VI.
Chiliasmus und Reformation im ausgehenden Mittelalter
„Wir sind bis zum Überdruß mit Prophezeiungen mancherlei
Art angefüllt, wie über die Ankunft des Antichrist, die Vorzeichen des nahenden
Weltgerichts, die Verfolgung und Reformation der Kirche und dergleichen."[1]
So klagt gegen Mitte des 15. Jahrhunderts der Franziskaner Bernhardin von Siena
(† 1444) mit Worten, die schon gut anderthalb Jahrhunderte zuvor sein
Ordensbruder David von Augsburg († 1272) gebraucht hatte[2].
Ihrer beider Klage war wohlbegründet, denn seit dem 12. Jahrhundert und weit
über das 15. Jahrhundert hinaus wurde die abendländische Welt mit einer wahren
Flut prophetischer Literatur überschwemmt[3].
Nun sind eschatologische Vorstellungen und Schriften natürlich keine Erfindung
dieser Epoche und dieses Kulturraumes gewesen, und gerade die Geschichte des
Christentums ist von allem Anfang an von endzeitlichen Erwartungen geprägt
gewesen[4].
Aber hier blieben im theologisch-literarischen Bereich endzeitliche
Spekulationen im wesentlichen Sache der Bibelexegese - namentlich zu Jesaia,
Daniel, zum 2. Thessalonicherbrief und zur Johannes-Apokalypse - und verloren
seit dem 4. Jahrhundert, d.h. seit dem Arrangement der Kirche mit dem Staat zur
Zeit Konstantins und Silvesters, allmählich auch ihre aktuelle Bedeutung[5].
So sind es bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts nur wenige Schriften, die sich
eigens diesem Thema widmeten: Ich nenne die im 4. Jahrhundert entstandene
„Tiburtinische Sibylle“[6],
die dem Märtyrerbischof Methodius von Patara zugeschriebenen „Revelationes“ aus
dem 7. Jahrhundert[7], und
schließlich den Antichristtraktat des Abtes Adso von Montier-en-Der aus der
Mitte des 10. Jahrhunderts[8].
Nimmt man noch den Apokalypsenkommentar Haimos von Auxerre aus dem 9.
Jahrhundert hinzu[9], so hat man
die wichtigsten und in den folgenden Jahrhunderten wirkungsmächtigsten
eschatologischen Schriften beisammen. Nicht einmal die von manchen Zeitgenossen
gehegte Erwartung (476) des
Weltendes um das Jahr 1000 bzw. 1033 hat einen mehr als bescheiden zu nennenden
literarischen Impuls ausgelöst[10].
Dieses Bild änderte
sich in der Folgezeit: Sind es zunächst vor allem große Namen, die mit dem
eschatologischen Thema verbunden sind etwa Anselm von Havelberg, Gerhoch von
Reichersberg, Hildegard von Bingen[11]
und insbesondere Joachim von Fiore[12]
-, so ist es seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine Flut meist kurzer,
namenloser oder pseudonymer Vatizinien, die dem literarischen Genus das Gepräge
geben[13].
Entstanden sind sie vorwiegend als Kampfschriften in der Auseinandersetzung
zwischen Kaiser und Papst[14],
im Zusammenhang der aufkommenden nationalen Rivalitäten, besonders zwischen
Deutschland und Frankreich[15]
der Irrungen und Wirrungen innerhalb des Franziskanerordens (vor allem im
sogenannten Armutsstreit) und den daraus resultierenden Auseinandersetzungen
mit der Kurie[16], oder auch
im Zusammenhang mit besonderen, die Christenheit erschütternden Ereignissen,
wie dem Fall von Akkon 1291 oder dem Fall von Konstantinopel 1453[17].
Prophetien entstanden aber auch als publizistisches Mittel dynastischer
Politik; das zeigt die Inanspruchnahme der Endkaiser-Prophetie für den Wettiner
Friedrich den Freidigen[18]
oder der Karls-Prophetie für das französische Königshaus und später dann für
das Haus Habsburg[19].
Ihnen allen ist eigentümlich, daß sie über einen
verhältnismäßig engbegrenzten Schatz von Bildern und Motiven der
eschatologischen Thematik verfügen, der gleichsam kaleidoskopartig in immer
neuen Zusammensetzungen und Varianten dem Betrachter entgegentritt und es dem
analysierenden Historiker schwermacht, die einzelnen Prophetien nach Herkunft
und gegenseitiger Abhängigkeit, nach Zeit und Ort der Entstehung zuverlässig
einzuordnen; denn zu den Besonderheiten des prophetischen Schrifttums gehört
es, daß ein- und derselbe Grundtext mit mehr oder minder großen
Textveränderungen, unter wechselnden Namen, versehen mit immer neuen Daten,
ständig aktualisiert wurde[20].
Die Erschließung dieser Quellengattung ist entsprechend
schlecht. Sind schon die Hauptwerke dieser Literatur, namentlich Joachims
Opera, kaum kritisch ediert, so gibt es für die Fülle der kleineren Schriften
nicht einmal einen auch nur einigermaßen vollständigen Überblick, ist selbst
das aus Handschriften Bekannte vielfach nicht gedruckt, geschweige denn
kritisch herausgegeben[21].
Das wird zum Teil an der Geringschätzung liegen, die die ältere Forschung
diesem sich dunkel gebenden und (477) vielfach
tatsächlich obskuren Schrifttum entgegenbrachte und die einen Gelehrten vom
Range Holder-Eggers nur mit eingestandenem Widerwillen Texte dieser Art
untersuchen und edieren ließ[22].
Denn erst in jüngerer Zeit hat man die Bedeutung dieser Quellen nicht nur als
konstitutiv für das Verständnis von mittelalterlicher Geschichts- und Weltsicht
erkannt - ich nenne neben Herbert Grundmann[23]
nur Richard Southern[24]
-, sondern man hat sie auch als Zeugnis sozialkritischer, ja sogar utopischer
und revolutionärer Stimmungen zu werten versucht[25].
Man kann nicht behaupten, daß diese Versuche allseitig
geglückt wären, und zwar schon deswegen nicht, weil man sich der
quellenspezifischen Problematik nicht immer hinreichend bewußt war. Denn wofür
zeugen die apokalyptischen Bilder vom nahenden Antichrist und den ihn
begleitenden Verheerungen von Kirche und Welt und - diesen Schreckensbildern
entgegengesetzt - von den Verheißungen eines kommenden Friedensreiches? Sind es
Indikatoren temporärer Krisen und Katastrophen (so Norman Cohn in seinem
vielbeachteten, auch ins Deutsche übersetzten Buch „The Pursuit of the
Millennium“[26]), oder
Ausdruck einer latenten, ständig vorhandenen krisenhaften Grundstimmung des
späten Mittelalters, wie Robert Lerner, der heute vielleicht gründlichste
Kenner dieser Quellengattung, jüngst betonte[27],
oder sind es vielleicht nur mechanisch tradierte Schablonen, mit denen man in
vordergründig schriller Polemik aufeinander einschlug - bloßes pompöses
Wortgeklingel also, bar jeden wirklichen Endzeitempfindens[28]?
Gedachte man die Welt zu reformieren oder auch zu revolutionieren? Ist es
sinnvoll, einen Begriff wie „Utopie“ auf chiliastische Vorstellungen
anzuwenden? Von all diesen in den letzten Jahren des öfteren behandelten Fragen
sei hier auf die Begriffe „utopisch“ und „revolutionär“ genauer eingegangen,
wobei die Welt dieser Prophetien und ihr Ort im Zeitgeschehen zunächst an einem
weniger bekannten Einzelfall veranschaulicht werden soll.
Am 8. Juli 1446 wurde Nikolaus von Buldesdorf, ein Laie,
vom Basler Konzil in öffentlicher Sitzung im Münster als „falscher Prophet,
Verführer des christlichen Volkes, als hartnäckiger und unkorrigierbarer Ketzer
verdammt“, was nach damals gültiger Rechtsauffassung Überantwortung an die
weltliche Gewalt und d.h. automatisch: Tod durch Verbrennen zur Folge hatte[29].
Auch das Basler Konzil also hatte - und das blieb bislang nahezu unbeachtet[30]
- seinen Hus bzw. Hieronymus. Die Konzilsväter müssen zu diesem Zeitpunkt
geradezu dankbar für die Gelegenheit gewe(478)sen
sein, mit einer Ketzerverbrennung eines der vornehmsten Anliegen eines jeden
Konzils, nämlich Wahrung der Einheit des Glaubens[31],
erfüllt und ihre Existenzberechtigung unter Beweis gestellt zu haben. Denn 1446
hatte sich infolge der übereilten Absetzung der Erzbischöfe von Köln und Trier
durch Eugen IV., die das gesamte Kurfürstenkolleg gegen den Papst aufbrachte,
die letzte Überlebenschance für das Konzil ergeben[32],
und man suchte diese Chance augenscheinlich auch dadurch zu nutzen, daß man als
Hort der Rechtgläubigkeit ostentativ tätig wurde. Daß der Zeitpunkt einem
Kalkül entsprang, zeigt schon die Tatsache, daß der Verurteilte jahrelang in
Basel gefangengehalten worden war, bevor man ihm den Prozeß machte[33].
Doch daß sein Prozeß einen politischen Nebensinn hatte, in den politischen
Zusammenhang der Geschichte des Basler Konzils gehört und dort Bedeutung hatte,
besagt nicht, daß es ein politischer Prozeß war; wohl aber zeigt das Forum, vor
dem verhandelt wurde, daß der Prozeßgegenstand eine in den Augen der
Zeitgenossen hochrangige Angelegenheit war. Worum ging es?
Nikolaus von Buldesdorf hatte sich als pastor angelicus (Engelshirte)
bezeichnet, als christus domini, auf
den die biblische Weissagung zutreffe (Jo. 12,34), „daß Christus ewiglich
bleibe“, worunter er den Anbruch und die Dauer eines künftigen, wie er zählte:
siebenten Zeitalters hier auf Erden verstand, das unter dem Gesetz des in der
Johannes-Apokalypse (14,6) geweissagten „ewigen Testaments“ stehen würde, auch
bezeichnet als „drittes Testament des Hl. Geistes“, oder mit einem anderen
Begriff der Johannes-Apokalypse (3,5 u. ö.) als liber vitae (Buch des Lebens), wo das, was Christus in den
Evangelien angelegt hatte, „vollendet“ werden sollte. Dieses siebente sanctissimum saeculum werde nach dem
jetzigen, dem sechsten nequissimum
saeculum auf das Ende des Antichrist folgen, wo Christus in einer Art
erstem, partiellen Weltgericht einen Großteil der Heiligen und die ärgsten
Verdammten richten würde, um dann erst nach dem als 6000jährig gedachten
Friedensreich das endgültige Weltgericht abzuhalten. In dieser Zwischenzeit
würden die Menschen ohne Not und Drangsal unsterblich leben, und zwar wie Adam
und Eva in paradiesischer Unschuld. Aber dieses Reich würde nicht einfach von
allein kommen, und Nikolaus sah sich nicht nur als dessen Prophet, sondern er
sah sich selbst in der Rolle dessen, der diese neue Zeit heraufführen würde,
als Messias der Juden, als „Sohn Gottes, ja Gott selbst“ analog zu Christus,
als „natürlicher Sohn“ Gottes, der auf Erden dieselbe Rolle spielen würde wie
Jesus Christus im Himmel[34].
(479)
Für die bestehende römische Kirche war da kein Raum: Sie
befindet sich in lecto adulterii (in
ehebrecherischem Bett) - sicherlich eine Anspielung auf die Verquickung des
Spiritualen mit dem Temporalen - und wird „durch ihre Schlechtigkeit“ (per maliciam) von Gott abfallen. Ebenso
wie Christus „mit einem neuen Gesetz, einer neuen Lebensform, einem neuen
Kreuz“ eine neue Form der Gottesgemeinde heraufgeführt und den überlebten
„fleischlichen Judaismus“ abgelöst habe, so werde der „Engelshirte“ mit einer
neuen Ordnung Christi Gesetz, Leben und Kreuz erneuern[35].
Dabei hatte Nikolaus offenbar die Vorstellung - und dies ist ein anderswo nicht
belegbarer Zug seines Gedankengebäudes -, daß in einer Art dialektischem
Umschlag die künftige Kirche der Endzeit wieder eine Synagoge sein müsse, wie im
Alten Testament, und daß das künftige Gottesvolk nach den gentes der Christus-Zeit wieder neue Juden sein würden, daß also
die neue Zeit eine echte Synthese der einander entgegengesetzten Seinsformen
des mosaischen Gesetzes und des Gesetzes Christi bringen werde[36].
In diesem System war natürlich auch kein Platz für die
beiden herrschenden Ordnungsmächte der Zeit: für Kaiser und Papst, denn dem
„Engelshirten“ ist „von Gott die legitima
auctoritas des Papstes und des Kaisers über alle Reiche der ganzen Welt“
übertragen worden[37], eine auctoritas, die z.B. auch die
„Ausrottung der Bösen“ (metendi et
exterminandi malos) beinhaltete.
Wie kam Nikolaus zu diesen ja nicht nur hinsichtlich der
Einschätzung der eigenen Person recht kühnen Vorstellungen? Er beruft sich (wie
die meisten Propheten) auf Visionen, die er seit Kindheitstagen gehabt haben
will und in denen ihm aufgetragen worden sei, diese seine Lehren in der ganzen
Welt zu verkünden. Das hat er denn auch getan; zudem verfaßte er diverse
Schriften, die er in Deutschland, Frankreich, ja sogar Spanien verbreitete, wo
er viel Anklang gefunden haben will[38].
Eine neuerliche Vision, bei der ihm die Heiligen Emmeram und Kaiser Heinrich
erschienen, veranlaßte ihn schließlich, nach Basel zu ziehen und auf dem Konzil
für seine Ideen zu werben. Dort freilich wurde er festgenommen, jahrelang
eingesperrt und verhört und fand, da er seine Lehren nicht widerrief, den Tod.
Aus Nikolaus’ eigenen Schriften erfahren wir leider
nichts von seinen Vorstellungen, denn sie sind verurteilt und verbrannt worden.
Unser Wissen gründet sich allein auf die erst kürzlich wiedergefundene Verdam(480)mungssentenz des Basler Konzils,
die bei aller quellentypischen Einseitigkeit[39]
in der Wiedergabe von Nikolaus’ Lehren dennoch die wichtigsten Elemente
spätmittelalterlicher Endzeitvorstellungen bewahrt hat.
Da ist zunächst die chiliastische Erwartung eines
paradiesischen Friedensreiches auf Erden, das nach einer Periode größter
Drangsal und vor dem erwarteten Weltende den Gerechten als Lohn zuteil werden
sollte. Das Motiv ist uralt, geht in seiner christlichen Prägung auf die
jüdische Apokalyptik zurück, war aber seit Augustins Verwerfung aller
millennarischen Spekulationen im Abendland verpönt[40].
Seine Auffassung, daß diese Welt ein Jammertal und das verheißene Reich Christi
jenseitig, nicht von dieser Welt sei und nichts mit ihr gemein habe, war die
allein herrschende bis weit ins 12. Jahrhundert hinein. Lediglich untergründig
blieb in einer auf Hieronymus zurückgehenden bibelexegetischen Tradition der
frühchristliche Chiliasmus lebendig. Robert Lerner hat jüngst gezeigt, wie
allmählich aus dieser exegetischen Tradition die Erwartung einer nicht nur
kurzfristigen Friedensperiode vor dem Weltende erwuchs, die dann in den
Geschichtsspekulationen Joachims von Fiore zum Durchbruch kam und durch die
Vermittlung der Franziskanerspirtiualen geistiges Allgemeingut wurde[41].
Dieser vornehmlich durch Joachim geprägte Endzeitglaube war und blieb eine
Spielart der allgemeinen eschatologischen Weltsicht des christlichen
Mittelalters, derzufolge zwischen den Zeitgrenzen Erschaffung und Weltgericht
die Erdengeschichte, in verschiedene Epochen gegliedert, abläuft. Bekannt ist
das Schema der vier Weltreiche mit dem römischen als dem letzten, die
heilsgeschichtliche Konzeption der tempora
ante legem, sub lege und sub gratia,
sowie Augustins in der „Civitas Dei“ entwickelte Zeitengliederung in sechs saecula (oder aetates), die für die mittelalterliche Weltchronistik das
herrschende Ordnungsprinzip der Menschheitsgeschichte geworden ist[42].
Für alle diese Schemata nun ist kennzeichnend, daß im Augenblick ihres Entwurfs
(und solange sie tradiert wurden) der Betrachter seinen geschichtlichen
Standort in der letzten Weltepoche
bestimmt sah: danach konnte nur noch das jenseitige Gottesreich kommen. Und
hiervon unterschied sich die chiliastische Konzeption, die noch auf Erden den
Anbruch einer neuen Zeit erwartete. In Fortbildung des augustinischen
Sechserschemas konnte das ein siebentes Saeculum sein. Mit Joachim konnte man
auch von einem tertius status mundi
sprechen, einem „dritten Reich“, also, und zwar einem des Heiligen Geistes
(nach den status (481) oder „Reichen“ des Vaters und des Sohnes). Bei Nikolaus von
Buldesdorf flossen, wie wir sahen, beide Vorstellungen zusammen. Die Dauer
dieses Reiches konnte unbestimmt bleiben, länger oder kürzer, in Wiederaufnahme
der Zahlenangabe der Johannes-Apokalypse (20,3-7) auch 1000 Jahre währen: So
erstmals nach Augustins Verdikt bei dem Franziskanerspiritualen Jean de
Roquetaillade, der im avignonesischen Kerker 1356 sein weitverbreitetes „Vade
mecum in tribulatione“ schrieb[43],
oder bei dessen Ordensbruder Friedrich von Braunschweig, der 1392 in Speyer
verurteilt wurde[44]. Nikolaus
von Buldesdorf erwartete - sicherlich in Parallele zum augustinischen
Sechs-Saecula-Schema - ein 6000jähriges Friedensreich. Doch wie auch immer die
Vorstellungen von Zeitraum und Zeitfolgen im einzelnen aussahen - man erwartete
eine im Vergleich zur Jetztzeit qualitativ andere Epoche, die das Erdenabbild
des von Christus versprochenen Gottesreiches sein sollte.
Zumeist erwartete man dieses Reich im buchstäblichen
Sinn; die Chiliasten genauso wie jene, die, gemäß der Tradition, das
Gottesreich erst für das Jenseits erhofften. Das heißt, man war gewiß, daß dieses Reich kommen werde; aber man
wußte nicht, wann das geschehen
sollte. Von daher erklären sich die zahllosen spekulativen Berechnungen, etwa
die joachitische Erwartung auf das Jahr 1260, oder auch die auf kabbalistischem
Wissen beruhende Tradition bei Pico della Mirandola, erst im Jahre 2000 werde
das Weltende kommen, um nur zwei prägnante Beispiele von Nah- und Fernerwartung
des Weltendes zu nennen[45].
Daran, wie nahe oder fern von seiten des Propheten der Anbruch der neuen Zeit
angenommen wurde, läßt sich gesteigertes oder abgeschwächtes Endzeitbewußtsein
ablesen. Nirgends aber, selbst wenn die signa
Antichristi, die geweissagten „Zeichen“ des schon unter den Menschen
weilenden Antichrist, sichtbar zu sein schienen, kann man bei diesem
Prophetientyp die Absicht erkennen, die Zeitenwende selbst herbeizuführen. Hier
von revolutionärem Bewußtsein reden zu wollen, scheint mir daher verfehlt[46].
Dies ändert sich aber im Laufe des 14./15. Jahrhunderts;
und dafür scheint mir Nikolaus von Buldesdorf ein Zeuge zu sein. Wesentlich
dafür ist die gewandelte Rolle, die sich der Prophet selbst zumißt. Auf den
ersten Blick erscheint auch hier alles in traditionellem Gewand: Da ist
zunächst die seit Roger Bacon Mitte des 13. Jahrhunderts begegnende Papa-angelicus-Vorstellung, der Gedanke
also, daß ein Engelspapst die Paradieseszeit heraufführen werde; eine Idee, die
in Cölestin V. verkör(482)pert zu
sein schien, von Franziskanerkreisen zum heilsgeschichtlichen Programmpunkt
erhoben wurde und in einer Folge ungemein weitverbreiteter Papstprophetien
literarische Gestalt gewann[47].
Auch die Endkaiservorstellung klingt bei Nikolaus von Buldesdorf an, jene
Erwartung also, daß vor dem jüngsten Gericht ein weltlicher Herrscher nach der
Niederringung des Antichrist eine irdische Friedensepoche heraufführen werde[48].
In dieser Vorstellung begegnen sich jüdische Traditionen des kommenden Messias,
der als „König der Könige“ gedacht war, mit der römisch-antiken Erwartung eines
Friedenskaisers, wie sie in Vergils 4. Ekloge Ausdruck gefunden und in der
Herrschaft des Kaisers Augustus Gestalt angenommen hatte. Die Idee, daß es der
römische Kaiser sein müsse, dessen Reich dauern werde bis zum Erscheinen des
Antichrist und der Welt Ende, war eine im mittelalterlichen Weltbild fest
verwurzelte und jedermann geläufige Vorstellung, wie man sie in
Antichrist-Traktaten lesen konnte und in den zahlreichen Antichrist-Spielen vor
Augen geführt bekam[49].
Beliebte Verkörperungen des Endkaisers waren im Mittelalter Karl der Große und
vor allem Friedrich II., dessen Name in zahlreichen deutschen und italienischen
Prophetien begegnet, etwa im thüringischen Raum um Friedrich den Freidigen[50]
und bei den um Sangerhausen beheimateten sogenannten Kryptoflagellanten, einer
aus der Geißelbewegung 1349 entstandenen und bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts
nachweisbaren Sekte mit antiklerikalen und adventistischen Zügen, deren Führer
und geistiger Vater, Konrad Schmid, sich selbst in der Rolle des dritten
Friedrich sah, der 1369 die Endzeit heraufführen werde[51].
Ein weiteres Beispiel ist Fra Dolcino, Führer der aus dem Franziskanerorden
erwachsenen Apostolikersekte, der in König Friedrich III. von Sizilien den
Endkaiser sah, der den verderbten Klerus ausrotten und eine Friedensepoche
heraufführen werde, in welcher Dolcino und seine Anhänger frei und ungehindert
ein am Ideal der Urkirche orientiertes Leben verkünden und die Menschen zur
inneren Einkehr bewegen würden[52].
Auch sei daran erinnert, daß in den deutschen Reformschriften des 15.
Jahrhunderts, in der „Reformatio Sigismundi“ und beim sogenannten
„Oberrheinischen Revolutionär“, die endzeitlichen Reformatoren der
Priesterkönig Friedrich von Lantnewen bzw. Friedrich, „ein König vom
Schwarzwald“, sein sollten[53].
Doch die eschatologischen Gestalten Endkaiser und
Engelspapst, man könnte noch den Messias hinzunehmen und selbst den Antichrist,
dessen (483) deutsche Verballhornung
„Endchrist“ durchaus nicht nur negative Assoziationen weckte[54]
- sie wurden im allgemeinen eben wie der deus ex machina erwartet; aber nur
selten identifizierte sich jemand mit ihnen. Eines dieser wenigen Beispiele ist
Nikolaus von Buldesdorf; aber nicht nur er. Ich will hier von der schwierigen
Frage absehen, ob Kaiser Friedrich II. selbst sich als eschatologische Figur
empfand - Hans Martin Schaller hat das Nötige dazu gesagt[55]
-; aber es gibt noch andere Fälle. Hingewiesen wurde schon auf den Führer der
thüringischen Kryptoflagellanten Konrad Schmid (wohingegen der oft als
Revolutionär mißdeutete Fra Dolcino hier ausscheiden muß[56]).
Anzuführen wäre auch der bereits erwähnte, in Speyer verbrannte Friedrich von
Braunschweig, der zwar nicht behauptete, in eigener Person der Endkaiser bzw.
Engelspapst zu sein, wohl aber dessen Vorläufer, ein „Johannes“, wie er sich
auch selbst benannte. Die praecursor-Vorstellung
in Gestalt des Johannes begegnet wiederholt in unserem Zusammenhang: Der
Franziskanertheologe Franz von Meyronnes kennt sie Anfang des 14. Jahrhunderts[57];
Mitte des 15. Jahrhunderts begegnet sie im Egerland, als sich Janko von
Wirsberg - zusammen mit seinem Bruder Livin Oberhaupt der sogenannten
Wirsbergersekte - Johannes de Oriente nannte und glaubte, Vorläufer eines
kommenden unctus salvatoris zu sein[58].
Noch bei Thomas Müntzer ist diese Vorstellung lebendig, in der die Gestalten
Johannes’ des Täufers, des mythischen Priesterkönigs Johannes, aber auch des
Evangelisten zusammenflossen, der, wie Enoch und Elias ins Paradies entrückt,
wie diese für eine endzeitliche Aufgabe aufgespart worden sein sollte[59].
Ob aber Vorläufer eines Größeren oder dieser Größere selbst - alle, die sich
mit einer solchen Gestalt identifizierten, warteten die Endzeit nicht ab,
sondern versuchten, sie aktiv herbeizuführen.
Sie sind mit ihren Plänen unterschiedlich weit gekommen.
Konrad Schmid hat es über ein Sektenhäuflein nie hinausgebracht. Immerhin blieb
der Raum Thüringen/Sachsen bis zur Reformation ein Sammelbecken heterodoxer
Kräfte[60].
Friedrich von Braunschweig hatte Predigterfolge in Niedersachsen und am
Mittelrhein - mit ihm wurden der Dekan des Speyrer Guido-Stiftes und zwei
Vikare verurteilt -, danach verliert sich seine Spur. Nikolaus von Buldesdorf
will Gesinnungsgenossen in Deutschland, Frankreich und Spanien gefunden haben;
aber seine Verurteilung rief nicht das geringste Echo hervor. Gefährlicher
scheinen lediglich die Wirsberger gewesen zu sein. Sie sollen so viele Anhänger
(484) gehabt haben, daß sie hätten
„einem großen Reichsfürsten widerstehen“ können[61].
Nach dem Ende Livins, der 1467 in Regensburg verurteilt wurde und dort bald
darauf im Kerker starb, hört man freilich nichts mehr von ihnen. Erfolgreicher,
wie bekannt, war Thomas Müntzer.
Schicksal und Ideen dieser Propheten lenken auf die
eingangs gestellte Frage zurück, wieweit es zulässig ist, Kategorien wie
„revolutionär“ und „utopisch“ auf sie, und damit auf mittelalterliche
Prophetien überhaupt, anzuwenden. Die Frage scheint mir kein müßiges Spiel um
Worte zu sein, geht es doch dabei letzten Endes um nicht weniger als um das
Verständnis des Mittelalters als einer eigenen Epoche. Denn diese Begriffe sind
als Kategorien historischen Verstehens an geschichtlichen Erscheinungen
entwickelt worden, die nicht dem Mittelalter angehören. Es ist daher zu fragen,
ob diese Begriffe ohne Verlust ihrer Prägnanz und ohne anachronistische
Mißverständnisse auf das Mittelalter übertragen werden können. Überprüft man
nun - unter Heranziehung der Reformschriften mit eschatologischem Einschlag
(also „Reformatio Sigismundi“ und „Oberrheinischer Revolutionär“) - die
mittelalterlichen Prophetien daraufhin, was sie konkret an der Gegenwart
beanstandeten und wie sie sich materiell die neue Zeit vorstellten, kommt man
zu folgendem Ergebnis: Über die apokalyptischen Bilder von Hunger, Pest und
Naturkatastrophen hinaus trifft die mit dem Kommen des Antichrist einhergehende
Vernichtung der menschlichen Zivilisation primär die tyrannischen Träger von
Herrschaft, mehr aber noch - und im allgemeinen viel detaillierter geschildert
- trifft sie die denaturierte Kirche. Ohne hier Einzelheiten nennen zu wollen,
wird als Rezept durchweg empfohlen, auf der Grundlage der bestehenden
Einrichtungen gemäß den evangelischen Räten Kirche und Welt wiederherzustellen. Es sind ausnahmslos
Begriffe wie reformatio und reparatio mundi - selbst bei den
radikalen chiliastischen Taboriten[62]
-, mit denen das Programm für die Heraufführung des Millenniums umschrieben
wird. Nun ist es bekanntermaßen dem Bewußtsein des mittelalterlichen Menschen
unmöglich gewesen, qualitativ Neues anders zu begreifen denn als Wiedergeburt
des (verlorenen) Alten[63].
Und im Sinne dieser Paradoxie für die
sich das Wort „revolutionär“ kaum in Anspruch nehmen läßt sollte man es sehen,
daß zwar keine einzige mittelalterliche chiliastische Prophetie in ihrer
Imagination über den antiken bzw. biblischen Bilderkanon hinausging, dennoch
aber die Verwirklichung etwa paradiesischer Lebensformen - einschließlich (485) Fortpflanzung in statu
innocentiae[64] - als ein,
verglichen mit der Gegenwart, radikal anderer Zustand begriffen und angestrebt
wurde. Hier ist also Neues, oder vielleicht richtiger: anderes gewollt worden;
und es fanden sich Träger dieser Ideen - im Mittelalter wohl am konsequentesten
in den chiliastischen Taboriten -, die diese andere, bessere Zeit aktiv
handelnd zu verwirklichen trachteten. Das entspräche Karl Mannheims Definition
des Utopischen als einer „’wirklichkeitstranszendenten’ Orientierung, die, in
das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise
oder ganz sprengt“[65].
Und Hans Freyers Unterscheidungsmerkmal zwischen Utopie und Chiliasmus, daß
nämlich der letztere im Unterschied zum ersteren passivisch sei[66],
verfängt hier nicht. Auch Alfred Dorens Abgrenzung chiliastischer Wunschzeiten
gegenüber neuzeitlich-utopischen Wunschräumen hebt sich hier auf[67].
Und doch scheint es unvertretbar, einen Mann wie Nikolaus von Buldesdorf mit
seinem chiliastischen Programm unter Verwendung derselben etikettierenden
Begriffe auf eine Stufe zu stellen mit einem neuzeitlichen Utopiker wie Thomas
Morus oder - in Einzelzügen noch am ehesten vergleichbar - mit Thomas
Campanella und seiner „Civitas solis“. Denn von einer rational-vernünftigen,
virtuell verwirklichbaren, ins konkrete Detail gehenden Ausgestaltung einer
(auch so verstandenen) neuen, besseren Zeit - nach Thomas Nipperdey die
typischen Kennzeichen der neuzeitlichen Utopie[68]
- kann bei den mittelalterlichen Chiliasten gewiß keine Rede sein. Es kommt
noch ein anderes hinzu: Sosehr sich Nikolaus von Buldesdorf und andere, etwa
die Taboriten, als aktiv Handelnde empfanden, sie taten es doch nur im
Bewußtsein, bloße Werkzeuge im Heilsplan Gottes zu sein, an dessen eherner
Notwendigkeit sie keinen Zweifel hatten[69].
So steht ihre Gedankenwelt in eigentümlicher Weise in der Mitte zwischen
voluntaristischem Planen einer Gegenwelt und stillem Warten auf die Zukunft -
wenn man unbedingt will: ein Ansatz (aber auch nicht mehr) neuzeitlichen
Weltempfindens im mittelalterlichen Chiliasmus; sicherlich aber ein Beispiel
für die Unzulänglichkeit plakativer Begriffe, die als Kategorien historischen
Verstehens (unbeschadet der sprachlich älteren Prägung) ihren Ursprung der
Neuzeit, ihre heutige Aktualität dem Zeitgeschehen verdanken, die sich aber für
die Erfassung geschichtlicher Wirklichkeit tatsächlich vergangener, von der
Gegenwart in hohem Maße verschiedener Epochen als untauglich erweisen. (486)
Anmerkungen
[1] Bernhardin von Siena, De inspirationibus, sermo 3.2.3., in: Opera omnia 6 (1959) S. 267: Proinde vaticiniis iam usque ad nauseam repleti sumus ut puta de Antichristi adventu, de signis iudicii propinquantis de Ecclesiae persecutione et reformatione et similibus [...].
[2] Vgl. David von Augsburg, De exterioris et interioris hominis compositione III,67 (1899) S. 361.
[3] Den besten Überblick bieten die für die Thematik grundlegenden Werke von Bernhard Töpfer, Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 11) Berlin 1964, und Marjorie Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism, Oxford 1969.
[4] Aus der umfangreichen Literatur, die hier (und im folgenden) nicht in extenso ausgebreitet werden soll, sei hervorgehoben Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen (Probleme der Dichtung 7) Heidelberg 1965, mit den nötigen Hinweisen auf Literatur und Quellen zu den beiden für das eschatologische Weltbild des Mittelalters entscheidenden Traditionssträngen der antiken Welt: der seit Hesiod begegnenden Vorstellung des Goldenen Zeitalters und der jüdischen Apokalyptik. Zur letzteren (ihrem Ursprung und ihrem Fortwirken im christlichen Bereich) vgl. außerdem den Artikel „Apokalyptik“ in: Theologische Realenzyklopädie 3 (1978) S. 189-289, insbesondere die Abschnitte „Altes Testament“ (J. Lebram), „jüdische Apokalyptik“ (K. Müller), „Neues Testament“ (A. Strobel), „Alte Kirche“ (K.-H. Schwarte) jeweils mit ausführlichen bibliographischen Angaben.
[5] Ich begnüge mich mit dem Hinweis auf Horst Dieter Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum Deutschen Symbolismus, Münster 1973.
[6] Der vermutlich noch im 4. Jahrhundert entstandene lateinische Text der „Tiburtina“ hat sich allein in einer Überarbeitung der Zeit Kaiser Konrads II. (1024-1039) erhalten, die ihrerseits später wiederholt umgeformt worden ist; vgl. dazu immer noch die Ausgabe von Ernst Sackur, Sibyllinische Texte und Forschungen. Pseudomethodius, Adso und die tiburtinische Sibylle, Halle 1898, S. 115-187 (Text. S. 177-187). Den griechischen Text edierte Paul J. Alexander, The Oracle of Baalbek. The Tiburtine Sibyl in Greek Dress (Dumbarton Oaks Studies 10) Washington 1967, S. 9-22; ebd. S. 48-65 zum überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang und zur Datierung der griechischen und lateinischen Fassung.
[7] Der Urtext ist syrisch; er wurde zunächst ins Griechische und wohl im 8. Jahrhundert ins Lateinische übertragen und erfreute sich in dieser Sprachgestalt (487) außerordentlicher Beliebtheit: Verhelst (wie Anm. 8), S. 139 Anm. 1, zählt 190 Handschriften, auf deren Grundlage eine kritische Edition zu erstellen wäre; vorderhand zu benutzen ist die Ausgabe von Sackur, ebd. S. 196 (Text S. 59-96, nach vier Hss.). Zur Sache vgl. mit weiterführenden Angaben Rauh (wie Anm. 5) S. 145ff.
[8] Kritisch herausgegeben von D. Verhelst, Adso Dervensis, De ortu et tempore Antichristi, necnon et tractatus, qui ab eo dependunt (Corpus Christianorum, Cont. Med. 45) Turnholti 1976; vgl. dazu meine Rezension in: Deutsches Archiv 34 (1978) S. 264f. Verhelsts Edition ersetzt Sackurs Ausgabe (a. a.0. S. 97ff.). Zum Traktat selbst vgl. Robert Konrad, De ortu et tempore Antichristi. Antichristvorstellungen und Geschichtsbild des Abtes Adso von Montier-en-Der (Münchener Historische Studien, Abt. Mittelalterliche Geschichte 1) Kallmünz 1964; Maurizio Rangheri, La „Epistola ad Gerbergam reginam de ortu et tempore Antichristi“ di Adsone di Montier-en-Der e le sue fonti, in: Studi medievali, 3e serie 14 (1973) S.677-732.
[9] Text bei Migne, PL 117, 937-1220; zur weiten handschriftlichen Verbreitung vgl. F. Stegmüller, Repertorium biblicum medii aevi 3 (1951) Nr. 3122. Zum Verfasser und seinem Werk grundlegend Riccardo Quadri, Aimone di Auxerre alla luce dei „Collectanea“ di Heiric di Auxerre, in: Italia medioevale e umanistica 6 (1963) S. 1-48; zusammenfassend Heinz Löwe, in: Wattenbach-Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 5, Weimar 1973, S. 564; zuletzt John J. Contreni, The Biblical Glosses of Haimo of Auxerre and John Scottus Eriugena, in: Speculum 51 (1976) S. 411-434.
[10] Man wird Adsos Traktat in diesen Zusammenhang stellen müssen, auch die Bearbeitung der „Tiburtinischen Sibylle“ aus der Zeit Konrads II. Es ist allerdings in der Literatur umstritten, ob überhaupt, und wenn, wie allgemein das Jahr 1000 (bzw. 1033) eine gesteigerte Endzeiterwartung ausgelöst hat; überwältigend scheint sie nicht gewesen zu sein, aber man sollte sich davor hüten, sie gänzlich wegdisputieren zu wollen. Vgl. vorderhand mit weiterführenden Hinweisen Bruno Barbatti, Der heilige Adalbert von Prag und der Glaube an den Weltuntergang im Jahre 1000, in: Archiv für Kulturgeschichte 35 (1953) S. 123-141 (dazu H. M. Klinkenberg, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 34,1954, S. 310); R. B. C. Huygens, Un témoin de la crainte de l’an 1000: la lettre sur les Hongrois, in: Latomus 15 (1956) S. 225-239; weitere Belege bei Schaller (wie unten Anm. 14) S. 925 mit Anm. 5.
[11] Nähere Angaben bei Rauh (wie Anm. 5) S. 268ff., 416ff., 474ff.
[12] Trotz einer überwältigenden Fülle an Joachim-Literatur ist nach wie vor maßgebend Herbert Grundmann, Studien über Joachim von Fiore (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 32) Leipzig/Berlin 1927, unveränderter Nachdruck Darmstadt 1966. Zur Wirkung Joachims vgl. Reeves (wie Anm. 3); dort auch die nötigen bibliographischen Hinweise zur gesamten (488) Joachim-Forschung, die durch Neuerscheinungen nur unwesentlich zu ergänzen wären.
[13] Neben Reeves a. a. O. vgl. Robert Lerner, Medieval Prophecy and Religious Dissent, in: Past and Present 72 (1976) S. 3-24.
[14] Hierzu besonders Hans Martin Schaller, Endzeit-Erwartung und Antichrist-Vorstellungen in der Politik des 13. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd. 2, Göttingen 1972; S. 924-947 [in diesem Band S. 303-31].
[15] Dazu speziell Dietrich Kurze, Nationale Regungen in der spätmittelalterlichen Prophetie, in: Historische Zeitschrift 202 (1966) S. 1-23.
[16] Hierher gehören Schriften wie der „Liber de Flore“ und der vermutlich von dem Franziskanerspiritualen Angelo Clareno ca. 1304 verfaßte Zyklus von Papstprophetien, die über mancherlei Zwischenglieder noch bis in die Gegenwart hinein wirksam blieben; vgl. hierzu neben Reeves a.a.O. die 1928/29 erschienenen Aufsätze Herbert Grundmanns: „Die Papstprophetien des Mittelalters“ und „Liber de Flore. Eine Schrift der Franziskaner-Spiritualen aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts“; wiederabgedruckt in: Grundmann, Ausgewählte Aufsätze 2 (Schriften der MGH 25,2) Stuttgart 1977, S. 1-57 und 101-165.
[17] Bekannt ist die dem von 1247-1257 amtierenden Generalminister des Franziskanerordens Johannes von Parma untergeschobene Prophetie vom Fall Akkons, hg. von Emil Donckel, Visio seu prophetia fratris Johannis. Eine süditalienische Prophezeiung aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts, in: Römische Quartalschrift 40 (1932) S. 361-379; vgl. dazu Lerner (wie Anm. 13) S. 14. Über Joachim als den angeblichen Propheten vom Fall Konstantinopels vgl. die Belege bei Reeves S. 101f.
[18] Vgl. die Nachweise bei Schaller (wie Anm. 14) S. 941 f., mit Anm. 91 [hier S. 317f.]
[19] Dazu ausführlich Reeves S. 320ff. und 359ff.
[20] Beispiele etwa bei Lerner (wie Anm. 13) S. 17f.
[21] Den besten (wenn auch keineswegs vollständigen) Überblick gibt Reeves a. a. O.; vgl. besonders die Appendices S. 511ff.
[22] O. Holder-Egger, Italienische Prophetieen des 13. Jahrhunderts I-III, in: Neues Archiv 15 (1890) S. 141-178, 30 (1905) S. 321-386, 33 (1908) S. 95-187; Neues Archiv 30, 323: „An sich bietet dieser Text ein sehr geringes Interesse, und es ist mir recht wenig erfreulich, mich mit ihm zu beschäftigen, war ich doch nur durch die Ausgabe von Salimbene’s Chronik, der die ursprüngliche „Sibylla Erithea“ oft citiert, gezwungen, diese herauszugeben, nicht durch eigene Neigung diesen abstrusen Dingen zugeführt.“
[23] Neben Grundmanns bahnbrechenden Aufsätzen zum Thema, vereinigt im 2. Band seiner „Ausgewählten Aufsätze“ (1977), sei auf seine „Geschichtsschreibung im Mittelalter“ verwiesen, erstmals erschienen 1957 und danach wiederholt abge(489)druckt (zuletzt 1969 in 2. Auflage in der Kleinen Vandenhoeck-Reihe 209/210); vgl. hier besonders den Schlußabschnitt „Die Eigenart mittelalterlicher Geschichtsanschauung“ (ebd. S. 72ff.).
[24] R. W. Southern, Presidential Address: Aspects of the European Tradition of Historical Writing: 3. History as Prophecy, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series 22 (1972) S. 159-180.
[25] Sozialkritisch: Robert Lerner (wie Anm. 13) S. 18ff., und ders., Refreshment of the Saints: The Time after Antichrist as a Station for Earthly Progress in Medieval Thought, in: Traditio 32 (1976) S. 97-144. Wahlweise utopisch oder revolutionär oder beides zusammen: Norman Cohn (wie Anm. 26); Ferdinand Seibt, Utopie im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 208 (1969) S. 555-594 (dazu H. Grundmann, Deutsches Archiv 26, 1970, S. 280); ders., Utopica. Modelle totaler Sozialplanung, Düsseldorf 1972; Tilman Struve, Utopie und gesellschaftliche Wirklichkeit. Zur Bedeutung des Friedenskaisers im späten Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 225 (1977) S. 65-95; ders., Reform oder Revolution? Das Ringen um eine Neuordnung in Reich und Kirche im Lichte der „Reformatio Sigismundi“ und ihrer Überlieferung, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 126 (1978) S. 73-129 (dazu H. Boockmann, Deutsches Archiv 35, 1979, S. 600 f.); in diesem Zusammenhang („Reformatio Sigismundi“) vgl. auch Heinrich Koller, Revolution des 15. Jahrhunderts, in: Mediaevalia Bohemica 3 (1970) S. 229-236. Dies ist lediglich eine Auswahl einschlägiger Äußerungen aus den letzten Jahren. Dem besonders im deutschen Schrifttum zum Mittelalter schon modisch gewordenen Trend zur Verwendung der Begriffe „Utopie“ und „Revolution“ läßt sich nur wenig entgegenstellen; bedenkenswert (weil über bloße Begriffserörterung hinausführend, wie sie z.B. Wilhelm Kamlah, Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie, Mannheim 1969, S. 13ff. praktiziert) Hartmut Boockmann, Zu den Wirkungen der „Reform Kaiser Siegmunds“, in: Deutsches Archiv 35 (1979) S. 514-541, der die Leserschichten der Reformschrift als alles andere denn „revolutionär“ gesinnt erweisen kann.
[26] Erstmals erschienen 1957, jetzt zu benutzen in der dritten, revidierten Auflage mit dem Untertitel: Revolutionary Millennarians and Mystical Anarchists of the Middle Ages, London 31970, hier bes. S. 281ff. Deutsche Ausgabe: Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen, Bern/München 1961. Zu dem turbulenten Buch vgl. die Besprechungen von H. Grundmann, Historische Zeitschrift 196 (1963) S. 661-666 und B. Töpfer, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12 (1964) S. 139-142.
[27] Lerner (wie Anm. 13) S. 19.
[28] Der Eindruck eschatologischer Apokalyptik als eines bloßen literarischen Rituals der Polemik drängt sich in der Tat bei manchem Werk der Franziskaner-Spiritualen auf; vgl. etwa die kritischen Bemerkungen Grundmanns in seinem (490) Aufsatz über den „Liber de Flore“ (1929; nachgedruckt in Bd. 2 der „Ausgewählten Aufsätze“ 1977, hier S. 102ff.), oder Friedrich Baethgens (wie unten Anm. 30) S. 10f.
[29] Einzige Quelle ist das Verdammungsurteil, das bislang durch die verkürzende deutsche Übersetzung des Basler Chronisten Christian Wurstisen, Baßler Chronik, Basel 1580, S. 405-407 bekannt war. Den ursprünglichen Wortlaut fand Martin Steinmann (Basel) in den Handschriften Salamanca, Univ.-Bibl. Ms. 10 fol. 107r-110r (= Original der Sentenz, aus dem Besitz des Konzilschronisten Johannes von Segovia) und Basel, Univ.-Bibl. A I 31 fol. 162r-165r, Erich Meuthen (Köln) in der Basler Hs. D II 10 fol 110r-112r und der Hs. Wien, cvp 5116 fol. 19r-21r. Beide Herren überließen mir großzügig ihre Funde. Kritische Editionen und eingehende Analyse sind in Vorbereitung; hierauf beruhen die folgenden Ausführungen.
[30] Erwähnt wird er von Friedrich v. Bezold, Zur deutschen Kaisersage, in: Sitzungsberichte der kgl. bayer. Akademie der Wissenschaften, philos.-philol.-hist. Cl., 1884, S. 560-606, hier S. 590f.; Friedrich Baethgen, Der Engelpapst, Leipzig 1943, S. 47; Lerner, Traditio 32, S. 142; Ruth Kestenberg-Gladstein, The „Third Reich“. A fifteenthcentury polemic against joachism, and its background, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 18 (1955) S. 245-295, hier S. 257 mit Anm. 128 auf S. 290; Reeves (wie Anm. 3) S. 476. Dies sind bereits alle mir bekannten Nennungen in der historischen Forschung; auffallend ist das gänzliche Schweigen der Literatur zum Basler Konzil.
[31] Das war noch vor Friedenssicherung und Kirchenreform dem Basler Konzil als eine seiner Hauptaufgaben aufgetragen worden; siehe: Conciliorum Oecumenicorum Decreta, Bologna 31973, S. 456.
[32] Dazu (mit weiterführenden Hinweisen) eingehend Joachim W. Stieber, Pope Eugenius IV, the Council of Basel and the Secular and Ecclesiastical Authorities in the Empire. The Conflict over Supreme Authority and Power in the Church (Studies in the History of Christian Thought 13) Leiden 1978, S. 276ff.
[33] So steht es in der Sentenz: Cum autem prefatus Nicolaus […] iam a pluribus annis in carcere huius sacri concilii detentus magna cum mansuetudine et caritate ac diligenti studie instructus fuerit er informatus de doctrina catholice fidei suis erroribus contraria tam per reverendissimos sancte Romane ecclesie cardinales quam alios prelatos, magistros et doctores nostre congregacioni incorporatos aliosque plures diversorum ordinum viros religiosos [...] (Salamanca Ms. 10 fol. 109v).
[34] Wörtlich heißt das: Angelicus pastor erit filius dei ymo deus, sicut dominus noster Iesus Christus. Angelicus pastor erit filius naturalis Iesu Christi. Angelicus pastor et sibi adherentes in veritate erunt omnipotentes (Salamanca Ms. 10 fol. 108v). Und an anderer Stelle bei der Auslegung des Vaterunser (ebd. fol. 108r): Et „fiat voluntas tua” etc., id est: sicut in celo, id est in Iesu Christo, fit voluntas tua, sic in terra, id est in angelico pastore, fiat. (491)
[35] Sicut in sexta mundi etate reiecto carnali Iudaismo et vetustate prioris seculi convaluit novus ordo cum novo duce Iesu Christo cum nova lege vita et cruce, sic in septima etate mundi reiecta carnalium Christianorum ecclesia et vetustate prioris seculi convalescet novus ordo cum novo duce, scilicet angelico pastore, in quo renovabitur Christi lex et vita et crux (Salamanca Ms. 10 fo. 108r). Dieser Gedanke ist bis in den Wortlaut hinein der „Postilla in Apocalypsini“ des Petrus Johannis Olivi entnommen; vgl. das Zitat bei Reeves (wie Anm. 3) S. 198.
[36] Candelabrum ecclesie reibit ad synagogam, et deus omnipotens transferet et movebit candelabrum ad Iudeos, quos ab inicio elegit. Ecclesia ex gentibus succumbet et convertetur retrorsum; et synagoga assumetur, et ecclesia relinquetur. Sicut sanctus Paulus dixit Iudeis (Act. 28,28): „Quia hoc salutare dei datum est gentibus“, et hoc ipsi audient, sic angelicus pastor dicit ecclesie ex gentibus, quod presens salutare dei dabitur Iudeis, et hoc ipsi audient (Salamanca Ms. 10 fol. 108r).
[37] Angelicus pastor erit caput tocius mundi habens a deo legitimam auctoritatem tocius papatus et imperii necnon omnium regnorum tocius mundi illuminabitque totum mundum sicut sol in meridie (Salamanca Ms. 10 fol. 109r).
[38] Die Sentenz verurteilt namentlich einen libellus, quem vocat Testimonia spiritus sancti in propheciis item exposiciones eius super Oracione dominica, Psalterio, Apocalipsi et aliis libris novi et veteris testamenti (Salamanca Ms. 10 fol. 107v). Die Sprache dieser Schriften muß übrigens Latein gewesen sein, wie die wörtliche Übernahme ganzer Passagen aus dem Werk des Petrus Johannis Olivi beweist (vgl. oben Anm. 35).
[39] Es wird nur das vermerkt, was Anstoß erregt, was wirklich oder vermeintlich im Gegensatz zum katholischen Glauben steht; ein umfassendes Bild vom Lehrsystem eines „Ketzers“ kommt dabei nicht zustande. Vgl. dazu Alexander Patschovsky, Probleme ketzergeschichtlicher Quellenforschung, in: Mittelalterliche Textüberlieferung und ihre kritische Aufarbeitung. Beiträge der Monumenta Germaniae Historica zum 31. Deutschen Historikertag Mannheim 1976, München 1976, S. 86-91.
[40] Vgl. H.-J. Mähl (wie Anm. 4) S. 11ff. (Goldenes Zeitalter), 187ff. (christlicher Chiliasmus), 199ff. speziell zur Rolle Augustins. Dazu besonders: Alois Wachtel, Beiträge zur Geschichtstheologie des Aurelius Augustinus (Bonner Historische Forschungen 17) Bonn 1960, hier S. 79ff.
[41] Lerner, Refreshment of the Saints (wie Anm. 25). Lerner mißt freilich Joachim nicht die Bedeutung eines Wendepunktes für die Erwartung eines paradiesischen Reiches noch auf Erden zu (ebd. S. 120); darin vermag ich ihm nicht zu folgen.
[42] Vgl. allgemein Anna-Dorothee v. den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957; hier bes. S. 90ff. Speziell zu den mittelalterlichen Zeitengliederungen: Roderich Schmidt, Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67 (1955/56) S. 288-317. Vgl. auch Karl-Heinz (492) Schwarte, Die Vorgeschichte der augustinischen Weltalterlehre (Antiquitas, Reihe 1, Bd. 12) Bonn 1966.
[43] Zu benutzen immer noch bei Edward Brown, Appendix ad fasciculum rerum expetendarum et fugiendarum sive tomus 2, Londini 1690, S. 496-508; hier S. 506: [..] et tota litera de corporali resurrectione martyrum Christi sub antichristo literaliter accipienda est, quia ad literam per Mannos ad minus resurgent [...]. Weitere Nachweise bei Jeanne Bignami-Odier, Études sur Jean de Roquetaillade (Johannes de Rupescissa), Paris 1952, S. 103, 125; dazu Lerner, Refreshment of the Saints (wie Anm. 25) S. 132.
[44] Der Bericht hierüber ist bislang nur zugänglich in der fehlerhaften Ausgabe von C. Büttinghausen, Beyträge zur Pfälzischen Geschichte 1, Mannheim 1776, S. 231ff. Seine Vorlage fand sich in der Darmstädter Hs. 430 fol. 297rv, ein deutschsprachiges Fragment in der Münchener Hs. Cgm 574 fol. 96v; nach beiden Überlieferungen plane ich eine Neuausgabe.
[45] Zur joachitischen Erwartung der Endzeit im Jahre 1260 vgl. Reeves (wie Anm. 3) S. 48ff. Die kabbalistischen Spekulationen bei Pico finden sich in seinen berühmten „Conclusiones“, zuletzt hg. von Bohdan Kieszkowski (Travaux d’Humanisme et Renaissance 131) Genève 1973, S. 84: Si qua est de novissimis temporibus humana coniectura, investigare possumus per sacratissimam viam Cabale, futuram esse consumacionem seculi hinc ad annos quingentos et quatuordecim, et dies vigintiquinque. Stichtag ist der 7. Dezember 1486, zu dem bei Eucharius Silber in Rom die editio princeps der „Conclusiones“ erschien. Demnach errechnete Pico das Weltende genau für den letzten Tag des Jahres 2000. Das ist in der Literatur nicht immer so angegeben worden; vgl. die hübschen Beispiele bei F. Secret, Les kabbalistes chrétiens de la Renaissance (Sigma 5) Paris 1964, S. 35; aber etwa auch Grundmann, Die Grundzüge der mittelalterlichen Geschichtsanschauungen, 1934 (Nachdruck in: Ausgewählte Aufsätze 2, 1972, S. 211-219, hier S. 218), der ins Jahr 1994 gelangte.
[46] Ich beabsichtige nicht, in eine Diskussion über den Revolutionsbegriff einzutreten. Will er als Kategorie geschichtlichen Verstehens irgend etwas besagen, wird man ihn so prägnant wie möglich verwenden müssen; und dazu gehört zum einen der wirklich radikale Umsturz der bestehenden Ordnung als (möglicher oder tatsächlicher) Effekt, zum anderen aber auch die darauf zielende Intention der Handelnden oder Planenden, will man deren Bewußtseinshorizont charakterisieren. Dies etwa gegen Kollers (vgl. Anm. 25) Deutung der Reformatio „Sigismundi“ als revolutionär, allein weil die Verwirklichung ihres Programms grundstürzende Folgen gehabt hätte. Im übrigen hebt Koller zu Recht hervor, daß das bloße Element der Gewaltanwendung im Mittelalter kein im modernen Sinne revolutionärer Akt war - eine immer wieder mißachtete Einsicht (zuletzt z.B. von Klaus Arnold, „Oberrheinischer Revolutionär“ oder „Elsässischer Anonymus“?, in: Archiv für Kulturgeschichte 58, 1976 [ersch. 1978], S. 410-43 1, hier S. 424f.). (493)
[47] Dazu F. Baethgen, Der Engelpapst, Leipzig 1943, und H. Grundmann, Die Papstprophetien des Mittelalters, 1928 (Nachdruck in: Ausgewählte Aufsätze 2, S. 1-57). Siehe auch Reeves (wie Anm. 3) S. 401ff., 453ff. jüngst: Peter Herde, Cölestin V. (1294) (Peter vom Morrone): Der Engelpapst (Päpste und Papsttum 16) Stuttgart 1981, bes. S. 191ff.
[48] Vgl. Reeves S. 293 ff., H.-J. Mähl (wie Anm. 4) S. 213ff.; dort die nötigen weiterführenden Hinweise auf das oft behandelte Thema. An Spezialliteratur sei nur hervorgehoben: Franz Kampers, Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage, München 1896, dessen Studie den Grund für alle weitere Beschäftigung mit der Welt- und Endkaiservorstellung gelegt hat.
[49] Das Material der Antichrist-Spiele sammelte Klaus Aichele, Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und der Gegenreformation, Den Haag 1974.
[50] Vgl. Schaller (wie Anm. 14) S. 941f. [In diesem Band S. 317f.]
[51] Dazu Martin Erbstößer, Sozialreligiöse Strömungen im späten Mittelalter. Geißler, Freigeister und Waldenser im 14. Jahrhundert (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 16) Berlin 1970, S. 23ff., 70ff. Grundlegend ist die (leider so gut wie unzugängliche) Dissertation von Renate Riemeck, Die spätmittelalterlichen Flagellanten Thüringens und die deutschen Geißlerbewegungen, Diss. Phil. Jena 1943, masch. (ein Teildruck in der Zeitschrift für thüringische Geschichte und Altertumskunde Jg. 1945 war vorgesehen, gedieh aber nicht über das Stadium der Fahnenkorrektur hinaus).
[52] Die Quellen zu Fra Dolcino vgl. bei Arnaldo Segarizzi, Historia fratris Dulcini heresiarche di anonimo sincrono, e De secta illorum qui se dicunt esse de ordine Apostolorum di Bernardo Gui, in: Rerum Italicarum Scriptores 9,5 (1907), hier bes. S. 8f., 20-23, 26. Eine brauchbare Darstellung von Gestalt und Wirkung dieses Mannes fehlt. Bibliographische Hinweise bei Grado G. Merlo, Il problema di fra Dolcino negli ultimi vent’anni, in: Bollettino Storico-Bibliografico Subalpino 72 (1974) S. 701-708; zuletzt Raniero Orioli, L’eresia a Bologna fra XIII e XIV secolo, II: L’eresia dolciniana, 1975, hier bes. S. 11ff.
[53] Reformation Kaiser Siegmunds, hg. von Heinrich Koller (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalter 6) Stuttgart 1964, S. 88f., 332f., 342f.; Das Buch der hundert Kapitel und der vierzig Statuten des sogenannten Oberrheinischen Revolutionärs. Edition und textliche Bearbeitung von Annelore Franke. Historische Analyse von Gerhard Zschäbitz (Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter, Reihe A Bd. 4) Berlin 1967, bes. S. 303, 374ff.
[54] Vgl. das Notariatsinstrument über das Verhör Konrad Kannlers in Eichstätt 1381, hg. von H. Grundmann, Ketzerverhöre des Spätmittelalters als quellenkritisches Problem, 1965 (Nachdruck in: Ausgewählte Aufsätze 1, 1976, S. 406): [...] tunc sit missus a deo in universum mundum et habens potestatem super universum mundum ewangelisandi signa faciendi et omnia opera faciendi, que Christus fecit, et (494) quod ipse sit Antichristus nec Antichristus sit in malo recipiendus, quamvis nos solemus in malo interpretari, dazu der Kommentar Grundmanns S. 392.
[55] Schaller (wie Anm. 14).
[56] In diesem Sinne auch Töpfer (wie Anm. 3) S. 302f.
[57] Vgl. dessen Sermo I: De sancto Iohanne, „Dilectus mihi et ego illi“, consideratio 19 und 20, in: Sermones de sanctis, Basel 1498 (Hain *10532) fol. 33/34, hier fol. 33vb-34ra: Dixerat enim quidam, quod sicut Enoch et Helyas sunt in fine seculi venturi ad convertendum mundum - ideo vivi sunt translati -, ita beatus Iohannes vivus fuit translatus, ut iudicium preveniat. Quia, cum beatus Augustinus et ceteri sancti distinguant tria tempora - scilicet nature, legis et gratie -, sed unus testis assumptus est tempore legis nature sicut Enoch, alius tempore legis scripte sicut Helyas: ita decens est, ut tempore legis gratie tercius assumatur, ad quem magis spectat illa predicacio [...] ut intelligatur, quod sicut Enoch et Helyas venient tempore Antichristi ita beatus Iohannes facta pace ante tempus Christi adventus ut populus reducatur ad deum, sicut beatus Iohannes baptista fuit missus ante primum adventum. Istud tamen non est certum; ideo firmiter tenendum, quod beatus Iohannes erit cum Christo in iudicio sicut iudicans, et non sicut iudicatus, et cum illo illustrissime remeabit ad celum cum eo reversurus et in perpetuum regnaturus.
[58] Zu den Wirsbergern vgl. R. Kestenberg-Gladstein (wie Anm. 30), bes. S. 256f.; dazu nach wie vor unentbehrlich: Heinrich Gradl, Die Irrlehre der Wirsperger, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte der Deutschen in Böhmen 19 (1880) S. 270-279; Otto Schiff, Die Wirsberger. Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionären Apokalyptik im 15. Jahrhundert, in: Historische Vierteljahrschrift 26 (1931) S. 776-786 (dort die nötigen Nachweise zum Obengesagten; auf der Grundlage neuen Materials plane ich, das Thema nochmals aufzugreifen).
[59] Hierzu (auch schon zu Franz von Meyronnes) eingehend Reinhard Schwarz, Die apokalyptische Theologie Thomas Müntzers und der Taboriten (Beiträge zur Historischen Theologie 55) Tübingen 1977, S. 49ff. Zum Priesterkönig Johannes sammelte die Nachrichten Anna-Dorothee v. den Brincken, Die „Nationes Christianorum Orientalium“ im Verständnis der lateinischen Historiographie von der Mitte des 12. bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts (Kölner Historische Abhandlungen 22) Köln/Wien 1973, S. 382ff.; gewürdigt als eschatologische Gestalt ist er bei F. Kampers (wie Anm. 48) S. 78ff.
[60] Die Thüringer Kryptoflagellanten sind bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts nachweisbar; 1462 werden in Altenburg Waldenser/Taboriten entdeckt (vgl. J. Th. Müller, Zeitschrift für Brüdergeschichte 2 [1908] S. 75ff. nach der Hs. Breslau, Mil. IV/77; umfangreiches weiteres Material dazu liegt vor in der Hs. Dresden A 55 fol. 399ra-443vb); 1481 wird in Halberstadt ein der Ketzerei verdächtiger Mann namens Bertold Schade verhört, den ein in Ballenstedt ansässiger (Verwandter) Clauß Schade „instruiert“ hatte, welcher später in Quedlinburg wegen Häre(495)sie verbrannt worden war (ich referiere nach dem bisher unbekannten Verhörs Protokoll in der Hs. Leipzig 767). So sporadisch solche Nachrichten auch sind, sollten sie doch davor warnen, das Phänomen der Häresie in diesem Raum in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts allzu gering einzuschätzen.
[61] Audivi enim a quodam magno nobili quod dictus Lewinus ei confessus fuerit, quod tanta sit multitudo in huiusmodi secta diversis partibus Alamanniae quod, si simul essent constituti possint resistere magno principi (Text nach Nikolaus Glaßberger, Chronica [Analecta Franciscana 2] Quaracchi 1887, S. 432).
[62] Vgl. etwa die Chronik des Lorenz von Březová, der lateinischen Hauptquelle zu den Ereignissen, ed. Josef Emler, in: Fontes rerum Bohemicarum 5 (1893) S. 413: [...] reparari regnum Christi nunc in nostris diebus ad vulgum publicabant [...] adveniet Christus occulte, sicut fur, novo adventu ad regnum suum reparandum, ähnlich noch öfters. Zur Sache am besten Howard Kaminsky, A History of the Hussite Revolution, Berkeley/Los Angeles 1967, S. 310ff.
[63] Vgl. Johannes Spörl, Das Alte und das Neue im Mittelalter. Studien zum Problem des mittelalterlichen Fortschrittsbewußtseins, in: Historisches Jahrbuch 50 (1930) S. 297-341 und 498-524, hier bes. S. 309ff. Spörls Arbeit ist nach wie vor maßgebend für die Frage nach der (Un-)Fähigkeit des mittelalterlichen Menschen, seine Welt anders als nach traditionell vorgegebenen Mustern gestalten zu wollen; neuere Bemühungen (etwa von W. Freund [1957], E. Gössmann [1974] im Sammelband der Miscellanea Mediaevalia 9 [1974]), die vielfach in einer oft gequälten Diskussion um den (wechselnden) Inhalt der Begriffe modernus, antiquus u. ä. steckenblieben, haben da keine nennenswert vertieften Einsichten gebracht.
[64] So etwa Nikolaus von Buldesdorf ([...] reddetur eis innocencia Ade et Eve [...]) und zuvor die chiliastischen Taboriten ([...] isti electi [...] ad statum innocencie ipsius Ade in paradiso et ut Enoch et Elias reducentur [...], Lorenz von Březová, Chronik, ed. Emler, Fontes rer. Bohem 5, 416).
[65] Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1929) 31952, S. 169.
[66] Hans Freyer, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart, 1936, S. 82f.; vgl. auch: ders., Das Problem der Utopie, in: Deutsche Rundschau 183 (1920) S. 321-345, hier S. 327f.
[67] A. Doren, Wunschräume und Wunschzeiten, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 4: Vorträge 1924-1925 (1927) S. 158-205. Daß das Mittelalter durchaus den „Wunschraum“ kannte, hat gegen Doren zu Recht Otto Gerhard Oexle, Utopisches Denken im Mittelalter: Pierre Dubois, in: Historische Zeitschrift 224 (1977) S. 293-339, hier S. 305ff., hervorgehoben, der freilich seinerseits den Begriff des Utopischen so undifferenziert benutzt, daß er ihn für die den Geist des Vorabsolutismus atmende reformerische Programmschrift des Pierre Dubois, De recuperatione Terrae Sanctae, in Anspruch nehmen kann. - Es ist von mir im übrigen ebensowenig wie beim Revolutionsbegriff daran gedacht, in eine ausgedehnte Erörterung des Utopiebegriffs einzutreten (zu seiner wissenschaftsgeschichtlichen (496) Entwicklung ausführlich Oexle S. 293ff.); denn hier geht es allein um eine Probe aufs Exempel, was denn diese Kategorien für die Beschreibung der Welt des Mittelalters an Aussagefähigkeit besitzen.
[68] Thomas Nipperdey, Die Utopia des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit, in: ders., Reformation, Revolution, Utopie (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1408) Göttingen 1975, S. 124f. [der Aufsatz erschien erstmals 1966]. Ähnlich in der älteren Untersuchung: Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 44 (1962) S. 357-378, bes. S. 363f.
[69] Dies beobachtete schon T. Nipperdey, Die Funktion der Utopie S. 364f.