plus ultra ...!
I
n h a 1 t: 1. Wie verlief die Inquisition Konrads von Marburg?,
S. 642. - 2. Der Abschnitt De secta Manicheorum im Sammelwerk des Passauer
Anonymus als Zeugnis der Inquisition Konrads von Marburg, S. 651. - 3.
Konrad von Marburg als Ketzerrichter, S. 665. - Exkurs: War Konrad von
Marburg an der Verurteilung des Propstes Heinrich Minnike von Neuwerk in
Goslar beteiligt?, S. 690.
Nicht
allzu oft fiel das einhellige Urteil der Zeitgenossen wie der Historiker
unserer Tage über eine geschichtliche Gestalt so zwiespältig
aus wie bei Konrad von Marburg, der sich als Kreuzprediger einen Namen
machte, der als Seelenführer der heiligen Elisabeth (und treibende
Kraft bei ihrer Heiligsprechung) zu Berühmtheit gelangte und dessen
erbarmungslose Ketzmerfolgung von 1231 bis zu seiner Ermordung 1233 ihm
den Ruf eines düsteren Fanatikers eintrug[1].
Dieser letzteren Rolle gilt der folgende (642) Beitrag, der keine
abschließende Gesamtwürdigung von Konrads Verhalten im Rahmen
der Ketzerverfolgung seiner Zeit beabsichtigt, sondern der zum einen die
bisher bekannte Quellengrundlage erweitern und zum anderen die rechtliche
Seite vom Vorgehen Konrads gegen die Ketzer neu beleuchten soll.
Vorausgeschickt
sei jedoch eine knappe Skizze vom Gang der Ereignisse, teils zur leichteren
Einordnung der hier im Mittelpunkt stehenden Fragen, vor allem aber, weil
die bisherigen Darstellungen in unkritischer Vermengung der verschiedenen
Quellenaussagen davon ein reichlich irreführendes Bild entworfen haben.
1.
Wie verlief die Inquisition Konrads von Marburg?
Den
zeitlichen Rahmen von Konrads Tätigkeit auf dem Felde der Ketzerverfolgung
stecken eine Reihe von Papstschreiben ab. Am Anfang steht ein Brief Gregors
IX. vom 12. Juni 1227, worin der Papst Konrad befiehlt, in Fortsetzung
schon vorausgegangener Ketzersuche weiterhin in Deutschland Ketzer aufzuspüren,
um sie von den zuständigen Gerichten aburteilen zu lassen[2].
Dieses Schreiben ist von der Forschung zu Recht als (643) Aufforderung
verstanden worden, per denuntiationem als „Synodalzeuge“ Ketzer vor das
bischöfliche Sendgericht zu bringen[3].
Einen wesentlichen Schritt weiter führt dann ein Brief Gregors IX.
vom 11. Oktober 1231 mit der Übertragung inquisitiorischer Vollmachten
an Konrad, die das Recht vor allem zur selbständigen Gerichtsausübung,
zur Subdelegierung bestimmter Verfahrensteile, zur Anrufung des „weltlichen
Arms“ und zur Verhängung von Exkommunikation und Interdikt gegen die
Protektoren von Ketzern beinhalteten[4].
Nicht immer ist in der Forschung erkannt (644) worden, daß
Konrad mit diesem Schreiben zum päpstlichen delegierten Richter bestellt
wurde, die päpstliche Ketzerinquisition damit in Deutschland, ja überhaupt
in Europa, ihren Anfang nahm[5].
Die päpstliche Über(645)tragung inquisitorischer Vollmachten
an Konrad ist nicht isoliert zu sehen, denn mit fast denselben Worten hat
Gregor IX. wenige Tage später, am 22. November 1231, dem Regensburger
Dominikanerprior Burkard und dessen Mitbruder Theodorich dieselben Kompetenzen
zugesprochen, unter Verwendung des für die Betrauung mit dem Inquisitorenamt
namentlich der Dominikaner dann geradezu klassisch werdenden Briefformulars
mit dem Exordium Ille humani generis[6].
Im
Oktober 1231 also begann Konrads selbständige Inquisitionstätigkeit
als delegierter päpstlicher Richter, und zwar als einer von mehreren[7],
deren Inquisitionssprengel im übrigen nicht (646) klar voneinander
abgegrenzt
erscheinen[8].
Er waltete bis zu seiner Ermordung am 30. Juli 1233 dieses Amtes. In diesen
knapp zwei Jahren übte Konrad ein derartiges Schreckensregiment aus,
daß der Anteil der neben ihm wirkenden dominikanischen Inquisitoren
gänzlich verblaßte und den Zeitgenossen allein als sein Werk
erschien, das sie bezeichnenderweise an die Verfolgung rechtgläubiger
Christen durch den die Arianer fördernden römischen Kaiser Konstantius
II. und an Julian Apostata erinnerte[9].
Über
das, was da geschah, berichten hauptsächlich vier Chronisten, deren
Zeugnis von sehr unterschiedlichem Quellenwert ist: 1. Die bei weitem beste
Quelle ist die anonyme Continuatio IV der Gesta Treverorum, verfaßt
ca. 1242, mit ausgewogenem und sachkundigem Urteil, nüchterner Sprache
und offenkundig zuverlässiger Berichterstattung[10];
2. ergänzend dazu treten die um 1254 niedergeschriebenen Annalen der
Erfurter Dominikaner, die leider keine zusammenhängende Schilderung,
sondern auf die Jahre 1232-1234 verteilte Notizen bieten, diese freilich
schnörkel(647)los, sorgsam
und treffend[11];
3. von weitaus minderer Qualität, mit deutlicher Neigung zur Legendenbildung
und zum falschen Verknüpfen von Tatsachen ist die bis 1241 reichende
Weltchronik des Zisterziensers Alberich von Troisfontaines, deren hauptsächlicher
Wert in der Überlieferung eines ungemein wichtigen Zeugnisses besteht:
eines Schreibens Erzbischof Siegfrieds III. von Mainz (1230-1249) und des
Dominikaners Bernhard, bezeichnet als „ehemaliger Pönitentiar des
Papstes“[12]
, das unter scharfer Mißbilligung von Konrads prozeßrechtlichem
Vorgehen Gregor IX. über die Maßnahmen der Mainzer Synode vom
2. April 1234 unterrichtete, die mit der Ordnung der inquisitorischen Hinterlassenschaft
Konrads beschäftigt gewesen war[13];
4. einen äußerst geringen Quellenwert schließlich besitzt
der nur aus späten Überlieferungen rekonstruierte Text einer
von 1221 bis 1261 reichenden Wormser Bischofschronik, deren konfuser, ins
Moralisierend-Erbauliche gewendeter und mit etlichen nachweislichen Falschinformationen
befrachteter Bericht mehr den Wert eines Stimmungsbildes als den einer
Fundgrube hieb- und stichfester Nachrichten besitzt[14].
Aus dieser Charakterisierung ergeben sich die Folgerungen für die
Verwendung der vier Quellen von selbst: jede Darstellung der Ereignisse
muß von der Continuatio IV der Gesta Treverorum ausgehen (künftig:
Cont. Trev.), deren Bericht mit den gleichrangigen Nachrichten der Erfurter
Dominikaner (künftig: Ann. Erph. OP) und des Briefes Siegfrieds III.
von Mainz und des Dominikaners Bernhard (künftig: Ep. Sigfr.) zu verbinden
ist; größte Vorsicht jedoch ist gegenüber den anderen Mitteilungen
Alberichs und vor allem der Wormser Bischofschronik am Platz.
(648)
Danach läßt sich von Oktober 1231 bis Juli 1233 folgender Ablauf
der Ereignisse erschließen: Konrad von Marburg, als princeps et
caput huius persecutionis
von der Cont. Trev. apostrophiert[15],
hatte sich – der Anweisung Gregors IX. folgend[16]
- zwei Gehilfen zugesellt, die als subdelegati für ihn tätig
waren[17]
und in dieser Funktion vor allem die Voruntersuchungen geführt haben
müssen[18].
Es handelte sich um Konrad Tors, einen Dominikaner[19],
und um einen Mann namens Johannes (offenbar ein Laie), der durch
das in der Vorstellung eines
mittelalterlichen Menschen böse Omen eines fehlenden Auges und einer
fehlenden Hand gezeichnet war[20].
(649)Beide
machten sich derart verhaßt, daß selbst das Gerücht umlief,
sie seien ehemals Ketzer gewesen[21],
und daß die Wormser Bischofschronik ihnen sogar die zunächst
führende Rolle bei der ganzen Verfolgung zurnaß[22].
Das letztere ist sicher falsch, das erstere kaum richtig[23],
aber beide Behauptungen illustrieren den Ruf, den sich diese Gehilfen in
Diensten Konrads erworben haben, und die Nachricht der Wormser Bischofschronik
erscheint diesmal glaubhaft, daß beide nach Konrads Ermordung auch
selbst umkamen: der eine, Konrad Tors, in Straßburg, der andere,
Johannes, in Friedberg (Hessen)[24].
Dieses Dreiergespann hat zahllose angebliche oder wirkliche Häretiker
auf den Scheiterhaufen gebracht[25],
und es machte an keiner sozialen Schranke halt[26]:
Unter den ca. 50 Männern, die (650) nach Konrads Tod eine Rehabilitierung
der von Konrad ausgesprochenen Verurteilung als geständige Ketzer
erreichten, war z. B. kein geringerer als ein Graf von Solms[27].
Eines anderen aber wurde Konrad nicht Herr, und der Prozeß gegen
ihn bildete zugleich Peripetie und Anfang vom Ende seiner Inquisitionstätigkeit:
das war der Prozeß gegen den mächtigen Grafen Heinrich III.
von Sayn († 1247)[28],
dem es gelang, seine Sache der Inquisitionsjustiz Konrads zu entziehen
und nach den Regeln des ordentlichen deutschrechtlichen Klageverfahrens
unter Vorsitz des Königs (Heinrich VII.) vor seinen fürstlichen
Standesgenossen (geistlichen wie weltlichen) auszufechten, mit Konrad als
Ankläger[29].
Als sich vor diesem Forum die von Konrad ins Feld geführten Zeugenbeweise
(die anderswo zum Tode oder entehrenden Geständnis geführt hatten)
als wertlos erwiesen, Konrad zudem noch zum Ketzerkreuzzug gegen Leute
aufgerufen hatte, die sich seinem Tribunal nicht stellen wollten, war die
Empörung so allgemein, daß König Heinrich (VII.) und die
Erzbischöfe von Mainz und Trier sich beschwerdeführend an den
Papst wandten und Konrad unmittelbar darauf mit seinem Gefährten,
dem Franziskaner Gerhard Lutzelkolb[30],
ermordet wurde. Im Gegensatz zu dem wenig später (1252) von Katharern
umgebrachten Inquisitor Petrus Martyr hat er es auch nie zur Ehre der Altäre
gebracht, obwohl es gewisse Ansätze zu einem lokalen Kult gab[31].
(651)
Dies in großen Zügen die Geschehnisse nach den bisher bekannten
Quellen[32].
Nicht hinsichtlich des Geschehens, wohl aber nach der häresiegeschichtlichen
Seite hin läßt sich das Spektrum dieser Zeugnisse erweitern
um eine bisher nicht ins Blickfeld getretene Quelle:
2.
Der Abschnitt De secta Manicheorum im Sammelwerk des Passauer Anonymus
als Zeugnis der Inquisition Konrads von Marburg
Der
häreseologische Teil des Sammelwerkes eines um 1260/66 schreibenden
unbekannten Geistlichen der Passauer Diözese - daher in der Literatur
Passauer Anonymus genannt - gegen Juden, Ketzer und Antichrist[33]
enthält unter der Überschrift De secta Manicheorum ein
Konglomerat von Textstücken, die sich bei näherem Zusehen wenigstens
teilweise dem historischen Zusammenhang der Inquisition Konrads von Marburg
zuweisen lassen[34]:
1. einen frei formulierten Auszug aus dem Manichäerkapi(652)tel
in Augustins Traktat De haeresibus (c. 46); 2. den Auszug aus dem Verhörsprotokoll
eines für kürzere oder längere Zeit in Löwen ansässig
gewesenen Katharers namens Burchard (Manichei cuiusdam confessio sive
Paterini sive cuiusdam de alta secta); 3. den Bericht über die
Katharersekte (error Katerorum de alta vita) auf der Grundlage des
Geständnisses eines Ketzers Lepzet, das jener in facie burgensium
et populi Coloniensis abgelegt habe; 4. ein ebenfalls ins Sammelwerk
des Passauer Anonymus aufgenommenes, aber nur in einer bestimmten, außerhalb
der Passauer-Anonymus-Tradition stehenden Überlieferung (Hs. St. Gallen
974) im Kontext des „Manichäer“-Abschnitts befindliches Frageformular
zum Zwecke inquisitorischer Ketzerverhöre[35].
Von
diesen Textstücken weist vor allem Nr. 3, der Bericht über die
Katharersekte nach dem Geständnis des in Köln verhörten
Ketzers Lepzet, deutliche Übereinstimmungen mit drei Quellen für
die Ketzerverfolgung Konrads von Marburg auf: 1. mit den in der Cont. Trev.
Notierten articuli haereticorum; 2. mit bestimmten Nachrichten Alberichs
von Troisfontaines, auch mit der von ihm überlieferten Ep. Sigfr.;
3. mit Gregors IX. Schreiben „Vox in Rama“ (1233 Juni 11, 13, 14)[36],
das aufgrund von Berichten Erzbischof Siegfrieds III. von Mainz, Bischof
Konrads von Hildesheim und Konrads von Marburg[37]
das Bild einer dem Teufelskult huldigenden Sekte in Deutschland entwirft.
Besonders
das Porträt dieser „luziferianischen“ Sekte in Gregors IX. „Vox in
Rama“ gleicht bis in den Wortlaut hinein dem, was der Ketzer (653) Lepzet
in Köln über die Katharerriten gestanden haben soll. Das beginnt
mit der Schilderung des Szenariums vom Initiations- bzw. Versammlungsritus
der Sekte, wo der Novize beim Austritt aus dem Haus des ihn in die Sekte
aufnehmenden „Meisters“ zu küssen hat, was immer ihm begegnet, und
das sind höchst gräßliche Dinge wie einen schwarzen Mann
von schrecklicher Gestalt und bleichem Antlitz sowie eine Kröte; und
schließlich haben alle Sektenangehörigen auf dem Höhepunkt
der Feier das Hinterteil eines Katers zu küssen, in welcher Gestalt
ihnen der Teufel zu erscheinen pflegt, der nach dem Kußakt das Licht
löscht und damit das Zeichen gibt zum freien - und zwar widernatürlichen
- Geschlechtsverkehr. Die entsprechenden Textpassagen im Geständnis
des Ketzers Lepzet und in „Vox in Rama“ lauten[38]:
Passauer
Anonymus,
De
secta Manicheorum Cum
quis sectam Katerorum ingredi desiderat, primo altaria omnium sanctorum
cum natibus suis tribus vicibus osculatur renunciando ecclesiasticis sacramentis.
Demum ingressus domum magistri erroris illius iubetur osculari quodcumque
occurreret ei primum, quando limen domus egreditur. Et statim occurrit
ei statura horribilis facie pallidus homo niger, quem osculans
procedit; et tunc occurrit ei bufo maximus ad modum urne grossus
hyanti ore, quem similiter osculatur. Et sic factus frater secte
regreditur in domum magistri sui. Quando autem ritus sui erroris volunt
exercere, descendunt in speluncam suam sive cellarium occulte, ubi episcopus
eorum vel magister primo omnium suas nates denudat, et infigitur natibus
eius argenteum coclear, et facta oblacione sua in illo omnes osculantur
eum in posteriora adorantes. Postea stantibus vel consedentibus eis circa
columpnam subitus venit cattus maximus ascendendo columpnam
ad lumen ibidem fixum, ubi aliquamdiu herens caudam suam quasi ad
tergum retorquet, et accedunt omnes etosculantur
eum in posteriora. Quo peracto
cattus lumen extinguit, et statim singuli se abutuntur invicem,
masculi in masculos et femine in
feminas turpitudinem operantes. Et
ita consumatur misterium iniquitatis. |
Gregor
IX.,
„Vox
in Rama” Huius
pestis initia talia perferuntur: nam dum novitius in ea quisquam recipitur
et perditorum primitus scholas intrat, apparet ei species quedam rane,
quam bufonem consueverunt aliqui nominare. Hanc quidam a posterioribus
et quidam in ore damnabiliter osculantes,
linguam bestie intra ora sua recipiunt er salivam. Hec apparet interdum
indebita quantitate, et quandoque in modum anseris vel anatis, plerumque
furni etiam quantitatem assumit. Demum novitio procedenti occurrit miri
palloris homo, nigerrimos habens oculos, adeo extenuatus et macer,
quod consumptis carnibus sola cutis relicta videtur ossibus superducta;
hunc novitius osculatur et sentit frigidum sicut glaciem, et post osculum
catholice memoria fidei de ipsius corde totaliter evanescit. Ad convivium
postmodum discumbentibus, etsurgentibus
completo ipso convivio, per quandam statuam, que in scholis huiusmodi esse
solet, descendit
retrorsum ad modum canis mediocris gattus niger retorta cauda,
quem a posterioribus primo novitius, post magister, deinde singuli
per ordinem
osculantur, qui tamen digni sunt er perfecti; imperfecti vero, qui
se dignos non reputant, pacem recipiunt a magistro, et tunc singulis per
loca sua positis, dictisque quibusdam carminibus, ac versus gattum capitibus
inclinatis: ,Parce nobis’, dicit magister, et proximo cuique hoc precipit,
respondente tertio ac dicente: Scimus magister’;quartus
ait: ,Et nos obedire debemus’; et his ita peractis extinguuntur
candele, et proceditur ad fetidissimum opus luxurie, nulla discretione
habita inter extraneas et propinquas. Quod si forte virilis sexus supersunt
aliqui ultra numerum mulierum, traditi in passiones ignominie, in desideriis
suis invicem exardentes, masculi in masculos turpitudinem operantur,
similiter et femineimmutant
naturalem usum in eum, qui est contra naturam, hoc ipsum inter se dampnabiliter
facientes. |
Daß
beide Quellen über denselben (angeblichen) historischen Sachverhalt
berichten, ist evident. Da bleibt nicht einmal Raum für die - an sich
gut mögliche - Annahme, hier könnte eine ältere gemeinsame
Überliefe(655)rung vorliegen, denn zwar setzt die Tradition
vom Teufelskult der Ketzer lange schon vor Konrad und seiner Zeit ein[39],
aber deren ältere (wie jüngere) Ausprägungen stehen - verglichen
mit der fast nahtlosen Übereinstimmung zwischen „Vox in Rama“ und
dem Manichäerkapitel des Passauer Anonymus -unserem
Beispiel doch deutlich ferner. Wir können also davon ausgehen, in
diesen beiden Textzeugen zwei verschiedene Stränge ein und derselben
Tradition vor uns zu haben, die in dieser Ausprägung im Umfeld von
Konrads Inquisition (und nur dort!) anzusiedeln ist und die das Bild vom
Ketzer dieser Zeit in Deutschland in unverwechselbarer Weise bestimmte.
Das
wird noch unterstrichen durch parallele Nachrichten bei Alberich von Troisfontaines
über ein Götzenbild Luzifers in Köln und das Zeugnis der
Ep. Sigfr., deren Autoren sich darüber mokieren, Konrad habe seine
Opfer zu dem Geständnis gezwungen, „eine Kröte, einen Kater,
einen bleichen Mann und ähnliche Ausgeburten des Unglaubens mit dem
Friedenskuß begrüßt zu haben“[40].
Komprimiert findet sich dasselbe in der Cont. Trev.[41],
vermehrt um eine weitere höchst eigentümliche Nachricht, die
nur hier und im Bericht über Lepzets Geständnis überliefert
wird, nämlich die Behauptung, die Ketzer würden gegen Zahlung
bestimmter (Buß-?)Taxen die Schranke des Verwandtschaftsverhältnisses
bei Eheschluß bzw. Geschlechtsverkehr mit der eigenen Mutter (oder
Schwester und Patin) für aufgehoben halten[42]:
Passauer
Anonymus, De secta Ma nicheorum
Matrimonium
dampnant dicentes hoc esse iuratoriam fornicacionem; sed incestum naturalem
cum matre propria vel sorore aut commatre dicunt esse mundam fornicacionem,
dummodo fiat secundum ritum secte, qui talis est: Si quis predictorum vult
abuti propria matre, dabit ei XVIII denarios, sex pro eo
quod concepit eum, sex pro eo quod peperit eum, sex pro eo quod nutrivit
eum; et sic soluta lege nature licenter abutitur ea, quia nichil ei attinere
putatur et omnino liber efficitur ab omni reverencia matris naturali, sicut
saccus liber efficitur a frumento quando fuerit excussum. Quodsi
sorore voluerit abuti, dabit ei sex denarios; si commatre, dabit ei novem
denarios. |
Cont.
Trev.
... alii
matres proprias, redimentes consanguinitatem, que ibi erat, per
18 denarios, in coniugium sumebant |
(656)
Übereinstimmend verbreiten sich der Bericht über das Geständnis
Lepzets, die Cont. Trev. und „Vox in Rama“ auch über den Kern der
„luziferianischen“ Lehre: den Mythos vom ungerechten Engelssturz und Wiederaufstieg
Luzifers in den Himmel am Ende der Zeiten, den die Gläubigen durch
besondere Askese geistlich vorzubereiten hätten. Dabei sei als bemerkenswert
festgehalten, daß dieses in allen drei Quellen gemeinsam überlieferte
Dogma wenigstens teilweise den Aussagen ganz unterschiedlicher Personen
entnommen wurde: in der Cont. Trev. einer in Trier verhörten Frau
namens Lucardis, im Passauer Anonymus dem Geständnis des Kölners
Lepzet; in „Vox in Rama“ ist kein Gewährsmann angegeben, doch braucht
dieser mit den beiden anderen nicht identisch gewesen zu sein[43].
Passauer
Anonymus, De secta Manicheorum
Credunt
autem predicti Katari, quod deus celi quem sancta colit ecclesia sit deus
iniustus, eo quod per violenciam iniustam de celo expulerit Luciferum,
deum suum, quem vocant supremum patrem suum, qui omnia visibilia creavit,
ut dicunt, et corpora humana; quem putant in fine seculi per violenciam
regnum suum debere recuperare, ita quod sol et luna simul unum puerum procreabunt,
qui erit Antichristus, cuius adiutorio vincet Michaelem, et deus celi et
angeli eius firmabit(!) regnum Luciferi. Quidam eciam de predictis hereticis
magnas agunt penitencias et asperas in auxilium dei sui, ut suum contra
deum nostrum obtineat regnum, sicut predictus Lepzet hereticus de se fuit
in iudicio publice confessus, videlicet quod quinque annis portaverat cilicium
ad carnem propter Luciferum. |
Cont.
Trev.
Nam
exusta est ibi (sc. Trier) quedam Lucardis, que sanctissime vite putabatur,
que incredibili lamentatione lugebat Luciferum iniuste de celo extrusum,
quem volebat replorare denuo in celum. |
„Vox
in Rama”
Ad
hec infelicissimi omnium miserorum gubernantem celestia pollutis labiis
blasphemantes asserunt delirando, celorum dominum violenter contra iustitiam
et dolose Luciferum in inferos detrusisse. In hunc etiam credunt miseri,
et ipsum affirmant celestium conditorem, et adhuc ad suam gloriam precipitato
Domino rediturum, per quem cum eodem et non ante ipsum se sperant eternam
beatitudinem habituros. |
(658) Wäre
somit der Bericht über die Katharersekte nach dem Kölner Geständnis
des Ketzers Lepzet zweifelsfrei dem historischen Zusammenhang der Inquisition
Konrads von Marburg zuzuordnen, so läßt sich das bei den anderen
Textstücken des Manichäer-Abschnitts im Sammelwerk des Passauer
Anonymus nicht mit der gleichen Bestimmtheit sagen. Dabei mag es als unerheblich
dahingestellt bleiben, ob erst der Passauer Anonymus die Auszüge aus
Augustins Manichäer-Kapitel in De haeresibus zusammenstellte oder
sie in dieser oder ähnlicher Form schon Konrad von Marburg und seinen
Gehilfen oder irgendeinem der anderen in Deutschland tätigen Inquisitoren
als Orientierungsgrundlage mit zur Verfügung gestanden haben - die
Vertrautheit der deutschen Inquisitoren mit Augustins antimanichäischen
Schriften wird man ohnehin voraussetzen können, hatte doch schon Ekbert
von Schönau anläßlich der Kölner Katharer-Verurteilungen
von 1163 in seinen Sermones adversus Catharorum errores ausdrücklich
Augustin als Gewährsmann zur Unterrichtung über die Katharer
seiner Zeit in Anspruch genommen[44].
Immerhin fällt auf, daß eine vom Geständnis Burchards zu
jenem Lepzets überleitende Textpassage[45]
in gleicher Weise aus Augustins De haeresibus stammt wie der Vorspann zu
Burchards Geständnis, so daß der Schluß sich aufdrängt,
auf jeden Fall diese beiden Abschnitte als Texteinheit zu betrachten, die
- da in der Hs. St. Gallen 974 außerhalb der Passauer-Anonymus-Tradition
überliefert - zeitlich schon vor diesem Sammelwerk hergestellt worden
sein muß.
(659) Von
historisch sehr viel größerem Interesse als bei den Augustin-Exzerpten
wäre es jedoch zu wissen, ob das Geständnis Burchards selbst
in den Zussammenhang der Inquisition Konrads von Marburg gehört. Burchard
war zumindest zeitweilig mit seinen Eltern in Löwen ansässig,
scheint aber an anderem Ort verhört worden zu sein[46].
Seine Aussagen weisen nun leider nur allgemein bekannte Glaubenssätze
der Katharer auf wie die Lehre, daß der Teufel diese Welt geschaffen
habe, Christus Mensch, nicht Gott sei, die kirchlichen Sakramente nichts
gelten, es weder Fegefeuer noch Auferstehung der Toten gebe; desgleichen
kennt er den katharischen Brauch der Endura (wie übrigens auch der
Kölner Lepzet), also die Sitte der Tötung Sterbender auf deren
Wunsch hin[47].
Das alles läßt keine bestimmte historische Einordnung zu, lediglich
der Überlieferungszusammenhang zwischen der Confessio Burchards und
jener Lepzets, die Tatsache, daß der geographische Rahmen (Köln/Löwen)
in beiden Fällen der gleiche ist, sowie schließlich der Umstand,
daß hier wie dort Mitglieder derselben Sekte: der Katharer verhört
wurden, von deren Existenz in Deutschland, speziell am Niederrhein, wir
nach 1233 nichts mehr hören[48],
lassen darauf schließen, daß auch das Geständnis Burchards
historisch in den Umkreis der Inquisition Konrads von Marburg gehört.
Dies
möchte ich aus Gründen des Überlieferungszusammenhangs schließlich
gleichfalls für das nur in der St. Galler Hs. 974 auch im Kontext
der Geständnisse Lepzets und Burchards tradierte inquisitorische Frageformular
für Ketzer (vor allem Waldenser) annehmen, obwohl sich über Allgemeinheiten
hinaus inhaltlich keine Bezugspunkte zu anderen zeitgenössischen Berichten
feststellen lassen. Aber die Überlieferung der St. Galler Hs. 974
legt doch sehr nahe, damit zu rechnen, daß ein selbständiger
Traktat in Gestalt und im Umfang zumindest der oben erörterten Einzelelemente
kursierte, der dann in das um 1260/66 fertiggestellte Sammelwerk des Passauer
Anonymus integriert wurde, der also folglich älter ist (660)
als diese Kompilation und der - da zumindest ein Teil davon (die Confessio
Lepzets) ohne jeden Zweifel dem Umkreis der Inquisition Konrads von Marburg
zugewiesen werden kann - wohl insgesamt in diesen historischen Zusammenhang
einzuordnen ist.
Was
bringt nun diese Erweiterung der Quellenbasis an neuen historischen Erkenntnissen?
Zunächst einmal wird Gregors IX. Referat der ihm aus Deutschland zugetragenen
Nachrichten über dort kursierende Häresien in willkommener Weise
bestätigt und ergänzt; selbstverständlich nicht in dem Sinne,
als seien alle hier wie dort festgehaltenen Teufelskult-Scheußlichkeiten
wirklich geschehen, sondern daß dieses in die Verhörten hineingefragte[49]
Lehren-Gerüst das Bild der „öffentlichen Meinung“ von den Ketzern
in größerem Umfang bestimmt haben muß, als es der flüchtige
Hinweis der Cont. Trev. auf die Luzifer-Verehrung der Lucardis in
Trier,
Alberichs von Troisfontaines ähnlich lautende Notizen bezüglich
Köln[50]
und der Bericht in „Vox in Rama“ erwartenließen.
Hinzu
kommt, daß wir nunmehr in wünschenswerter Deutlichkeit sehen,
woher diese Legende vom Teufelskult der Ketzer stammt: Da im Geständnis
des Ketzers Lepzet expressis verbis dies als error Katerorum bezeichnet
wird, kann man beruhigt allen Spekulationen eine Absage erteilen, hier
sei eine eigene „Luziferianer“-Sekte am Werk gewesen[51],
oder dies sei alles samt und sonders Ausgeburt einer krankhaften Phantasie[52],
(661)
sondern wir haben hier nichts anderes vor uns als ein - allerdings
bis ins Abstruse verzerrtes - Lehrgebäude der Katharersekte[53].
Das heißt, die Behauptung von Teufelsanbetung, von Askese als Beitrag
zur Rückführung Luzifers und der gefallenen Engel in den Himmel,
von sexual-moralisch verwerflichem Handeln haben ihre Ansatzpunkte
in konkreten, gut bezeugten Lehren der Katharer. Auszugehen ist hier von
der katharischen Grundüberzeugung, daß diese, die sichtbare
Welt vom Teufel geschaffen und jede Menschenseele einer der mit Luzifer
vom Himmel gestürzten Engel sei[54].
Von hier aus eröffneten sich dem Katharer zwei Wege: entweder durch
Läuterung in Form asketischer Lebensführung entsühnt zu
werden (und wieder Aufnahme in den Himmel zu finden), oder dem Unreinen,
„Teuflischen“ in sich Raum zu geben - nicht als etwas Erstrebenswertem,
sondern aus schicksalhafter Notwendigkeit[55].
Böse blieb also sehr wohl böse für die Katharer, Luzifer
als Herr dieser Welt eine finstere Macht - aber man wußte sich einerseits
ihm verfallen, andererseits glaubte man (obwohl Teil seines Reiches) an
Erlösung. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen,
mit wie wenigen Handgriffen aus diesem dualistischen Konzept der Weltordnung
und der Selbstidentifikation der Katharer mit den gefallenen Engeln in
den Augen der „rechtgläubig“-christlichen Gegner unter Zuhilfenahme
uralter spätantiker Traditionen von Teufelskult und Satansmesse ein
furchterregendes Bild vom Ketzer als Satansdiener entstand[56].
Konrad von Marburg ist keineswegs dessen Erfinder gewesen, es muß
vielmehr nach dem Zeugnis Alans von Lille[57]
mindestens schon eine Generation vor ihm voll entwickelt vorhanden gewesen
sein. Und er ist auch durchaus nicht der einzige gewesen, der dieses Horrorbild
für echt hielt, denn nach dem Zeugnis der Cont. Trev. hat sich (662)
die angebliche Luzifer-Anbeterin Lucardis in Trier vor dem Sendgericht
des Erzbischofs verantworten müssen[58];
das heißt, ihr Geständnis ist mit den Mitteln der ordentlichen
Gerichtsbarkeit erzielt worden, geht nicht etwa auf das Konto dubioser
Prozeßführung zurück, wie man sie Konrad von Marburg vorwarf.
Sodann
haben wir im Bericht auf der Grundlage von Lepzets Geständnis das
einzige ausführlichere Zeugnis über Lebensformen und Lehren der
Katharer in Deutschland um 1231/33. Setzt man hier einmal die Teufelskultlegenden
beiseite und vergleicht das außerdem Mitgeteilte mit den Berichten
anderer Quellen des 12./13. Jahrhunderts über die Katharer, so schälen
sich einige recht bemerkenswerte Züge dieser deutschen (genauer gesagt
wohl nur: niederrheinischen) Katharer heraus. Da ist zunächst - wie
oben schon kurz berührt - die Nachricht über den Brauch der Endura,
den Amo Borst erst nach 1275 in Italien, nach 1300 in Südfrankreich
sicher bezeugt sieht, unter ausdrücklicher Verwerfung des Zeugnisses
unserer Quelle[59].
Da aber auch Burchard von diesem Brauch berichtet (dessen Geständnis
zwar nur auf Hörensagen beruht, quellenkritisch aber insofern höher
zu bewerten ist als Lepzets Aussage, als es keinerlei unglaubwürdige
Elemente zu enthalten scheint), der von beiden geschilderte Vorgang zudem
in der Substanz mit den von Borst für echt gehaltenen Berichten (663)
übereinstimmt, sehe ich keinen Anlaß, Burchards und Lepzets
Zeugnis prinzipiell in Zweifel zu ziehen[60].
Das wären dann mit die frühesten Belege für diesen Brauch[61].
Interessant
auch die Notiz über die Ordination eines „Bischofs“ der Sekte nicht
durch Wahl eines Erwachsenen, sondern durch Bestimmung und Aufzucht entsprechend
den vegetarischen Speisevorschriften der Katharer von Geburt an[62].
Das ist ein anderweitig nirgends bezeugter Modus der „Bischofs“-Ordination
und entsprechend mit Vorsicht aufzunehmen, steht jedoch durchaus in Einklang
mit den hohen Anforderungen an den reinen Lebenswandel der katharischen
perfecti und schon gar ihrer „Bischöfe“[63].
Daß
die Nachrichten auf der Grundlage von Lepzets Geständnis trotz der
Befrachtung mit angeblichen Luziferianismen keineswegs gering zu schätzen
sind, zeigt schließlich auch der knappe Bericht über die rituelle
Ehrenbezeugung gegenüber einem katharischen Bischof, das sog. Melioramentum,
verbunden mit dem Empfang des katharischen Sakraments der Handauflegung
nach Apostelvorbild (Act. 8, 18), des sog. Consolamentum[64].
Denn dieser Ritus wird mit nahezu den genau entsprechenden (lateinischen)
Wendungen ca. 1260/70 von dem Dominikaner-Inquisitor (664) Anselm
von Alexandria geschildert, der als einer der zuverlässigsten Gewährsleute
für Geschichte und Lehren der Katharer gilt[65]:
Passauer
Anonymus, De secta Manicheorum
Porro
quando ad locum secretum credentes conveniunt ante prefatum episcopum,
procidunt super genua sua adorantes eum et dicunt singuli: „Parce nobis,
domine!” Et
subiungit unusquisque dicens huiusmodi verba Teutonice: „Niemer ne mueze
ich ersterben, ich ne mueze umb iuch erwerben, daz min ende
gut werde, unde miner armen sel rat werde.“ At ille singulis manus imponens
dicit hec verba ter super unumquemque adorancium: „Du werdest ein guot
man; du werdes ein guot man; du werdes ein guot man.“ |
Anselm
von Alexandria, Tractatus de hereticis
Notandum.
Primo ille cui debet fieri manus imposicio facit tres genuflexiones coram
prelato, dicendo: „Benedicite, benedicite, benedicite: boni christiani,
precamini quod deus conducat me ad bonum finem et defendat me a mala morte.
Rogo vos per misericordiam dei ut faciatis michi illud bonum quod dominus
fecit vobis.” Et
prelatus respondet: „Dominus benedicat te.” Ter
dicit hoc. |
Schließlich
wäre noch anzumerken, daß die Confessio Burchards die Katharersekte
als eine zahlenmäßig immer kleiner werdende, absterbende (665)
Bewegung erkennen läßt: 24 Jahre vor seinem Geständnis
will Burchard von seinem Vater in die Sekte eingeführt worden sein,
aber während dieser ganzen Zeit will er an Sektengenossen außer
Vater und Mutter und einem Zwillingsbruder namens Wilhelm nur noch einen
Barbier (rasor) Heinrich zu Gesicht bekommen haben, ja in den letzten
zwölf Jahren überhaupt mit keinem Katharer mehr in Berührung
gekommen sein, schließlich sogar in Löwen auf Anraten seiner
Eltern die Sekte verlassen haben[66].
Da seine Aussagen keine Schönfärberei erkennen lassen, wird man
annehmen können, daß in Deutschland spätestens zur Zeit
der Verfolgungen Konrads von Marburg die Katharersekte im Verschwinden
begriffen war[67].
Konrads Inquisition gab ihr entweder (falls Burchards Confessio zeitlich
tatsächlich hier einzuordnen ist) nur noch den Todesstoß, oder
(wenn die Confessio später liegt) sie leitete die Phase des Auflösungsprozesses
ein.
3.
Konrad von Marburg als Ketzerrichter
Das
rechtliche Vorgehen Konrads von Marburg hat in der einschlägigen Literatur
eine fast einhellig negative Beurteilung erfahren. Man geißelte seine
Justiz als „tumultuarisch und parteiisch“ (P. Hinschius[68]),
sprach von „sinnlosem Wüten“ anstelle eines „geordneten Verfahrens“
(P. Braun[69]),
mit Worten wie „wirr“, „unsinnig“, „willkürlich“ wurde sein Gerichtsverfahren
gebrandmarkt (L. Förg[70]),
Albert Hauck hielt es für unbezweifelbar, „daß Konrad, Dorso
und andere ihre Vollmachten in frevelhafter Weise überschritten“[71],
ja ihm erschien „sein Wüten so sinn(666)los, daß man
vermuten möchte, die seelische Erregung, in die er durch die Vorstellung
der Ketzergefahr versetzt wurde, sei krankhaft ausgeartet“[72];
noch im jüngsten Abriß seiner Biographie von Peter Segl fallen
Worte wie „blindwütiger Fanatismus“, gilt sein Gerichtsverfahren als
„ungeregelt“[73].
Dies
alles halte ich für falsch! Denn diese Urteile sind eher emotional
als quellenkritisch begründet, beruhen auf Klischees schon der Aufklärung
vom Wesen der Inquisition und vom Charakter der Inquisitoren; sie zielen
zudem am Kern des Problems vorbei. Die furchtbare Wirkung seiner Inquisition
hatte ihre Ursache vielmehr nicht in der persönlichen Unzulänglichkeit
des Menschen Konrad, sondern in der Sache selbst: in der Ketzerinquisition
und dem ihr eigentümlichen Recht. Konrad - dies meine These - hat
die Regeln des neuen, prozessualisch noch unerprobten Ketzerinquisitionsverfahrens
konsequent angewandt, ging dabei wohl bis an die Grenze von dessen prozeßrechtlichen
Möglichkeiten, aber nicht darüber hinaus. Die Folgen waren gleichwohl
verheerend, und ein Aufschrei der Empörung ging durch das Land, bis
hin zur Ermordung Konrads und seiner Gehilfen. Doch was sich da abspielte
und von den Chronisten bewegt geschildert wurde: Verurteilung Unschuldiger,
Auflösung sozialer Bindungen („der Bruder klagte den Bruder an, die
Gattin den Gatten, der Herr den Diener und der Diener den Herrn“[74])
, das war nicht das Werk eines Verrückten, sondern war die zwangsläufige
Folge des Wirkens ketzerinquisitorischer Ausnahmegerichtsbarkeit. Daß
man damals (und (667) nicht mehr später) hell aufschrie, lag
nicht so sehr daran, daß das Verfahren menschenfreundlicher wurde,
sondern daß man sich daran gewöhnte; von der Sache her hätte
man noch jahrhundertelang Anlaß gehabt aufzuschreien. 1231/33 aber
war das Verfahren neu, und ein am ordentlichen (weltlichen wie geistlichen)
Prozeßverfahren orientiertes Rechtsbewußtsein erfaßte
den Abgrund, der sich da auftat. Wie wenig Unterschiede es zwischen Konrads
Vorgehen und dem voll entwickelten Ketzerinquisitionsverfahren gab, war
im Grunde schon Paul Hinschius bewußt, wenn er schreibt[75],
„daß das Inquisitionsverfahren gegen die Ketzer, wie es sich seit
dem 13. Jahrhundert gestaltet hatte, mit seiner Nichtachtung der Vertheidigungsrechte
des Angeschuldigten, dem Ausschluß jeder definitiven Freisprechung,
der Tendenz, dem Inquisiten durch alle möglichen Mittel, namentlich
die Tortur und lange Inhaftierung Geständnisse abzupressen, und der
durch keine festen Regeln eingeschränkten Willkür des Inquisitors
darauf angelegt war, den Inquisiten unter allen Umständen zum Schuldigen
zu stempeln und dem einmal in die Hand der Inquisition gefallenen Angeschuldigten
jedes Entrinnen unmöglich zu machen“. Und er fügt in der Anmerkung
hinzu: „In der Wirkung lief dasselbe, wenngleich es sich in geordneteren
prozessualischen Formen bewegte, im wesentlichen auf das in den Anfängen
der Inquisition von Konrad v. Marburg geübte Verfahren ... hinaus.“
Daß
zwischen Konrads Verfahren und der späteren Gerichtspraxis der Ketzerinquisition
kein wesensmäßiger Unterschied bestand, läßt sich
an einem krassen Beispiel zeigen. Konrad muß sich nämlich voll
der Tatsache
bewußt
gewesen sein, daß unter seinen Opfern Unschuldige gewesen waren,
denn anders ist ein offenkundig authentischer Ausspruch von ihm gar nicht
zu verstehen: Den ihre Unschuld standhaft Beteuernden (und folglich als
angeblich hartnäckige Ketzer zum Scheiterhaufen Verurteilten) soll
Konrad „das Martyrium versprochen“ haben[76],
also die zweifelhafte Ehre, von Gott gleichsam in Revision des irdischen
Urteilsspruches in die Reihen der Blutzeugen für die christliche Wahrheit
aufgenommen zu werden. Dies ist beileibe kein Zynismus[77]:
Fast dieselben Worte gebraucht (668) noch Ende des 16. Jahrhunderts
der trockene Jurist Francisco Peña,
der Herausgeber des inquisitorischen Standardwerkes von Nikolaus Eymerici
(† 1399) in einer seiner kommentierenden Bemerkungen (die Nikolaus’ Werk
für die Zwecke des nachmaligen Sanctum Officium aktualisieren sollten),
wo er erwägt, was geschehen solle, wenn jemand durch falsche Zeugen
der Häresie überführt werde und der Betreffende nach den
Regeln des Ketzerinquisitionsverfahrens selbst noch zu Peñas
Zeit nur die Wahl zwischen (falschem) Geständnis und dem Scheiterhaufen
hatte. Peña
empfiehlt, dem ewigen Tod (Folge der Todsünde bei falschem Geständnis)
den zeitlichen (auf dem Scheiterhaufen) vorzuziehen; das bedauernswerte
Opfer „möge sich erinnern, daß ihm bei geduldiger Hinnahme von
Unrecht und Todespein die Märtyrerkrone winke“[78].
Auch dies ist - buchstäblich - todernst gemeint. Konrad von Marburg
und Francisco Peña
stehen mit diesem Argument in einer gemeinsamen Tradition, die sich auf
das Prinzip gründet, eher ein Fehlurteil in Kauf zu nehmen (auch wenn
dann ein Unschuldiger zu Tode kommt) als einen Schuldigen der verdienten
Strafe entgehen zu lassen.
Doch
betrachten wir der Reihe nach, was den Zeitgenossen am rechtlichen Vorgehen
Konrads anstößig erschien. Auszugehen ist vom Synodalschreiben
Siegfrieds III. von Mainz und des Bernardus Teuto an Gregor IX., in dem
die rechtlichen Gravamina klar, wenn auch recht knapp nur formuliert sind[79]:
Quod
magister Conradus, contra pauperum Lugdunensium astutias zelo fidei armatus,
nefandam heresis Manicheorum filiam olim abscon(669)ditam
ita putavit ex toto deprehendere, si testes, qui se confitebantur aliquantulum
criminis eorum conscios et participes, in illorum absentia reciperentur,
et dictis eorum simpliciter crederetur, ita ut accusato talis daretur optio,
aut sponte confiteri et vivere, aut innocentiam iurare et statim conburi.
Es folgen Beispiele, welche Mißstände (z.B. falsche Zeugnisse)
sich als Folgen der von Konrad praktizierten Beweiserhebung ergaben. Dann:
Et magister nulli quantumvis alte persone locum dedit legitime defensionis,
nec etiam confiteri proprio sacerdoti, sed accusatum oportuit confiteri
se hereticum esse, buffonem, cattum, pallidum virum et huiusmodi monstra
diffidentie pacis in osculo salutasse. Taliter quidam catholici abiudicati
maluerunt innocenter cremari et salvari, quam mentiri de crimine turpissimo,
cuius non erant conscii, et suplicium promereri. Quibus ipse magister martirium
promittebat. Alii
infirmi potius elegerunt mentiri, quam conburi, quibus tamen oportuit scolas
nominare ...
Was
ist damit im einzelnen gemeint? Der zunächst inkriminierte Punkt ist
die Beweiserhebung. Sie fand statt „in Abwesenheit“ der Betroffenen, d.
h. in einem Vorverfahren, nicht im Hauptprozeß. Zugelassen waren
als
Zeugen
Tatbeteiligte, die bei einem ordentlichen Gerichtsverfahren (gleich ob
Akkusations- oder Inquisitionsprozeß) nicht zeugnisfähig waren[80].
Ihnen wurde simpliciter geglaubt, was nicht heißt, daß
ihr Zeugnis einfach für bare Münze genommen wurde, sondern daß
keine prozeßtechnischen Einreden gegen die Person der Zeugen (sog.
exceptiones) zugelassen wurden[81].
Den Angeklagten blieb nur die Wahl zwischen Geständnis der Schuld
(dann mußten sie noch Mitwisser nennen) oder Leugnung mit Todesfolge.
Die Möglichkeit, dem zuständigen Priester das Vergehen der Häresie
zu beichten - und damit ohne öffentliches Aufsehen nach empfangener
Buße Absolution zu erlangen - war verwehrt (daß noch in dieser
Zeit kein geringerer als ein Erzbischof die Behandlung des Häresiedelikts
allein vor dem sog. forum internum der priesterlichen Bußgewalt statt
vor dem forum externum der richterlichen Strafgewalt für praktikabel
hielt -späterhin ist das ganz
ausgeschlossen - sei nur am Rande als bemerkenswert festgehalten[82].
In summa: keiner auch noch so hochgestellten Person war Gelegenheit zu
einer „rechtmäßigen Verteidigung“ gegeben.
(670)
Was verstand man - über das hier schon Erörterte hinaus - genau
unter einer legitima defensio? Die in ihrer rechtsterminologischen
Wortwahl ungemein prägnante Cont. Trev. gibt darauf eine Antwort.
Sie charakterisiert das Verfahren Konrads und seiner Helfer[83]
folgendermaßen[84]:
ut nullius, qui tantum propalatus esset, excusatio vel recusatio,
nullius exceptio vel testimonium admitteretur, nec defendendi locus daretur,
sed nec inducie deliberationis darentur; sed in continenti oportebat eum
vel reum se confiteri et in penitentiam recalvarivel
crimen negare et cremari (folgen ähnliche Klagen über die
Folgen dieser prozessualischen Praxis wie in der Ep. Sigfr.[85]).
In diesem Satz hat jedes Wort seine festumrissene Bedeutung in der juristischen
Begriffssprache: Excusatio -
das meint Eingeständnis des Sachverhalts bei entschuldigender Erklärung,
wobei als Hauptgründe von Rechts wegen zulässig waren Geistesverwirrung
(mentis alienatio) wie Zornesausbruch (furor)
und Trunkenheit,
Zwang (coactio), Täuschung (deceptio)[86];
recusatio – die
Zurückweisung, nicht etwa der Beschuldigung, sondern des Richters
wegen des Verdachts der Befangenheit (z.B. aufgrund persönlicher Bezie(671)hung
zu einem Zeugen oder Ankläger)[87];
exceptio - die
prozeßtechnische Einrede schlechthin, insbesondere aber, um das Zeugnis
des Prozeßgegners oder (im inquisitorischen Verfahren) des Belastungszeugen
mit dem Vorbringen formaler Gründe zunichte zu machen, etwa durch
den Nachweis von dessen Infamie[88];
testimonium - das eigene
Entlastungszeugnis, sei es
durch
Beibringen von Entlastungszeugen, die zur Sache aussagen, sei es durch
das Angebot des Reinigungseides mit Eideshelfern[89];
defendendi
locus - der Akzent
liegt hier (vor allem im Zusammenhang mit den folgenden inducie deliberationis)
auf locus, und gemeint ist die Verweigerung der rechtmäßigen
Fristen zum Aufbau der eigenen Verteidigung, nachdem man vom genauen Gegenstand
der Anklage in Kenntnis gesetzt worden war (solche Fristen konnten im ordentlichen
Gerichtsverfahren oft Mona(672)te betragen)[90];
inducie
deliberationis - eine „Besinnungspause“, nicht im allgemeinen
Sinn, sondern das ist die rechtmäßig dem Angeklagten zustehende
Frist, um (unter Beratung mit Freunden) Klarheit über den Entschluß
zu gewinnen, ob man sich schuldig bekennen oder den Prozeß aufnehmen
solle in der Absicht, die Anschuldigung zu widerlegen[91];
in
continenti - „unverzüglich“, d.h. der Angeklagte hatte nur die
Möglichkeit, sich zur Sache selbst zu äußern, ohne irgendeine
prozeßtechnische oder unterbrechende formale Einrede vorbringen zu
können[92].
Woran
da Maß genommen wurde[93],
ist ganz eindeutig das ordentliche römisch-kanonische Prozeßverfahren,
sei es per accusationem, sei es per inquisitionem, zu dessen integralen
Bestandteilen die Gegenüberstellung von Ankläger/Zeugen und Angeklagtem,
Prozeßeinreden und Fristen gehörten, denn nur so war in den
Augen der Zeitgenossen ein für den An(673)geklagten faires,
zur Wahrheitsfindung geeignetes Verfahren garantiert[94].
Verglichen damit hätte jeder Ketzerprozeß in seiner seit der
Mitte des 13. Jahrhunderts voll ausgebildeten Form als Willkür empfunden
werden müssen, denn auch dort findet sich nahezu jeder der von den
Quellen speziell Konrad von Marburg angelasteten Verfahrensverstöße[95].
Denn Häresie galt - lange schon vor Konrads Ketzerprozessen - als
crimen exceptum, wie z.B. auch das Majestätsverbrechen[96],
und so wurde für den Ketzerprozeß ein Ausnahmerecht entwickelt.
Die Etappen dieser Entwicklung sind gegenwärtig noch nicht klar zu
überblicken, denn die theoretische Literatur zum modus procedendi
inquisitorum setzt erst im Jahrzehnt nach (674) Konrads Prozessen
ein[97],
die zeitgenössische Literatur zum allgemeinen Prozeßrecht ist
für die Zeit vor Konrad nur selten hilfreich (zudem teilweise immer
noch unediert)[98],
und wie Verfahren in praxi abliefen, ist nicht einmal für das ordentliche
Gerichtsverfahren hinreichend geklärt und läßt sich allgemein
erst für die Zeit nach Konrad im Detail beobachten[99].
Zur
Auswahl standen bei der strafrechtlichen Ketzerverfolgung zur Zeit Konrads
grundsätzlich zwei Verfahren: Der Akkusationsprozeß, wo ein
Ankläger in aller Offenheit in den Schranken des Gerichts Beschuldigungen
gegen jemanden erhob und den Beweis führen mußte mit der ipso
facto verbundenen Talionsverpflichtung, im Falle des prozessualen Unterliegens
also jene Strafe auf sich zu nehmen, die dem Prozeßgegner zugedacht
war[100].
Die andere Möglichkeit war das Inquisitionsverfahren, wo nach voraufgegangener
Denunziation oder bei publica fama ein Offizialprozeß, d.h. ein Verfahren
von Amts wegen, in Gang gesetzt wurde, ohne (675) daß der
Anzeige Erstattende ein persönliches Prozeßrisiko einging[101].
Charakteristisch ist für diese Prozeßform die Notwendigkeit
eines Vorverfah(676)rens, wo in Abwesenheit des Beschuldigten die
gegen ihn erhobenen Vorwürfe durch Zeugeneinvernahme überprüft
wurden, wobei sich die Eigentümlichkeit ergab, daß zumeist schon
in diesem Stadium des Prozesses die Würfel fielen, ob das Verfahren
aus Mangel an verwertbaren Zeugnissen eingestellt wurde oder aufgrund überführender
Beweise vorentschieden war - noch bevor die eigentliche Hauptverhandlung
eröffnet und der Beschuldigte zur Sache gehört worden war[102].
Kam es dann zum Prozeß, standen dem Angeklagten im ordentlichen Inquisitionsverfahren
alle prozeßtechnischen Möglichkeiten offen, deren Mißachtung
bei Konrads Verfahren die Cont. Trev. festgestellt hatte[103].
Konrads
modus procedendi nun war offenkundig das Inquisitionsverfahren, wie es
für alle späteren Ketzerprozesse zur Regel wurde. Das geht schon
aus der Zweiteilung seiner Prozeßführung in Beweisaufnahme (Zeugenverhör
in Abwesenheit der Beschuldigten) und Urteilsfällung (in Gegenwart
des Angeklagten) deutlich hervor. Aber mit dem ordentlichen Inquisitionsverfahren
hatte die von ihm erstmals praktizierte[104]
Ketzerinquisition nur bedingt etwas zu tun. Die Unterschiede beginnen schon
im Vorfeld der Untersuchungen bei den von ihm zugelassenen Zeugen, denn
zeugnisfähig waren üblicherweise nur angesehene Männer mit
einwandfreiem Ruf[105].
Konrad aber ließ Tatbeteiligte zu, die nach dem Urteil etwa (677)
des 1210/15 verfaßten Prozeßordo „Si quis vult“ selbst
bei crimina excepta abzulehnen waren[106],
geschweige denn im Normalverfahren. Aber schon der berühmte Bologneser
Kanonist Tancred hat in seinem ca. 1216 verfaßten Ordo iudiciarius
bei crimina excepta das Zeugnis von criminosi et infames für
zulässig erklärt[107]
- eine Praxis, die sich durchsetzen sollte[108]
-, und bezeichnenderweise hat die im Traktat „Si quis vult“ als Beleg herangezogene
Dekretale „Veniens“ Alexanders III. spätestens in der Glossa ordinaria
des Bernhardus de Botone die genau entgegengesetzte Deutung erfahren: Für
Bernhard war nicht anders als für Konrad von Marburg ein Tatbeteiligter
(socius criminis) bei crimina excepta sehr wohl zeugnisfähig[109].
Aber die Umkehrung des Verhältnisses von Norm und Ausnahme ging im
Häresieprozeß noch weiter: Bis in die Abschwörformeln hinein,
die der sich reuig gebende Ketzer zu leisten gezwungen war, ist die De(678)nunziation
der ehemaligen Sektengenossen und ihrer Helfer fester und unabdingbarer
Bestandteil dieses Verfahrens geworden[110].
Konrad war der erste, bei dem man das beobachtete und entsprechend einem
auf Augenmaß bedachten Rechtsverständnis tadelte; aber nach
allem, was wir von Rechtstheorie und Gerichtspraxis wissen, dürfte
es auch nach Konrad keinen Ketzerprozeß gegeben haben, der den Verrat
der Mitbeteiligten dem geständigen Angeklagten nicht zur Pflicht gemacht
und auf der Grundlage dieser Zeugnisse nicht zur Eröffnung weiterer
Prozesse geführt hätte[111].
Der
auffallendste Punkt bei Konrads Prozeßführung aber ist die von
ihm gewählte summarische Form des Verfahrens. War sie unrechtmäßig?
Das ist für die Zeit Konrads schwer zu entscheiden, denn mit Innocenz
III. begann überhaupt erst die im Römischen Recht vorgebildete
Idee eines summarischen Procedere auch im kanonischen Recht nennenswert
Fuß zu fassen[112],
und erst nach 1231/33 setzten päpstliche Verfügungen (679)
und synodale Beschlüsse ein, die speziell beim Verfahren gegen
Ketzer bestimmte Teile der Prozeßordnung vereinfachten[113],
wobei es während des ganzen 13. Jahrhunderts höchst strittig
blieb, wie weit im einzelnen die Vereinfachung eines solchen Verfahrens
gehen dürfe. Hier hat erst Clemens V. eine autoritative Entscheidung
zu treffen gesucht (an der in den einschlägigen Kommentaren dann weiter
herumgedeutet wurde), indem er klipp und klar feststellte, daß bei
summarischen Verfahren unter anderem Prozeßeinreden und -fristen
nach Kräften zu vermeiden seien[114].
Auch diese Entscheidung ließ noch Spiel, wie weit der Richter als
Herr des Verfahrens im Einzelfall gehen konnte, aber die Auffassung, daß
im Ketzerprozeß überhaupt summarisch, nicht unter voller Wahrung
des ordentlichen Rechts- und Gerichtsganges zu verfahren sei - wie sie
wahrscheinlich Innocenz IV. erstmals päpstlicherseits formuliert und
zuvor schon Konrad von Marburg praktiziert hatte - fand doch hier eine
bis ins einzelne gehende Bestätigung.
Freilich
erst lange nach Konrads Prozessen, und es stellt sich erneut die Frage,
ob er zu seiner Zeit die Norm überschritt, auch wenn die spätere
Rechtsentwicklung im Einklang mit seinem Procedere war. Sah der Strafprozeß
seiner Zeit überhaupt ein so drastisch verkürztes Verfahren vor,
gleich in welchem Fall? Man findet eigentlich nur eine Möglichkeit:
die (680) Notorietät eines Verbrechens. Lag die Tatsache offen
zutage, daß jemand ein bestimmtes Verbrechen begangen hatte (und
es gab festumrissene Kriterien, wann ein Verbrechen als offenbar zu betrachten
war), dann bedurfte es überhaupt keines rechtsförmlichen Verfahrens
mehr, sondern ohne Anklageerhebung und ohne Zeugeneinvernahme zur Sache
wurde ein sog. deklaratorisches Urteil gefällt[115].
Hier kam es also, streng genommen, nicht einmal mehr zu einem summarischen
Verfahren, sondern das Urteil folgte aus der Tatsachenfeststellung.
Im
Grunde um denselben Sachverhalt - wenn auch in der juristischen Literatur
damit nicht gleichgesetzt -geht
es beim Häresieverdacht, genauer: beim zwingenden Häresieverdacht.
Auszugehen ist vom Endpunkt der rechtstheoretischen Diskussion, wie sie
ihren Niederschlag im 1376 publizierten Handbuch des aragonesischen Inquisitors
Nikolaus Eymerici gefunden hat, der - nach säuberlicher Scheidung
der drei Fallgruppen suspicio levis, vehemens und violenta -
für suspicio violenta klipp und klar feststellt, daß
sie zur Verurteilung ausreiche, ohne daß noch die Möglichkeit
eines Gegenbeweises offenstehe[116];
Eymerich beruft sich hier auf zwei Stellen in (681) den Dekretalen
Gregors IX., die uns in die Zeit Konrads von Marburg zurückführen
und deren eine tatsächlich schon in ihrer Rubrik ganz allgemein (also
nicht speziell für den Ketzerprozeß) den Grundsatz ausspricht,
daß suspicio violenta zur Urteilsfällung genüge[117].
Nun
wird man stets schwanken können, wann ein Verdacht „violenter“ (dann
konnte ohne Umschweife verurteilt werden) und wann nur „vehementer“ begründet
war (dann genügte der „kurze“ Prozeß nicht). Und diese rechtsdefinitorische
Unsicherheit bedeutete im konkreten Einzelfall einen relativ breiten Ermessensspielraum
für den Richter: Alles - auch ein extrem abgekürztes prozessuales
Vorgehen - hing von seiner subjektiven Beweiswürdigung ab. Sucht man
also nach möglichen Vorbildern, die Konrad zu seiner summarischen
Verfahrensweise angeregt haben könnten, so wird man hierfür wohl
das richterliche Vorgehen seiner Zeit bei Notorietät eines Verbrechens
und bei zwingendem Verdacht auf ein solches in Anspruch nehmen können.
Aber
man braucht vielleicht gar nicht auf diese Extreme des kanonischen Prozeßrechts
zu verweisen. Im Grunde genügt zur Erklärung für Konrads
Vorgehen der wenig später (1243) formulierte Grundsatz des Konzils
von Narbonne, daß jemand als Ketzer zu betrachten (und damit (682)
entsprechend zu bestrafen) sei, wer diesen Tatbestand leugnet, obwohl
seine Schuld mittels Zeugen oder eines anderen Beweises feststehe[118].
Damit wird die Beweiserhebung zum Angelpunkt für die Rechtmäßigkeit
eines Ketzerprozesses. Hier aber kann man Konrad keinen Formfehler nachweisen,
hier waren vielmehr die fürchterlichen Folgen seiner Prozedur gleichsam
systembedingt.
Hingewiesen
sei schließlich noch auf ein weiteres mögliches Analogon, an
dem sich Konrad orientiert haben könnte: auf das Verfahren gegen Majestätsverbrecher,
wie es z.B. gerade zu Beginn von Konrads Inquisitionstätigkeit Kaiser
Friedrich II. (der Ketzer und Majestätsverbrecher auf eine Stufe stellte)
in den 1231 erlassenen Konstitutionen von Melfi geregelt hat[119].
Diese Annahme liegt um so näher, als das im Römischen Recht behandelte
Delikt des Majestätsverbrechens seit Innocenz’ III. Dekretale „Vergentis“
im kanonischen Recht mit dem Häresieverbrechen in eins gesetzt wurde
und die für das Majestätsverbrechen vorgesehenen Rechtsfolgen
auf das Häresiedelikt Anwendung fanden[120].
Diese Gleichsetzung betraf sowohl wesentliche Punkte des Verfahrens (Zulässigkeit
(683)
des Offizial-, also des per denuntiationem oder durch pubfica
fama zustandegekommenen Inquisitionsprozesses; Zulässigkeit auch infamer
Zeugen) als auch vor allem die Strafen (Güterkonfiskation; Infamie;
Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter; Erbunfähigkeit
der Nachkommen; Todesstrafe)[121].
Warum also sollte nicht auch Konrads summarisches Procedere hier vorgebildet
sein? Die Antwort muß lauten, daß sich über die schon
angeführten Übernahmen hinaus gerade im Punkt des summarischen
Vorgehens für die Zeit Konrads keine direkte Parallele ausmachen läßt
(auch nicht in den Konstitutionen von Melfi). Dennoch kann man eine gewisse
analoge Entwicklung in der Form der Verfolgung beider Delikte nicht leugnen.
Denn beim Majestätsverbrechen wie beim Häresiedelikt ist die
Tendenz zu beobachten, das Verfahren nach den rigorosen Maßstäben
der Verfolgung notorischer Verbrechen ablaufen zu lassen; so z.B. bei dem
Prozeß Karls von Anjou gegen Konradin 1268[122].
Und 1313 hat Kaiser Heinrich VII. im Zusammenhang mit seinem Prozeß
gegen König Robert von Neapel gesetzlich festgelegt, daß auch
im Majestätsverbrecherprozeß summarie et de plano sine strepitu
et figura iudicii vorzugehen sei[123],
genau wie es die fast gleichzeitig zum Abschluß gelangte kanonischrechtliche
Entwicklung des summarischen Prozesses vorsah. Drakonisches Strafmaß
und Bereitschaft zur Vereinfachung des ordentlichen Prozeßganges
lassen sich also für den Majestätsverbrecherprozeß, wie
er sich im Laufe des 13. Jahrhunderts herausgebildet hat, durchgehend feststellen.
Man wird daher zwar nicht davon ausgehen können, daß sich Konrad
von Marburg bis ins Detail hinein (etwa bei der Nichtgewährung von
Fristen) von dieser Prozeßform anregen ließ, doch in der grundsätzlichen
Bereitschaft zur Minimalisierung des prozeßrechtlichen Schutzes für
Häresieverdächtige konnte er sich - zumal mit Blick auf die von
Friedrich II. in Sizilien praktizierte Form der ununterschiedenen Bekämpfung
von Ketzern, Rebellen und Majestätsverbrechern - auf das Verfahren
seiner Zeit gegen Majestätsverbrecher berufen.
(684)Gab
es überhaupt einen Unterschied zwischen der von uns erschlossenen
Verfahrensweise Konrads und seinen möglichen zeitgenössischen
Vorbildern, vor allem aber dem später quellenmäßig deutlicher
faßbaren ketzerinquisitorischen modus procedendi? Nicht in der Substanz
und im Endergebnis, wohl aber in der Form. Dies betrifft den Fall, wo ein
(nach dem Stand der Vorermittlungen notabene überführter) Angeklagter
standhaft das ihm zur Last gelegte Häresieverbrechen leugnete. Konrad
pflegte solche Leute unverzüglich auf den Scheiterhaufen zu schicken.
Die Folgezeit war geduldiger, barmherziger war sie nicht: sie wartete auf
sein Geständnis, das es unter allen Umständen zu erzielen galt.
Dazu bediente man sich einerseits seit 1252, nach Innocenz’ IV. Konstitution
„Ad extirpanda“, der Folter (die Konrad noch fremd war)[124].
Zum anderen kerkerte man den Beschuldigten unter harten Bedingungen ein,
befragte ihn wie die Belastungszeugen immer wieder, bis entweder das Geständnis
vorlag oder die Zeugen von ihrer Aussage abrückten. Gelang dies nicht:
blieb der Angeklagte standhaft und blieben die Zeugen bei ihrer Aussage,
so kam der Angeklagte nicht etwa frei oder wurde zum Reinigungseid zugelassen,
sondern er wurde (weil er ohnehin als überführt galt) verbrannt
- ganz wie bei Konrad[125].
Gleich unentrinnbar ging der durch „rechtmäßig“ zustandegekommenen
Zeugenbeweis vorab überführte Angeklagte bei Konrad wie bei der
späteren Ketzerinquisition seinem Schicksal im Hauptprozeß entgegen:
der Alternative Geständnis oder Tod; der Unterschied lag allein im
Zeitpunkt, wann das Urteil gesprochen wurde.
Das
historisch Bemerkenswerte am Protest der Zeitgenossen gegen das Vorgehen
Konrads ist ihr waches Bewußtsein für die Ungeheuerlichkeit
des hier zur Anwendung kommenden Prozeßrechts. Als iudicium enorme
et inauditum wird es zu Recht gekennzeichnet[126].
Als solches erwies es sich im Prozeß gegen den Grafen Heinrich III.
von Sayn, dessen nähere Be(685)trachtung sich lohnt, zumal
auch hier sich in der Literatur manches Irrige findet[127].
Konrad hat den Grafen vor sein Gericht zitiert[128],
dem es jedoch gelang, das Tribunal Konrads zu vermeiden und den Prozeß
in Form eines normalen deutschrechtlichen Klageverfahrens mit Konrad als
Ankläger vor seinen fürstlichen Standesgenossen unter Vorsitz
des Königs, Heinrichs (VII.), auf dem Hoftag zu Mainz (25. Juli 1233)
zu führen[129].
Hier nun mißlang Konrad die Überführung des Grafen, denn
die von ihm zum Beweis aufgebotenen Zeugen widerriefen entweder ihre früheren
Aussagen, oder sie wurden als mutmaßliche Todfeinde qualifiziert
und waren damit zeugnisunfähig[130].
Umgekehrt erbot sich der Graf zum Reinigungseid mit Eideshelfern, doch
auf Wunsch des Königs wurde das Ver(686)fahren vertagt, wurde
dem Grafen zu einem späteren Zeitpunkt Frist gegeben, die nötigen
Eideshelfer zum Reinigungseid beizubringen, und vorderhand wurde ihm vom
Erzbischof von Trier (Dietrich II. von Wied, † 1242) vor aller Öffentlichkeit
bestätigt, daß er als rechtgläubig und nicht überführt
zu gelten habe[131].
Als Grund der Vertagung gibt die Cont. Trev. an, der König habe die
Sache „weiteruntersuchen“ wollen[132],
tatsächlich aber ging es offenbar um mehr. Denn auf dem Mainzer Hoftag
vom 25. Juli 1233 sollten noch andere, nicht näher bezeichnete, aber
anscheinend hochstehende Personen sich vor Gericht bezüglich des Häresieverdachts
verantworten, waren aber nicht erschienen, und Konrad hielt keine geringere
Maßnahme für angebracht, als gegen sie einen Ketzerkreuzzug
zu verkünden[133].
Dies geschah entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Erzbischöfe
von Mainz, Köln und Trier, die Konrad vergeblichl beschworen, ut
moderatius et discretius in tanto negotio se gereret[134].
Die im Verfahren gegen den Grafen von Sayn offen zutage getretene Mangelhaftigkeit
von Konrads prozessualer Beweiserhebung, sein starrsinniges, alle Mäßigungsappelle
selbst des Episkopats ignorierendes Vorgehen gegen wirkliche oder vermeintliche
Ketzer veranlaßten jedenfalls König und Reichsfürsten,
den Speyrer Domscholaster Konrad[135]
an die päpstliche Kurie zu senden und hinsichtlich der Anstoß
erregenden Form von Konrads Procedere gegen die Ketzer das päpstliche
Votum einzuholen[136].
Die Quellen wissen zu berichten, der Papst habe sich zunächst von
Kon(687)rads Vorgehen distanziert und dessen Prozesse kassiert,
auf die Nachricht von Konrads Ermordung hin seine Haltung aber wieder revidiert[137].
Das ist nun zwar alles ganz unglaubhaft, denn es gibt keine einzige mißbilligende
Äußerung der päpstlichen Kurie gegenüber Konrad[138]
und Gregors IX. gesamte Ketzerpolitik steht in vollem Einklang mit Konrads
rigorosem Vorgehen[139],
aber der Eindruck einer Änderung der päpstlichen Haltung muß
in Deutschland verbreitet gewesen sein. Als entscheidend für das nun
rasch kommende Ende der Ketzerverfolgung in Deutschland aber erwies sich,
daß mit Konrads Ermordung unmittelbar nach dem Mainzer Hoftag die
eigentlich treibende Kraft beseitigt war. Als man daher am 2. Februar 1234
erneut zu einem Hoftag in Frankfurt zusammenkam[140],
konnten sich die ex parte domini pape agierenden Verfechter von
Konrads unbeugsamer Haltung - namentlich werden der auch als päpstlicher
Kapellan und Pönitentiar bezeugte Bischof Konrad von Hildesheim und
der (nicht näher bezeichnete) Dominikaner Otto genannt[141]
- nicht mehr durchsetzen, ja sie mußten es sogar hinnehmen, daß
der König in einer auf diesem Hoftag erlassenen Konstitution eigens
auf die auch bei der Ketzerverfolgung nötige iudicii equitas
hinwies[142].
Dort wurde auch der Prozeß Graf Heinrichs III. von Sayn entschieden:
Unter Aufbietung einer (688) eindrucksvollen Zahl geistlicher und
weltlicher Eideshelfer[143]
konnte er im Königsgericht den Reinigungseid leisten (wonach er auf
Bitten Bischof Konrads von Hildesheim gegenüber denen, die ihn - wie
der Ausgang des Verfahrens gezeigt hatte - fälschlich beschuldigt
hatten, großmütig auf Genugtuung verzichtete[144]),
und ähnlich gelang dem von Konrad von Marburg wegen Häresie (aufgrund
eigenen Geständnisses) schon verurteilten Grafen von Solms und seinen
Leuten die Wiederaufnahme ihres Prozesses, da sie glaubwürdig versicherten,
sie hätten nur aus Todesangst das ihnen vorgeworfene Häresiedelikt
gestanden; und da auch hier
legitimi accusatores im Sinne des ordentlichen
Gerichtsverfahrens fehlten, (689) mußten sie zum Reinigungseid
zugelassen werden[145].
Der abschließende Akt ihrer Rehabilitierung fand anscheinend vor
einem Mainzer Synodalgericht am 2. April 1234 statt[146],
und entsprechend dem kanonischen Recht wurden jene, die sich ursprünglich
vor Konrad von Marburg fälschlich der Ketzerei für schuldig erklärt
hatten, mit einer siebenjährigen Buße belegt[147];
die falschen Zeugen/Ankläger wurden dem Papst zur Bestrafung übersandt[148].
Mit
Konrads Tod und der Ordnung gleichsam seiner prozessualen Hinterlassenschaft
fand eine Ketzerverfolgung ihr Ende, die ihresgleichen suchte und für
die es für mehr als ein Jahrhundert in Deutschland nichts (690)
Vergleichbares mehr geben sollte[149].
Man empfand dieses Ende allgemein als Erlösung[150].
Für den Historiker bleibt festzuhalten, daß sich die Zeitgenossen
in ihrem Rechtsempfinden von der Unerhörtheit dieses Verfahrens verletzt
sahen, dessen Besonderheit jedoch nur in seiner Neuheit, nicht in rechtsformaler
Irregularität bestand, und das spätere Generationen klaglos hinnehmen
sollten, obwohl es nach seiner Etablierung nicht weniger als bei seiner
Einführung grundlegende Rechtsgüter unberücksichtigt ließ.
Wird man also Konrad von dem Vorwurf rechtlosen bzw. das Recht beugenden
Vorgehens freisprechen müssen, so tritt doch um so klarer mit der
Furchtbarkeit der Sache selbst, der er sich verschwor, seine schroffe,
keinen Kompromiß duldende Haltung bei der Ketzerverfolgung hervor.
Als iudex sine misericordia geißelt ihn von pastoraler Warte
aus der Verfasser der Wormser Bischofschronik[151],
als einen Richter also, der das im Jakobusbrief (2, 13) dem Richter zur
Pflicht gemachte christliche Gebot der Barmherzigkeit mißachtete.
Exkurs:
War Konrad von Marburg an der Verurteilung des Propstes Heinrich Minnike
von Neuwerk in Goslar beteiligt?
Könnte
man der Cronica S. Petri Erfordensis moderna Glauben schenken (und dazu
entschloß sich beinahe die gesamte moderne wissenschaftliche Literatur),
so wäre Konrad von Marburg schon mehrere Jahre vor 1227 mit einem
Ketzerprozeß beschäftigt gewesen, der in Norddeutsch(691)land
einige Aufregung verursacht haben muß: mit dem Prozeß gegen
den (prämonstratensischen) Propst des Zisterzienserinnenklosters Neuwerk
in Goslar, dessen Worte und Handeln - worauf hier nicht näher eingegangen
sei - ihn bei seinem zuständigen Bischof Konrad von Hildesheim in
den Verdacht der Häresie geraten ließen, der ihn, wie urkundliche
Zeugnisse seit 1223 belegen, mehrmals von synodalen Versammlungen zu disziplinieren
suchte, ihn einkerkerte und schließlich im Oktober 1224 vom Kardinallegaten
Konrad von Urach als Ketzer verurteilen und degradieren ließ[152].
Darüber hinaus aber weiß die Cronica moderna des Erfurter Petersklosters
zum Jahre 1222 folgendes zu berichten[153]:
Hoc
eciam anno IIII. Kal. Aprilis Heinricus Minnikinus prepositus Novi-operis
Goslariensis in Hildensheim a Cuonrado, eiusdem loci episcopo
et Cuonrado predicatore de Margburc examinatus ac sepius commonitus,
seculari iudicio pro heresi est crematus.
Diese
Nachricht ist mit Bestimmtheit falsch. Dafür gibt es drei Gründe:
1. Die Notiz liegt relativ spät: Dieser Teil der Chronik wurde erst
nach 1276, mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen, verfaßt[154].
2. Die Nachricht steht völlig isoliert: Weder wissen von einer Beteiligung
Konrads von Marburg die maßgebenden urkundlichen Quellen der Jahre
1223/24, noch - und das ist hier besonders wichtig - die mutmaßliche
Vorlage für diesen Teil der Cronica moderna, die sog. Cronica minor
eines Erfurter Franziskaners in Gestalt einer auch erst 1272 fertiggestellten
Rezension[155].
3. Die Nachricht widerspricht den Tatsachen, denn die erfreulich reichen
urkundlichen Zeugnisse weisen auf Konrad von Hildesheim und Konrad von
Urach als die für die Verurteilung Heinrich Minnikes entscheidenden
Personen hin (neben den hohen Prälaten synodaler Versammlungen),
hingegen bleibt für eine besondere Beteiligung Konrads von Marburg
keinerlei Raum. Fazit: Die Cronica moderna amplifizierte den ihr vorliegenden
Bericht der Cronica minor durch eigene Mutma(692)ßungen, sei
es, daß sie Konrad von Marburg mit dem gleichnamigen Kardinallegaten
verwechselte[156],
sei es, daß sie lediglich den Ruf widerspiegelt, den Konrad noch
ein halbes Jahrhundert nach dem Ende seiner Inquisitionstätigkeit
hatte.
Aber
an der Nachricht ist noch mehr falsch: Die Behauptung, 1222 sei Heinrich
Minnike verbrannt worden. Dies wird schon von der Cronica minor überliefert,
von der Cronica moderna um den Zusatz seculari iudicio (stilistisch
ungeschickt) erweitert. Das Datum hat viel Rätselraten hervorgerufen,
denn nach Ausweis der urkundlichen Quellen ist Heinrich Minnike erst im
Oktober 1224 endgültig als Ketzer verurteilt worden[157];
das Datum 29. März (1222) könnte allenfalls auf den Beginn seines
Leidensweges hinweisen[158].
Aber es ist sogar im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß Heinrich
Minnike überhaupt auf den Scheiterhaufen gestellt worden ist. Denn
zu dieser frühen Zeit, als Friedrichs II. Bestimmung, Ketzer seien
mit dem Verbrennungstode zu bestrafen, gerade erst für die Lombardei
vorlag[159],
wird man ihre generelle Anwendung in Deutschland noch nicht voraussetzen
können[160],
zumal in der hier entscheidenden Quelle, der Publikation des Urteils Konrads
von Urach über Heinrich Minnike[161],
wohl von der Verdammung Heinrichs als Ketzer, auch von seiner Degradation
als Kleriker, nichts aber von der (später üblich gewordenen)
ominösen Überlassung an den weltlichen Arm mitgeteilt wird. Die
Annahme liegt daher am nächsten, daß Heinrich Minnike dorthin
zurückkehrte, woher man ihn dem Legaten vorführte: in den Kerker
(693) Konrads von Hildesheim. Ein anderes Urteil hatte der Hildesheimer
Bischof als Klageführer von dem Legaten auch gar nicht erbeten[162].
Wie
es zu der Behauptung kam, Heinrich sei verbrannt worden, und zwar 1222,
läßt sich unschwer erklären: Dem Kompilator der Cronica
minor (Fassung 1272) lag eine Nachricht nach Art der 1227/30 niedergeschriebenen
Chronik des Klosters Lauterberg bei Halle vor, die (gleichfalls zum Jahre
1222) mitteilt[163]:
Heinricus
prepositus de Goslaria, cognomine Minnekke, a Conrado Hildenesheimensi
episcopo de heresi Manicheorum convictus depositus et in custodia diutina
detentus est; abgesehen von der Qualifizierung von Heinrichs Häresie
als „manichäisch“ (die eine Schlußfolgerung des Chronisten ist),
steht hier jedes Wort mit den urkundlichen Zeugnissen in Einklang, d. h.
es findet sich etwas von Kerker, nichts von Verbrennung. Für einen
1272 schreibenden Chronisten aber war es nach den Ketzerverfolgungen Konrads
von Marburg und nach dem allgemeinen Gang der Ketzerinquisition in Europa
vollkommen selbstverständlich, daß Verurteilung wegen Ketzerei
nur Tod durch Verbrennen bedeuten konnte, nichts sonst. So kam es - guten
Glaubens! - zur Behauptung der Verbrennung Heinrich Minnikes in der Cronica
minor, und der (als Interpolation mühelos erkennbaren) verschlimmbessernden
Ergänzung der Cronica moderna, das weltliche Gericht habe dies veranlaßt.
Zu
Einzelfragen von Konrads Vita, namentlich seiner Ordenszugehörigkeit,
vgl. Karl Hermann May, Zur Geschichte Konrads von Marburg, Hessisches Jb.
für LG 1 (1951) S. 87-109, dessen Eintreten für Zugehörigkeit
Konrads zum Prämonstratenserorden, in der Hauptsache aufgrund eines
späten Zeugnisses aus dem 15.Jahrhundert, mich nicht überzeugt
(mit guten Gründen ablehnend zuletzt auch W. M. Grauwen, Was de inquisiteur
Koenraad van Marburg [† 1233] een premonstratenzer?, Analecta Praemonstratensia
52, 1976, S. 212-224). - Zur frühen Tätigkeit als Kreuzprediger
zuletzt Paul B. Pixton, Die Anwerbung des Heeres Christi: Prediger des
Fünften Kreuzzuges in Deutschland, DA 34 (1978) S. 166-191, bes. S.
174f., 178. - Den Anteil Konrads am Heiligsprechungsverfahren Elisabeths
arbeitet umsichtig Matthias Werner heraus: Die Heilige Elisabeth und die
Anfänge des Deutschen Ordens in Marburg, in: Marburger Geschichte.
Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen. Hg. vom
Magistrat der Stadt Marburg (1979) S. 121-164. - Grundlegend zum Verhältnis
Konrads zu Elisabeth nach Wilhelm Maurer, Zum Verständnis der heiligen
Elisabeth von Thüringen, ZKG 65 (1933/54) S. 16-64, jetzt Matthias
Werner, Die heilige Elisabeth und Konrad von Marburg, in: Sankt Elisabeth.
Fürstin, Dienerin, Heilige (1981) S. 45-69.
Dankbar gedenke ich der vielen kritischen Ratschläge, die insbesondere den rechtshistorischen Partien dieses Aufsatzes zugute gekommen sind. Sie wurden mir zuteil von meinen Kollegen bei den Monumenta Germaniae Historica sowie namentlich von Prof. Peter Landau, Prof. Knut Wolfgang Nörr, Dr. Armin Wolf, Prof. Reinhard Elze, Dr. Martin Bertram, für den ketzergeschichtlichen Abschnitt von Herrn cand. phil. Gerhard Rottenwöhrer, der eine Arbeit über die katharischen Riten vorbereitet.
In diesem Schriftstück hat eine, in anderen päpstlichen Schreiben ähnlichen Zusammenhangs nicht wiederkehrende Phrase unterschiedliche Deutungen erfahren: die oben zitierten Anfangsworte Ut igitur -excusatum. Was ist damit gemeint, daß Konrad zur leichteren Bewältigung seiner ketzerinquisitorischen Aufgaben von den cognitiones causarum freigestellt sein sollte? Nach Ka1tner S. 137 erklärt diese Phrase, „warum er ( = Konrad) sich mit dem Verhör der Parteien so wenig beschäftigte“, deutet sie also als Lizenz zu seinem von den Zeitgenossen gerügten Verfahren; ähnliche, auf das Verfahren bezügliche Deutungen weist Karl Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands 4 (3/41913) S. 619 Anm.4 zurück und argumentierte seinerseits: „Konrad war als päpstlicher Kommissär benützt worden, vgl. Ep. pont. I S. 389 Nr. 484, und der Papst teilte ihm mit, das solle fernerhin nicht mehr geschehen, damit er sich ganz der Inquisition widmen könne.“ Diese Auffassung fand allgemeine Zustimmung; vgl. Braun S. 334, Förg S. 74.Ich teile sie nicht. Denn zum einen geht Haucks Hinweis auf MGH Epp. saec. XIII 1, 389 Nr. 484 von 1232 Okt. 14 ins Leere, denn die dort übertragene Schutzaufgabe für Elisabeths Marburger Hospital betrifft nicht irgendeine lästige päpstliche Kommission, sondern die von Konrad vor und nach Elisabeths Tod (19. 11. 1231) mit größter Umsicht und Energie betriebene Sicherung von Elisabeths Hospitalgründung (vgl. dazu ausführlich Werner wie Anm. 1), von der er sich auch nicht durch seine Inquisitionsaufgaben abhalten ließ; zudem zeigt schon ein Blick auf das Datum des Schreibens, daß es allenfalls als Argument dafür herhalten könnte, daß solche Kommissionsaufgaben offenbar nicht gemeint waren, wenn sie mitten in der Ketzerkampagne übertragen wurden. Nun ist der Ausdruck cognitio causae hier in der Tat nicht leicht deutbar. Auszugehen ist aber von seiner Grundbedeutung im Rechtsleben, denn hier bezeichnet er den Prozeßablauf, die prozessuale Untersuchung in der Gesamtheit ihrer Verfahrensteile (vgl. zu diesem Sprachgebrauch vielleicht am besten Johannes Fasolus mit seinem bald nach 1272 entstandenen Traktat De summariis cognitionibus, ed. L. Wahrmund, Quellen zur Geschichte des römisch-kanonischen Processes im Mittelalter 4, 5 [1928], bes. S. 1ff.; wenig deutlich die Beispiele im Mittellateinischen Wörterbuch 2 [1968-] Sp. 796). Der Begriff ist also keineswegs auf irgendwelche Kommissionsaufgaben zu beziehen, wohl gar - wie man nach Hauck eigentlich annehmen müßte – auf die päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit, von der wir in dieser Zeit in Deutschland sehr wenig und im Hinblick auf Konrad außerhalb der Ketzerinquisition gar nichts wissen. Nicht also von anderen als Konrads Inquisitionsprozessen ist die Rede (man würde dann eigentlich auch ein aliis vor cognitionibus erwarten), sondern von diesen selbst. Doch so wenig mir an dieser Tatsache Zweifel angebracht erscheinen, so unsicher ist eine genauere Bestimmung, was der Papst mit Konrads „Freistellung vom prozessualen Vorgehen“ gemeint haben könnte: Gewiß nicht die Lizenz zur schrankenlosen Willkür; im Zusammenhang mit der im Textzusammenhang dann folgenden Aufforderung zur Beiziehung von Gehilfen neige ich dazu, darin die Erlaubnis zur Subdelegierung von ganzen Prozessen oder Verfahrensteilen zu sehen, wie sie ja auch im Wirken des Dominikaners Tors und des Laien Johannes (siehe unten S. 648f.) historisch bezeugt ist.
Es ist anzumerken, daß sowohl die Continuatio IV der Gesta Treverorum (MGH SS 24, S. 400, 42: Conradus ... auctoritate apostolica fretus) wie die Annalen der Erfurter Dominikaner (Monumenta Erphesfurtensia, MGH SS rer. Germ. 1899, S. 82, 22: innumerabiles heretici per magistrum Cunradum de Marburc auctoritate apostolica examinati ac per sententiam secularem damnati combusti sunt igne) in klaren Worten die päpstliche Weisung als Rechtsgrundlage für das inquisitorische Vorgehen Konrads namhaft machen.
Ausdrücklich genannt sei jedoch noch der, freilich äußerst knappe, Bericht in den um 1237 verfertigten Annales s. Pantaleonis ( = Cont. IV der Chronica regia Coloniensis) ed. G. Waitz, MGH SS rer. Germ. (1880) S. 264f., die aber leider nichts von Belang über das in den oben genannten Hauptquellen Mitgeteilte hinaus enthalten. Zu diesen Annalen vgl. Wattenbach - Schma1e 1, 109ff.
Hinzuweisen
wäre in diesem Zusammenhang auch auf die Beschreibung der Zeremonie
des Melioramentum (diesmal ohne Consolamentum) bei Bernard Gui, Practica
inquisitionis heretice pravitatis, ed. G. Mollat (Les classiques de l’histoire
de France au moyen âge 8, 1926) S. 20 mit Anm. 2: Item docent
credentibus suis quod exibeant eis reverentiam, quam vocant melioramentum,
nos autem vocamus adorationem, videlicet flectendo genua et inclinando
se profunde coram ipsis super aliquam banquam vel usque ad terram, iunctis
manibus, tribus vicibus inclinando et surgendo et dicendo, qualibet vice. „Benedicite”,
et in fine concludendo: „Boni christiani, benedictionem Dei et vestram;
orate Dominum pro nobis quod Deus custodiat a mala morte et perducat nos
ad bonum finem, vel ad manus fiaelium christianorum.” Et
hereticus respondet. „A Deo et a nobis habeatis eam (scilicet benedictionem);
et Deus vos benedicat et a mala morte eripiat animam vestram et ad bonum
finem vos perducat.”
Noch knapper und gleichfalls in diesem Sinne die Annales s. Pantaleonis, ed. G. Waitz, Chronica regia Coloniensis, MGH SS rer. Germ. (1880) S. 264 f.: ... multi ... a quodam fratre Cunrado ignis supplicio ... nimis precipiti sententia sunt addicti. Nam eodem die quo quis accusatus est, seu iuste seu iniuste, nullius appellationis, nullius defensionis sibi refugio proficiente, est dampnatus et flammis crudelibus iniectus. Als neues Element könnte man lediglich die Appellation betrachten, die Gregor IX. gerade damals beim Häresiedelikt für grundsätzlich unzulässig erklärte (vgl. Hinschius 5, 467f.), übrigens in einem seiner Ketzergesetze, die er im Zusammenhang seiner Initiative zur Ketzerverfolgung des Jahres 1231 sowohl Konrad von Marburg wie anderen deutschen Prälaten übersandt hat; siehe den Text oben S. 643 Anm. 4 sowie Gregors IX. Dekretale „Excommunicamus“ vom Februar 1231 (vgl. die Edition bei Selge [wie Anm. 118] S. 42): Item proclamationes aut appellationes huiusmodi personarum minime audiantur.
Die
Erwartungen der Zeitgenossen hinsichtlich eines ordentlichen Prozeßverfahrens
faßt sehr schön die Summa Coloniensis V 6 zusammen (ed. Fransen
- Kuttner 2, 52ff.).
Zur Einführung des römisch-kanonischen Verfahrensrechts in Deutschland seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts vgl. auch Helmut Coing, Römisches Recht in Deutschland (Ius Romanum Medii Aevi 5, 6, 1964) S. 79ff.
An
Quellen zu den Grundsätzen des kanonischen Inquisitionsverfahrens
genügt hier der Hinweis zu Text und Glossenliteratur (namentlich Johannes
Teutonicus) des maßgebenden c. „Qualiter et quando“ des 4. Laterankonzils
1215, das den Inquisitionsprozeß ins Kirchenrecht einführte,
ed. Antonius García y García,Constitutiones
Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum (Monumenta
Iuris Canonici, series A: Corpus Glossatorum 2, 1981) S. 54ff., 197 ff.,
298 ff.
Zum Problem der Rezeption dieses Verfahrens im deutschen Recht Eberhard Schmidt, Inquisitionsprozeß und Rezeption. Studien zur Geschichte des Strafverfahrens in Deutschland vom 13. bis 16. Jahrhundert, in: Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Heinrich Siber zum 10. April 1940, Bd. 1 (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien 124, 1, 1941) S. 97-181, dessen These eines vernachlässigenswerten Einflusses des kanonischen Prozesses für die allmähliche Einführung des Inquisitionsverfahrens in Deutschland mich freilich in keiner Weise überzeugt. Seine These modifiziert die ältere Auffassung von Richard Schmidt, Die Herkunft des Inquisitionsprocesses, in: Festschrift der Albrecht-Ludwigs-Universität in Freiburg zum fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläum Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs Friedrich (1902) S. 63-118, dem zufolge die Wiege des Inquisitionsprozesses nicht das kanonische, sondern das weltliche Recht gewesen sein soll (vgl. dagegen schon Zechbauer a.a.O.). Eberhard Schmidts Ansicht ist heute herrschend ( vgl. den Artikel „Inquisitionsprozeß“ von H. Schlosser im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2 [1972-1978] Sp. 378-382), dabei dürfte sie in wesentlichem Maße nur dadurch mit verursacht sein, daß E. Schmidt regional begrenzte, die geistliche Gerichtspraxis im Detail aufzeigende Studien der Art gefehlt haben, wie sie Othmar Hageneder, Die geistliche Gerichtsbarkeit in Ober- und Niederösterreich. Von den Anfängen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 10, 1967), für Österreich vorgelegt hat. Für uns besonders von Interesse sind dabei Hageneders Ausführungen S. 255ff. zum Eindringen des Inquisitionsverfahrens in die geistliche Gerichtspraxis erst seit der Mitte des 13. Jahrhunderts. Dies zeigt, daß zur Zeit Konrads von Marburg selbst das ordentliche Inquisitionsverfahren in Deutschland noch nicht das Regelverfahren war (es begann sich bekanntlich mit dem Beginn des 13. Jahrhunderts von den Rheinlanden her durchzusetzen; vgl. Coing wie Anm. 94).
Wie ungewohnt jeder Gedanke an ein abgekürztes Verfahren gewesen sein muß und wie ganz selbstverständlich sich gegen eine solche als unrecht empfundene Prozeßführung Protest und Widerstand regten, zeigen die neueren Untersuchungen zum mittelalterlichen Verständnis vom Recht selbst, das in der Frühzeit keine objektive Rechtsnorm, sondern Charakteristikum einer Verfahrensweise war, das prozessualen, nicht materiellen Charakter hatte und erst seit dem 12. Jahrhundert von dem noch heute gültigen Verständnis vom Recht als objektiver Norm abgelöst wurde; dazu mit weiteren Hinweisen Karl Kroeschell, „Rechtsfindung“. Die mittelalterlichen Grundlagen einer modernen Vorstellung, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag Bd. 3 (1972) S. 498-517, bes. s. 511 ff.
Noch
sehr viel später, 1474, wird der Oberelsässer Landvogt Herzog
Karls des Kühnen, Peter von Hagenbach, den „kurzen Prozeß“,
den er vier Thanner Bürgern gemacht hat, mit gerichtlichen Beweises
nicht bedürftiger Notorietät von deren „Rebellion“ zu rechtfertigen
suchen: ähnlich wie bei Konrad von Marburg ein Zusammenstoß
von neuem „Staat“ und altem Recht; zu dieser geschichtlichen Einordnung
und zum Ablauf sowie zu den prozessualen Elementen des Verfahrens gegen
Peter von Hagenbach, das die spätmittelalterliche Gerichtspraxis bis
ins einzelne erkennen läßt, eingehend Hermann Heimpe1, Das Verfahren
gegen Peter von Hagenbach zu Breisach (1474). Ein Beitrag zur Geschichte
des deutschen Strafprozesses, ZGORh 94 (1942) S. 321-357, bers. S. 334;
ders., Mittelalter und Nürnberger Prozeß, in: Festschrift Edmund
E. Stengel zum 70. Geburtstag (1952) S. 443-452, bes. S. 451 mit Anm. 5.
Vgl. auch Hildburg Brauer - Gramm, Der Landvogt Peter von Hagenbach (Göttinger
Bausteine zur Geschichtswissenschaft 27, 1957) bes. S.
302ff.
Von Innocenz III. her fand dann bekanntlich die Gleichsetzung Ketzer/Majestätsverbrecher Eingang in die Gesetzgebung Friedrichs II.; vgl. speziell Giovanni de Vergottini, Studi sulla legislazione imperiale di Federigo II in Italia, Le leggi del 1220 (1952); Hermann Dilcher, Die sizilische Gesetzgebung Kaiser Friedrichs II. Quellen der Constitutionen von Melfi und ihrer Novellen (Studien und Quellen zur Welt Kaiser Friedrichs II. Bd. 3, 1975) bes. S. 68f.
Die
Quellen zeigen eindeutig, daß kein anderes als das Königsgericht
zum Prozeßforum für die Sache des Grafen von Sayn geworden war
(daß es sich nicht etwa um ein Sendverfahren handelte, legt neben
der Federführung des Königs die Beteiligung von Laienfürsten
nahe). DMi Zuständigkeit des Hof- oder Königsgerichts ergibt
sich aus der Standesqualität des Angeklagten, der überdies Anspruch
darauf hatte, nur von seinen Standesgenossen gerichtet zu werden. Vgl.
Otto Frank1in, Das Reichshofgericht im Mittelalter, 2 Bde. (1867-1869),
hier Bd. 2, S. 34, 134ff. (ohne Wert sind die Bemerkungen zu unserem Prozeß
ebd. 1, 111f); Heinrich Brunner - Claudius Freiherr von Schwerin, Deutsche
Rechtsgeschichte 2 (21928) S. 181ff.(bes.
S. 191), 687ff. Zum iudicium parium gibt es keine brauchbare
Darstellung; vgl. den Artikel „iudidum parium“, in: Handwörterbuch
zur deutschen Rechtsgeschichte 2 (1972-1978) Sp. 465-467 (W. Sellert).
Die Form des Verfahrens ist die beim Hofgericht allgemein übliche, d. h. Erhebung der Klage durch eine Partei (hier Konrad), Abweisung der Klage mittels Reinigungseid des Angeklagten, wobei (was nicht die Regel, aber möglich war) der Kläger (nicht der Angeklagte) die Beweispflicht hatte. Zu diesen Verfahrenspunkten Franklin Bd. 2, S. 211ff., 241ff., 248f.; Brunner-Schwerin 22, S. 454ff., 498ff., 512ff.
a)
iniuste Hs.Zürich,
Alberich Hs. 2, Scheffer-Boichorst, Weiland. b) persecutione
Alberich
Hs. 1,persecutioni Scheffer-Boichorst,
Weiland.
Wie man sieht, ist die Überlieferung leider an wichtiger Stelle gestört, und das hat in den einschlägigen Editionen zu falschen Textentscheidungen geführt, mit daraus folgenden Fehlinterpretationen bis in die Handbücher hinein; vgl. nur H. Grundmann, in: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 1 (91970) S. 452: „... wurde ‚unrechte Ketzerverfolgung’ statt gerechtem Gericht ... untersagt.“ Es geht aber gar nicht um eine solche Gegenüberstellung, sondern um die Mahnung, bei der Abhaltung gerechten Gerichts das Prinzip der aequitas einzuhalten. Das ist allemal eine „diplomatische Ohrfeige“ für die in Frankfurt versammelten Nachlaßverwalter Konrads von Marburg gewesen.