768-771 (Yvonne Glikson).
[4] Vgl. Hermann L. Strack,
Einleitung in Talmud und Midrasch (61976) S. 79ff. zur
handschriftlichen Überlieferung.
[5] Eine (wenn auch nicht von Mängeln
freie) Übersicht bei Markus J. Wenninger, Man bedarf keiner Juden mehr.
Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im
15. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 14, Wien-Köln-Graz
1981).
[6] Grundlegend für die Nürnberger
Vorgänge Wolfgang v. Stromer, Die Metropole im Aufstand gegen König Karl IV.,
Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 65 (1978)
S. 55-90; siehe auch Graus (wie Anm.
23) S. 208ff. Dazu Michael Toch, "Umb gemeyns nutz und nottdurfft
willen". Obrigkeitliches und jurisdiktionelles Denken bei der Austreibung
der Nürnberger Juden 1498/99, Zs. für Historische Forschung 11 (1984) S. 1-21.
[7] Zu den Vorgängen in Frankreich
und zur Geschichte des nordfranzösischen Judentums allgemein grundlegend Robert
Chazan, Medieval Jewry in Northern France. A political and social history (Baltimore- London 1973).
[8] Dies ist in dem für die Frühzeit
maßgebenden Buch von Bernhard Blumenkranz, Juifs et chrétiens dans le monde
occidental, 430-1096 (Paris-La Haye 1960), sehr deutlich herausgearbeitet
worden.
[9] Agobard von Lyon, ep. 7 von
826/7, MGH Epp. 5, 184 Z. 18ff.
[10] Zu diesen allgemeinen Entwicklungen
verweise ich nur auf Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter (2Darmstadt
1961), sowie Hans Liebeschütz (wie Anm. 11), bes. S. 135ff.
[11] Dies der Grundgedanke des von mir
aus dem Nachlaß herausgegebenen Buches von Hans Liebeschütz, Synagoge und
Ecclesia. Religionsgeschichtliche Studien über die Auseinandersetzung der
Kirche mit dem Judentum im Hochmittelalter (Heidelberg 1983).
[12] Matth. 27, 25: "Sein
Blut komme über uns und unsere Kinder."
[13] Darüber eingehend Liebeschütz (wie
Anm. 11) S. 95ff.; siehe auch Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge (5Stuttgart
1980) S. 46ff. An Quellen vgl. A. Neubauer - M. Stern, Hebräische Berichte über
die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge (Berlin 1892) S. 2/82f. (Salomo bar
Simeon) sowie Albert von Aachen, Historia Hierosolymitanae expeditionis I 26
(bzw. 27), Migne PL 166, 407.
[14] Zu den Vorgängen wie überhaupt zur
Geschichte der Juden in England vgl. die Übersicht von Paul Hyams, The Jewish
Minority in Mediaeval England, 1066-1290, Journal of Jewish Studies 25 (1974)
S. 270-293. Zur Sache vgl. auch John
Gillingham, Richard the Lionheart (London 1978) S. 130f.
[15] Eine umfassende moderne Darstellung
dazu fehlt. Am besten immer noch Hermann L. Strack, Der Blutaberglaube in der
Menschheit, Blutmorde und Blutritus. Zugleich eine Antwort auf die
Herausforderung des "Osservatore Cattolico" (4München
1892). Der Untertitel zeigt die Aktualität des Themas zu dieser Zeit. Reiches Material auch bei Gavin I. Langmuir, L'absence
d'accusation de meurtre rituel à l'ouest du Rhône, in: Juifs et judaïsme de
Languedoc. XIIIe siècle - début XIVe siècle, sous la
direction de M.-H. Vicaire et B. Blumenkranz (Toulouse 1977) S. 235-249.
[16] MGH
Const. 2, 274-276 n. 204.
[17] Potthast Nr. 12596 vom 5. Juli 1247 (Lachrymabilem Iudeorum); vgl. den
Text bei Solomon Grayzel, The Church and the Jews in the XIIIth Century (2New
York 1966) S. 268-271 Nr. 116. Zur Sache auch Edward A. Synan, The Popes and
the Jews in the Middle Ages (New York-London 1965) S. 114f.
[18] Vgl. R. Chazan S. 180, der indessen nicht die
Blutbeschuldigung gegeben sieht. Der dem Typus entsprechende Verlauf der
Ereignisse scheint aber ganz in diese Richtung zu weisen.
[19] Zu Simon von Trient, der bis 1965
kanonische Verehrung genoß, vgl. Willehad Paul Eckert, Aus den Akten des
Trienter Judenprozesses, in: Judentum im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia
4, Berlin 1966) S. 281-336, bes. Korrekturnachtrag S. 336, sowie Bibliotheca
Sanctorum Bd. 11 (1968) Sp. 1184-1188 (Iginio Rogger). Zum "Guten
Werner", der es über lokal begrenzte Verehrung nicht hinausbrachte, vgl.
Erwin Iserloh, Werner von Oberwesel. Zur Tilgung seines Festes im Trierer
Kalender, Trierer Theologische Zs. 72 (1963) S. 270-285; dazu Bibliotheca
Sanctorum Bd. 12 (1969) Sp. 956f. (Claude Boillon).
[20] Dazu jetzt vor allem Friedrich
Lotter, Hostienfrevelvorwurf und Blutwunderfälschung bei den Judenverfolgungen
von 1298 ("Rintfleisch") und 1336-1338 ("Armleder"), in:
Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae
Historica, München, 16.-19. September 1986, Teil 5 (MGH Schriften 33, 5, 1988)
S. 533-583. - Der Gedanke, daß Juden sich an der Hostie vergangen hätten, ist
von besonderer Absurdität, denn er setzt voraus, daß die Juden zum einen
Probleme mit der Realpräsenz Christi in der Hostie gehabt hätten (weil nur dann
die Marterei Sinn ergäbe), und daß ihnen zum anderen nicht schon die bloße
Berührung mit einer christlichen res sacra ein Greuel gewesen wäre. Der Vorwurf
ist folglich seiner Natur nach ein klassisches Beispiel für die Übertragung
christlicher Obsessionen auf nichtchristliche Religionsgemeinschaften im Sinne
der verkehrten Welt. F. Lotter hat das Motiv zu Recht in den weiteren Rahmen
der Blutwunderfälschungen der Mirakel- und Exempla-Literatur gestellt, d.h.
literarhistorisch behandelt; historisch gibt das Motiv als Motiv sicherlich
nichts her.
[21] In Deggendorf sind sie aus der über
dem Judenviertel errichteten "Gnad" 197# nach einer Pressekampagne
entfernt worden. Damit wurde ein einmaliges Anschauungsmaterial den Blicken der
interessierten Öffentlichkeit entzogen. Der Vorgang belegt ein fragwürdiges
Verhältnis zu Zeugnissen der Vergangenheit: Wo sie mißfallen, sollten sie zur
Auseinandersetzung provozieren, Mahnung sein; wer darauf hinwirkt, daß sie
versteckt oder gar vernichtet werden, stiftet Ahnungslosigkeit, nicht etwa
Umkehr.
[22] Weiterführende Angaben hierzu in
den Deggendorf-Artikeln der Germania Judaica Bd. 2, 1 (Tübingen 1968) S. 157,
und 3, 1 (Tübingen 1987) S. 221 sowie vor allem bei F. Lotter S. 569ff.
[23] Dazu jetzt grundlegend Frantisek
Graus, Pest - Geißler - Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit
(Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86, Göttingen
1987), hier S. 299f. Anm. 4 die Belege für die wenigen späteren Beispiele, wo
der Vorwurf der Brunnenvergiftung außerhalb der Jahre 1348-1350 gegen Juden
erhoben wurde. - Von diesem Werk nicht überholt ist Alfred Haverkamp, Die
Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher
Städte, in: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und
der frühen Neuzeit, hg. von A. Haverkamp (Monographien zur Geschichte des
Mittelalters 24, Stuttgart 1981) S. 27-93.
[24] Eingehend dazu Graus S. 299-340,
hier bes. S. 301-314.
[25] Vgl. Graus S. 159ff.
[26] Reiche Belege ebd. S. 328ff.
[27] Anders Graus S. 331. Anders auch
Peter Herde, Von der mittelalterlichen Judenfeindschaft zum modernen
Antisemitismus, in: Geschichte und Kultur des Judentums, hg. von K. Müller - K. Wittstadt (Würzburg 1988) S.11-69, hier
S. 25ff.
[28] Wolfgang von Stromer, Oberdeutsche
Hochfinanz 1350-1450 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Beihefte 55-57, Wiesbaden 1970) S. 170f. Zu Nürnberg siehe oben Anm. 6.
[29] Anders Graus, dessen Krisenmodell
mich nicht überzeugt, gerade weil er wie niemand vor ihm die
Steuerungsmechanismen beim Ablauf der Verfolgung aufdeckte. Rationale Steuerung
und Panik sind aber nach meinem Dafürhalten unvereinbare Größen, wenn man ein
einheitliches Erklärungsmodell für die Verfolgungen gebraucht.
[30] Diskutiert wird dies für Frankfurt,
Mainz und Würzburg.
[31] Die beste Sammlung dieses Materials
(dem auch die unten folgenden Beispiele zum Teil entnommen sind) stellte
Bernhard Blumenkranz in einem kleinen Bildbändchen zusammen: "Juden und
Judentum in der mittelalterlichen Kunst" (Stuttgart 1965).
[32] Zu diesem Motivkreis Isaiah
Shachar, The Judensau. A Medieval Anti-Jewish
Motif and Its History (Warburg Institute Surveys 5, London 1974).
[33] Matth. 8, 28-34. - Lehrreich zur
Ikonographie des Schweines insgesamt Wilfried Schouwink, Der wilde Eber in
Gottes Weinberg. Zur Darstellung des Schweins in Literatur und Kunst des
Mittelalters (Sigmaringen 1985).
[34] Vgl. etwa Klaus Aichele, Das
Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und Gegenreformation (Den
Haag 1974), bes. S. 140ff.
[35] Einschlägiges
Material bei Joshua Trachtenberg, The Devil and the Jews (New Haven 1945);
Daniel Iancu-Agou, Le diable et le juif: Représentations médiévales
iconographiques et écrites, in: Le diable au moyen âge (Doctrine, problèmes
moraux, représentations) (Sénéfiance 6, Aix-en-Provence 1979) S. 259-276.
[36] Oremus
et pro perfidis Iudeis, ut Deus et dominus noster auferat velamen
de cordibus eorum, ut et ipsi agnoscant Iesum Christum dominum nostrum. Oremus. Vgl. den Text im Pontificale Romano-Germanicum,
Ordo 99 (= Ordo Romanus 50), ed. C. Vogel - R. Elze (Studi e testi 227, Città
del Vaticano 1963) Bd. 2, S.89 § 324. Seit dem II. Vatikanum fehlt das
`perfidis' an dieser Stelle. Zum ursprünglichen Bedeutungsgehalt des Wortes,
das von Anfang an pejorativere Konnotationen hatte, als es manche philologische
Untersuchungen wahrhaben wollten, zuletzt Bernhard Blumenkranz, Perfidia,
Archivum latinitatis medii aevi 22 (1952) S. 157-170.
[37] Vgl. zum Folgenden Petrus Venerabilis,
Adversus Iudaeorum inveteratam duritiem, prol., ed. Yvonne Friedman, CC cont.med. 58 (1985) S. 1f.
[38] Ebd.
c. 1, S. 14 Z. 387ff.
[39] Ebd. c. 3, S. 57f. Z. 564ff.: Nescio
plane, utrum Iudeus homo sit, qui nec rationi humanae caedit, nec
auctoritatibus divinis, et propriis adquiescit. Nescio, inquam, utrum homo sit,
de cuius carne nondum cor lapideum ablatum est, cui nondum datum est cor
carneum, in cuius medio nondum positus est divinus spiritus, sine quo ad
Christum nunquam potest converti Iudeus.
[40] Zur Geschichte der Juden in Spanien
grundlegend Yitzhak Baer, A History of the Jews in Christian Spain, 2 Bde.
(Philadelphia 1961).
[41] Ich denke hier vor allem an Texte
wie die Toldoth Jeschu, jene das neutestamentliche Heilsgeschehen
popularisierend verspottende Erzählung vom Leben Jesu; dazu Samuel Kraus, Das
Leben Jesu nach jüdischen Quellen (Berlin 1902). Sehr instruktiv sodann
(insbesondere auch in der Einleitung) David Berger, The Jewish-Christian debate
in the High Middle Ages. A critical
edition of the Nizzahon Vetus, with an introduction, translation, and
commentary (Philadelphia 1979).
[42] Agobard von Lyon und Petrus
Venerabilis sind die wichtigsten Beispiele.
[43] Von der am weitesten verbreiteten
Schrift dieser Literatur, der sog. "Pharetra fidei contra Iudeos",
sind mir weit über hundert Handschriften bekannt geworden.
[44] Vgl. Baer 2, 281.
[45] Dasselbe gilt übrigens auch für den
rückfällig gewordenen ehemaligen `Heiden'.
[46] Kein geringerer als der in der
Literatur im allgemeinen als judenfreundlich geltende Bernhard von Clairvaux
tat sich hervor mit der krausen Bemerkung, es sei eine Schande für Christus,
daß ein Judensproß auf den Stuhl Petri gelangt sei: ... constat Iudaicam
sobolem sedem Petri in Christi occupasse iniuriam (S. Bernardi Opera omnia
7, ed. J. Leclercq - H. Rochais [Romae 1974] S. 335f. Nr. 139); dazu David Berger, The Attitude of St.
Bernard of Clairvaux Toward the Jews, Proceedings of the American Academy for
Jewish Research 40 (1972) S. 89-108. Vgl. im übrigen zum anakletianischen
Schisma Franz-Josef Schmale, Studien zum Schisma des Jahres 1130 (Forschungen
zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 3, Köln 1961), sowie
jetzt Mary Stroll, The Jewish Pope. Ideology and
Politics in the Papal Schism of 1130 (Brill's Studies in Intellectual History
8, Leiden u.a. 1987), bes. S. 156ff. Siehe auch Stanley Chodorow, Christian
Political Theory and Church Politics in the Mid-Twelfth Century (Berkeley 1972)
S. 27ff.
[47] Dazu eingehend Guido Kisch,
Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während
des Mittelalters (2Sigmaringen 1978).
[48] Siehe Thietmar von Merseburg,
Chronicon III 21, ed. Robert Holtzmann, MGH SS rer. Germ., N.S. 9 (1935) S.
124/125 mit Anm. 8.
[49] Vgl. R. Straus, Die Juden im
Königreich Sizilien unter Normannen und Staufern (Heidelberger Abh. zur
mittleren und neueren Geschichte 30, Heidelberg 1910), bes. S. 79ff.; dazu
Gunther Wolf, Kaiser Friedrich II. und die Juden. Ein Beispiel für den Einfluß
der Juden auf die mittelalterliche Geistesgeschichte, in: Judentum im
Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 4, Berlin 1966) S. 435-441.
[50] Léon
Poliakov, Les banchiers juifs et le Saint-Siège du XIIIe au XVIIe
siècle (Paris 1965), bes. S. 93ff.
[51] Diesen Gesichtspunkt betont zu
Recht Liebeschütz S. 181ff. Siehe zu diesem Zusammenhang auch Michael Toch,
Judenfeindschaft im deutschen späten Mittelalter, in: Judentum und
Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart. Im Auftrag des Fachbereichs
Geschichtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg hg. von Th. Klein, V.
Losemann, G. Mai (Düsseldorf 1984) S. 65-75 sowie F. Graus (wie Anm. 23) S.
352ff.
[52] Deutscher Text in der Übersetzung
von S. Heller zitiert nach: Divan des Jehuda Halevi. Eine Auswahl in deutschen
Übertragungen, von Abr. Geiger, S. Heller u.a. (Berlin 1893) S. 71-73 (Nr.1).