VII. Was sind Ketzer?
Über den geschichtlichen Ort der Häresien im Mittelalter
In Umberto Ecos
Erfolgsroman >Il nome della rosa< spielen Ketzer eine zentrale Rolle. Es
unterstreicht den geistigen Rang dieses Werkes, das eigentlich der historischen
Belletristik zuzurechnen ist und das eher auf intellektuelles Vergnügen zielt
als auf historisch tiefgründige Wahrheit, wenn man gerade als Fachhistoriker
mit dem Spezialgebiet der Ketzergeschichte anerkennen muß, daß Ecos
Überlegungen zum Ketzerphänomen mit zum Profundesten gehören, was über dieses
Thema in den letzten Jahrzehnten gedacht und geschrieben worden ist.
Es sind zwei zentrale Aussagen, die ich hervorheben und denen
ich an dieser Stelle etwas nachgehen will. Die eine findet sich in dem Dialog
zwischen der fiktiven Hauptgestalt des Romans, jener Mischung aus Sherlock
Holmes, William von Ockham und Roger Bacon, der Eco den Namen William von
Baskerville gab, und Ubertin von Casale, dem der Mystik zuneigenden
Franziskanerspiritualen, der tatsächlich um die Wende vom 13. zum 14. Jh.
gelebt hat und der uns u. a. ein tiefsinniges Werk mit dem sprechenden Titel
>Arbor vitae crucifixae Jesu< (Baum des gekreuzigten Lebens Jesu)
hinterlassen hat.[1] Dieser
Dialog kreist um die Frage der Abgrenzung zwischen den in der Rechtgläubigkeit
bleibenden, ja teilweise als Heilige verehrten kirchentreuen Mystikern (zu
denen vor allem auch Frauen wie Margarete von Città di Castello und Klara von
Montefalco gehörten) und den von der Kirche verdammten radikalen Mystikern, die
man als Ketzer brandmarkte, sei es unter dem Namen der Fraticellen oder der
'Häresie vom Freien Geist'. Beide Gruppen schöpften aus demselben ekstatischen
mystischen Erlebnis, nur waren die Konsequenzen verschieden: Hier die auf
Christus gerichtete Brautmystik, dort angeblich frivole Libertinage. Die beiden
Dialogpartner kommen zu sehr unterschiedlichen Bewertungen: Ubertin urteilt vom
Ergebnis her, für ihn unterscheiden sich beide Gruppen wie Feuer und Wasser,
die einen sind engelhaft gut, die anderen diabolisch böse, die einen gehören
zum Reiche Gottes, die anderen zum Reiche Satans. Die schablonenhafte
Schwarzweißmalerei, das Fehlen differenzierender Zwischentöne - das ist gut
mittelalterlich gedacht. Der ganz unmittelalterlich aufgeklärte William von
Baskerville (170) sieht das anders.
Er erkennt, "daß zwischen dem Feuer der Seraphim und dem Feuer des Luzifer
nur ein geringer Unterschied ist, denn beide entspringen einer extremen
Entzündung des Willens"[2].Anders
ausgedrückt: Es gibt eine innere Verwandtschaft zwischen Heiligen und Ketzern,
beide Bereiche konvergieren. Man könnte formulieren: Ketzer sind verhinderte
Heilige; Heilige sind verkappte Ketzer. Dies der erste Punkt.
Der zweite betrifft einen komplexeren Sachverhalt: In einem
Dialog zwischen William von Baskerville und Abbo, dem Abt des Klosters, in dem
die Handlung spielt, prallen zwei schon dem Mittelalter mögliche
grundverschiedene Verständnismodelle für Erscheinungsform und Wesen der Häresie
aufeinander, die allerdings auf einer höheren Ebene nicht nur erneut
konvergieren, sondern zugleich einen tieferen Gegensatz sichtbar machen.[3]
Abt Abbo weigert sich, zwischen den einzelnen häretischen Gruppierungen einen
Unterschied zu machen, seien das Katharer oder Waldenser, Fraticellen oder
Anhänger des Fra Dolcino; für ihn handelt es sich dabei jeweils nur um eine der
"Zahllosen Erscheinungsformen des Bösen"[4],
die alle eines gemeinsam haben: sie stellen die hergebrachte Ordnung, in der
das Gottesvolk lebt, auf den Kopf [5].
Für diese Grundeinstellung gegenüber den Ketzern hatte das Mittelalter das
Gleichnis von den Füchsen Simsons parat (Iudic. 14, 4/5): wie jeder von ihnen
ein anderes Gesicht hat, ihre Schwänze aber zur Einheit zusammengebunden sind,
so seien die Ketzer in einzelne Sekten geschieden, in der Bekämpfung der Kirche
aber einig.[6]
"Vermischt nicht, was verschieden ist", ruft William von Baskerville
dem Abte zu,[7] meint aber
an anderer Stelle selbst - entsprechend dem Denk und Sprachgebrauch
scholastischer Kategorien -, der Unterschied zwischen den Sekten ginge nicht in
die Substanz, sondern sei lediglich akzidentiell[8].
In einem tieferen Sinne sind sich also der Abt und sein Widerpart einig:
Häresie ist ein Gesamtphänomen, ihre divergierenden Erscheinungsformen sind
etwas rein Äußerliches; und Häresie als Ganzes zielt auf Veränderung der Welt,
ist folglich bedingt durch Unzufriedenheit mit dieser Welt. Der Ketzer ist
seinem Wesen nach nicht so sehr glaubensmäßig als sozial aussätzig. Daher
reagieren die systemerhaltenden Kräfte auf die Systemveränderer, indem sie sie
ungeachtet aller Unterschiede als Einheit fassen, gar nicht an den
Überzeugungen des Ketzers als eines Individuums interessiert sind, sondern
jedem einzelnen die Abirrungen und Untaten des ganzen Genus anlasten. So wird der
vielleicht harmlos Irrende zum häretischen Monstrum, präsentiert sich "die
Vielfalt der Häresien als ein einziges großes Knäuel teuflischer Widersprüche,
das den gesunden Menschenverstand beleidigt"[9].
Die Positionen beider Männer unterscheiden sich indessen wieder in der Wertung
dieses Sach(171)verhalts: Ketzerei
als Infragestellen der vorgegebenen Ordnung ist für den Abt vom Teufel, für
William von Baskerville Aufschrei der gequälten Kreatur. Und weil Ketzerei als
Ketzerei gar nicht gefragt ist, sondern bloßes Ventil ist für tieferliegende
Spannungen, die im sozialen Bereich vermutet werden, ist letztlich nicht nur
der Unterschied zwischen allen Ketzersekten sekundär, sondern auch zwischen
ketzerischer und rechtgläubiger Lehre: Jeder ist ketzerisch, jeder ist
rechtgläubig, nicht um den Glauben geht es, den eine Bewegung anbietet, sondern
allein um die Hoffnung, die sie weckt. Jede häretische Lehre ist stets nur das
Banner, die Kampfparole einer Revolte gegen realen Ausschluß. Kratz an der
Häresie, und du findest den Aussätzigen."[10]
Soweit Eco. Sein Verständnisansatz ist nicht unbedingt neu,
deswegen allerdings auch nicht unbedingt richtig. Gegen den Versuch z. B.,
Häresie als ein primär soziales Phänomen aufzufassen, hat ein Gelehrter wie
Herbert Grundmann sein Leben lang mit Leidenschaft gefochten. Aber auch er
hätte wohl zugegeben, daß nirgendwo der soziale Erklärungsansatz für Häresie
derart gedankenreich und suggestiv mit unbestreitbaren Erscheinungsformen
mittelalterlicher Ketzererkennung und Ketzerbekämpfung verknüpft worden ist wie
bei Eco. Daß nur ein Grad unterschied zwischen Heiligen und Ketzern bestand,
hätte er sogar vollen Herzens unterschrieben, denn kein anderer als Grundmann
selbst hat als erster aufgezeigt, daß religiöse Bewegung ein geschichtliches
Gesamtphänomen ist - ungeachtet aller dogmatischen Differenzen, Kanonisierungen
von Personen und Ansichten hier, Verteufelungen dort -, das man nicht gröber
verkennen kann, als wenn man dessen häretischen Bestandteil isoliert, Ketzer zu
Exoten macht oder zur Randgruppe im Minderheitenstatus[11].
Als 'mehrheitsfähig' erwiesen sich Ketzer zwar offenkundig nicht, sonst hätte
ihre Ketzerei irgendwann einmal als rechter Glaube allgemeine Geltung gefunden,
hätte ihre Anhängerschaft den Status einer verfemten Sekte zumindest mit dem
einer 'anerkannten Kirche' eingetauscht, wie das im Laufe der Jahrhunderte
wenigstens den Protestanten geglückt ist (womit die mittelalterliche
Ketzersekte der Waldenser als evangelische Gliedkirche eine späte
Rehabilitierung erfuhr). Aber 'Mehrheit' oder 'Minderheit' sind bloße
Ex-eventu-Kategorien, ohne Belang für die historische Einordnung, wenn beide
zwei Seiten derselben Medaille sind, verschiedene Verzweigungen derselben
Grundströmung.
Welches aber ist diese Grundströmung? Ist es der uralte
Antagonismus zwischen den Erfolgreichen und den Schlechtweggekommenen, zwischen
denen, die im Lichte, und denen, die im Dunkeln stehen, wie Bert Brecht das in
den Schlußstrophen des Dreigroschenfilms ausdrückt? Dann wäre Ketzerei nichts
als das Stigma eines gesellschaft(172)lichen
Defekts, und Eco zufolge wäre auch der 'rechte Glaube' auf derselben
Ebene anzusiedeln. Religion (gleich welcher Art) also Opium fürs Volk? Auf eine
subtile Variante des Marxschen Verdikts läuft Ecos sozialer Erklärungsansatz
für das Häresiephänomen im Grunde hinaus. Oder muß man mit Herbert Grundmann
die mittelalterliche Ketzerei in ein weiteres Umfeld einbetten, aus dem sie zu
erklären wäre und für das sie ihrerseits Indikatorcharakter hätte? Was also waren
die Ketzer? Verhinderte (oder wirkliche) Sozialrevolutionäre, und nichts sonst,
oder doch wenigstens: dies zuerst? Oder Kinder ihrer Zeit in einem sehr viel
weiteren Sinne, der das Element sozialen Rebellentums nicht unbedingt
ausschließt, aber das Ketzereiphänomen auch nicht darauf reduziert? Ecos Buch
provoziert auch und gerade für den 'Fachhistoriker' von neuem die Frage nach
dem geschichtlichen Ort der Häresie.
Ich will die Frage von zwei Seiten her angehen:
1. Was waren die Ketzer in der Sicht des mittelalterlichen Menschen?
2. Welchen Feldern historischen Geschehens lassen sich
Häresien zuordnen?
Die erste Frage zielt auf den Ort der Häresie im Weltbild des Mittelalters; die zweite
auf ihren Ort in der mittelalterlichen Geschichte.
Es ist klar, daß beide Aspekte im Rahmen dieses Essays nur paradigmatisch
behandelt werden können. Und es ist ebenso klar, daß dabei die anzuführenden
Ketzer und Ketzersekten selbst nur Paradigmata sind und daß in keiner Weise die
Absicht besteht, auf ihre jeweilige Erscheinungsform und Geschichte näher
einzugehen oder gar Ecos diesbezügliche Aussagen 'nachzuprüfen'.
I.
Zunächst also: Was waren die Ketzer in der Sicht des
mittelalterlichen Menschen? Die Frage ist mit einem Satz beantwortet: Sie waren
des Teufels. Von dieser Grundeinschätzung her lassen sich nahezu alle Aussagen
und Verhaltensweisen des Mittelalters den Ketzern gegenüber verstehen. Das läßt
sich schon an den kanonisch-rechtlichen Häresiedefinitionen ablesen, wie sie z.
B. Johannes de Segusio, Kardinalbischof von Ostia (und daher allgemein der
Hostiensis genannt), um die Mitte des 13. Jh. zusammenstellte.
Zehn Fallgruppen bildete er[12]:
Ketzer war, (1) wer die Sakramente der Kirche schändete wie der Simonist (weil
er sakramentale Handlungen zu einem Kaufobjekt degradierte); (2) der
Schismatiker; (3) wer in der Exkommunikation verharrte; (4) wer die Heilige
Schrift falsch auslegte; (5) wer eine neue Glaubensgemeinschaft, eine Sekte,
begründete oder sich einer solchen anschloß; (6) wer den Jurisdiktionsprimat (173) der Römischen Kirche, d. h. des
Papstes, nicht anerkannte; (7) wer nicht teilhatte an der sakramental
begründeten Glaubensgemeinschaft der Kirche; (8) wer die Gebote des
Apostolischen Stuhls hartnäckig übertrat; (9) wer den päpstlichen Erlassen
widersprach und sie nicht anerkannte; und ganz allgemein war (10) jeder ein
Ketzer, der über Glaubensartikel und Sakramente anders dachte als die Römische
Kirche.
Manches überschnitt sich da (etwa Fallgruppe 3 und 7), anderes
lief auf dasselbe hinaus, wie z. B. die Fallgruppen 6, 8, 9 und 10, die im
Grunde nur Spezifikationen desselben Prinzips sind, das erstmals Papst Gregor
VII. in einem berühmten Dictum des >Dictatus papae< formulierte:
"Daß niemand als rechtgläubig anzusehen sei, wer nicht mit der Römischen
Kirche übereinstimmt"[13];
man könnte sogar sagen, daß die "Häresie des Ungehorsams"[14]
gegenüber der Römischen Kirche, d. h. gegenüber dem Papst, als die Häresie
schlechthin galt.
Aber all das sind nur Versuche, die Erscheinungsformen der
Häresie von Sachfeldern her zu erfassen, so wie die Aufnahme des Ketzerkatalogs
Isidors von Sevilla in Gratians Dekret (C.24q.3c.39) den Versuch darstellt,
Häresie in der Fülle ihrer personalen Ausformung in den Griff zu bekommen. Mit Hilfe
solcher Kriterien und Beschreibungen suchte man Orientierung zu gewinnen, um
inmitten der gläubigen Herde die ‘räudigen Schafe’ ausfindig zu machen (um ein
beliebtes Bild für Ketzer zu gebrauchen), um den bloß irrenden Bruder in
Christo vom verstockten Irrlehrer, den bußfälligen und damit der Erlösung
fähigen Sünder vom hartnäckig auf seinem Irrtum beharrenden und darum
unbußfertig in Todsünde verbleibenden Ketzer unterscheiden zu können. War aber
einmal aufgrund derartiger Kriterien erkannt und rechtsförmlich entschieden,
wer ein Ketzer war, dann konnte über seine Zuordnung kein Zweifel mehr
bestehen: In welcher Gestalt auch immer Ketzer auftreten, so variiert
Hostiensis das Bild der Füchse Simsons mit ihren zusammengebundenen Schwänzen:
sie sind stets für die Hölle bestimmt.[15]
Von dieser heilsgeschichtlichen Zuordnung her erfolgte die
wesensmäßige Charakterisierung. Da sind vor allem die Bilder der Krankheit, die
für Häresie gebraucht werden, die nicht nur die Gefahr der Ansteckung und damit
der Verderblichkeit für den Christen signalisieren, sondern die für sich schon
das Abnorme ausdrücken[16]:
das Wort 'Krankheit' (morbus) kann geradezu synonym mit Ketzerei gebraucht
werden; vom Bild der 'räudigen Schafe' (oves morbidae) war schon die Rede;
Ketzerei ist 'Aussatz' (lepra); Ketzerlehre und Ketzer werden gern mit dem
schmückenden Beiwort 'todbringend' (mortiferus) oder 'pestbringend'
(pestiferus) versehen, ja die Pest selbst kann 'häretisch' sein und dann
'Verdammnis stiftend' (dampniferus). Häresie verbreitet sich wie ein
Krebsgeschwür (ut cancer serpit/se diffundit), wie ein Virus, oder wie (174) man Gift verspritzt (venenum sue
versucie diffundere), das dann 'todbringend' (letiferus) in den Eingeweiden
wühlt und das man aus dem Mund der 'alten Schlange' empfing. Es fügt sich ins
Bild, daß häretische Lehren und ihre Träger 'pervers' sind, Häresie eine
'Nichtswürdigkeit' (nequitia) ist, ein 'Schandfleck' (labes), eine 'stinkende
Fäulnis' (putrida tabes), daß die Berufsbezeichnung für den Ketzerinquisitor
'Inquisitor der häretischen Schlechtigkeit' (inquisitor haereticae pravitatis)
lautet, dessen Aufgabe darin besteht, das Zerstörungswerk der häretischen
Füchse im Weinberg des Herrn zu verhindern,[17]
und der sich dieser Aufgabe nach Art eines Arztes unterzieht (publica pestis
heretica ... remediis medicinalibus est curanda). Man gebe sich da freilich
keinen Illusionen hin: Von dieser Sorte 'Arzt' erwartete man die Amputation,
nicht die Heilung eines 'kranken Gliedes'.
Ganz allgemein: Ketzer sind bösartig (malignus), verderbt
(pravus), fluchwürdig (execrandus), sie suhlen sich im Schmutze (sordere) ihrer
Häresie, verfälschen (falsare) den Glauben. Ihnen eignet Verschlagenheit
(astutia oder versutia), und die ist teuflisch oder schlangengleich. Sie sind
wie Dornensträucher (vepres) und Unkraut (zizania), und dergleichen hatte man
herauszureißen (eradicare, exstirpare) und - falls man damit nicht entsprechend
dem Gleichnis Jesu vom Unkraut (Matth. 13, 24-30) bis zum Jüngsten Gericht
warten wollte - zu verbrennen. Und das tat man denn auch, zunächst bis ins 13.
Jh. hinein in eher tumultuarischer Form; seit Kaiser Friedrich II. die
Verbrennungsstrafe für Häresie obligatorisch machte, dann nach Recht und
Gesetz.[18]
Sprache ist verräterisch, und so weisen die Wortfelder, in
denen die Bezeichnung Ketzer und verwandte Begriffe immer wieder begegnen, von
selbst auf den Bereich, der als Ouelle und Inbegriff aller Ketzerei gelten
kann: auf die Welt des Bösen. Im Tugenden und Lasterschema des Mittelalters ist
Häresie ganz selbstverständlich der superbia, der 'Hoffart', zugeordnet, die
nach übereinstimmender Auffassung der Theologen als der berufsmäßigen
Sittenwächter die radix vitiorum, die 'Wurzel alles Bösen', war; hypocrisis,
'Heuchelei', ist eine der Ableitungen der superbia, die den Ketzer ganz
besonders kennzeichnet. Denn Häretiker sind von Natur aus unfähig zu allem
Guten, und tun sie es de facto doch, dann spiegelt sich in Wahrheit gerade
darin ihre Bosheit: Nicht fromm sind sie, sondern sie erwecken nur den Anschein
der Frommheit' (species pietatis); täuschen Heiligkeit nur vor, um ihre wahren
Absichten zu verbergen (sub sanctitatis simulatione se palliant), wie der Wolf
im Schafspelz.[19] So ist es
auch nur recht und billig, wenn man das Häresiedelikt rechtlich einstuft wie
das Fälschereidelikt und ebenso ahndet .[20]
Die Zuordnung von Häresie und Häretikern zum Reich des Bösen (175) geht aber noch über die bloße
Stigmatisierung hinaus: Sie sind als pars oder membra diaboli nicht nur für
sich böse und vom Teufel gleichsam besessen, sondern Teil der Teufelswelt
selbst: Im Tegernseer Antichristspiel aus der späten Stauferzeit sind 'Heuchelei'
(hypocrisis) und 'Häresie' die Begleiter des Antichrist; und jeder
mittelalterliche Theologe kannte zu denWorten des 1. Johannesbriefes 2,18:
"Ihr habt gehört, daß der Antichrist kommt, und jetzt sind viele
Antichriste gekommen", den Kommentar der Glossa ordinaria: ‘Antichristen'
das sind alle Ketzer...“ [21].
Wer so genau wußte, an welchem Ort die Ketzer in der
kosmischen Ordnung zu plazieren waren, der hatte auch keine Mühe sich
vorzustellen, was sie trieben: Teufelswerk natürlich, und das war trotz mancher
bizarren Züge ein ziemlich eintöniges Einerlei.[22]
Zum festen Repertoire der Ketzervorstellung gehörte vor allem der Ketzersabbat
(der direkte Vorläufer und Konkurrent des Hexensabbats), mit allem Drum und
Dran: Auf solchen Veranstaltungen wurden kleine Kinder geschlachtet, verbrannt
und aus ihrer Asche 'nach Heidenbrauch' (more paganorum)[23]
magisches Pulver bereitet; da übte man sich in sexuellen Exzessen, mit Vorliebe
solchen widernatürlicher wie widergöttlicher Art (Beischlaf mit Mutter,
Schwester, Patentante, aber auch Mann mit Mann und, mutatis mutandis, Frau mit
Frau); vor allem aber erwies man Lucifer kultische Verehrung, der seine
Gläubigenschar entweder als Kater zu beglücken pflegte, der auf eine nach
Heidenart aufgestellte Säule kletterte und sich das Hinterteil küssen ließ,
oder der in großer Herrlichkeit und Majestät erschien, auf einem goldenen Thron
sitzend und umschwebt von Engeln, genau wie das 'Lamm Gottes' in der
Offenbarung Johannis (7, 9-12), nach der eine Szene dieser Art gestaltet wurde.
Eine Art 'verkehrte Welt' also, die nicht eigentlich ein
Eigenleben führte, sondern für deren Gestaltung die Ordnung einer vom Geiste
Gottes durchwalteten heilen christlichen Welt gleichsam kat'antiphrasin den
Bezugspunkt bildete. Ketzer mußten daher Leute sein, die das genaue Gegenteil
dessen machten, was christliche Lehre als recht und Gott wohlgefällig erkannt
hatte: Statt Gott zu verehren, beteten sie Lucifer an; statt zu den Getreuen
Christi zu gehören, waren sie Teil des Corpus Antichristi; ihre rituellen
Zusammenkünfte sind Persiflagen des christlichen Ritus, soweit nicht aus
älteren Traditionen die Zerrbilder heidnischer oder gnostischer Riten als
Muster dienten (bei Eco finden sich sprechende Beispiele). Diese Zusammenkünfte
finden grundsätzlich im Geheimen statt, wie Heimlichkeit überhaupt
Wesensmerkmal der Ketzerei ist: man trifft sich nachts in unterirdischen
Kellern oder Höhlen, bildet Konventikel, wo man im Geheimen lehrt, wirkt als
'Winkellehrer' .[24] (176)
Man verkennt den stereotypen Charakter von Schilderungen
derartiger Untergrundtätigkeit, nimmt man sie für bare Münze; derartige
Praktiken wurden nicht berichtet, weil offene Predigt für Ketzer in der Tat
lebensgefährlich sein konnte, sondern weil dergleichen unabhängig von
alleräußeren Wirklichkeit zu ihrem inneren widerchristlichenWesen gehörte, denn
Christus hatte gesagt (Joh.18,20): "Ich habe offen vor aller Welt
gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden
zusammenkommen. Nichts habe ich im geheimen gesprochen." Auf gleicher
Ebene liegt es, wenn mittelalterliche Berichterstatter einem einzureden suchen,
der Ketzeranhang rekrutiere sich vornehmlich aus leichtverführbaren 'Fräulein'
(mulierculae), vor deren Gefährdung der Apostel Paulus so eindringlich gewarnt
hatte (2.Tim.3,6);[25]
oder daß Frauen generell das bevorzugte Objekt häretischer Werbung seien, über
die man an ihre Männer - nach mittelalterlicher Anschauung bekanntlich die
capita mulierum - heranzukommen suchte;[26]
man muß keiner frauenemanzipatorischen Richtung angehören, um zu erkennen, daß
hier nicht brandneue historische Wirklichkeiten, sondern altehrwürdige
sozialpsychologische Klischees Pate standen.
So abgeschmackt und wenig phantasievoll das überwiegend ist -
Originalität war auch gar nicht gefragt, sondern Einordnung in das vorgeblich
Bekannte: in das Reich Satans als der Gegenwelt zum Reiche Christi, was immer
man von beidem zu wissen meinte. Solch fixe Vorstellung davon, welche Rolle die
Ketzer auf der Weltbühne zu spielen hatten, erklärt z.B. die unterschiedslose
Übertragung 'luciferianischer' Glaubensvorstellungen und -praktiken auf
Gruppen, die natürlich weder 'Luciferianer' waren noch irgend etwas miteinander
zu tun hatten: Dergleichen unterstellte man dem theosophischen Zirkel der sich
vornehmlich aus dem hohen Klerus rekrutierenden Ketzer von Orléans 1022, den
Katharern des 12./13. Jh., dem Ritterorden der Templer 1307 bis 1312 und den
Waldensern in Schlesien und der Mark Brandenburg im 14. Jh., bis der gesamte
Vorstellungskreis schließlich an den Hexen festgemacht wurde.[27]
Das sind typische Wandermotive, die nichts über die Ketzer, aber viel über die
Welt aussagen, in der sie lebten und von der sie verfolgt wurden. Weil man zu
wissen meinte, wo ihr metaphysischer Ort war, glaubte man auch, ihre
geschichtliche Gestalt zu kennen. Und so fragte man Ketzer, hatte man sie
einmal als solche erkannt (oder sie dazu gemacht), was man ihnen aufgrund
höherer Einsicht in die Weltordnung zutrauen durfte, ja zutrauen mußte; und bei
den wenig rücksichtsvollen Fragemethoden (seit 1252 war auch die Folter
gestattet) erfuhr man immer, was man wissen wollte, sofern man zur Bestätigung
der eigenen Vorurteile überhaupt Fragen zu stellen für notwendig hielt .[28]
Kurzum: Der Ort der Ketzerei im Weltbild des mittelalterlichen
Men(177)schen präformierte in
entscheidender Weise die Aussagen über ihre geschichtliche Gestalt. Wer als
Historiker wissen will, was es mit Ketzern auf sich hatte, muß erst den Nebel
der Klischees durchdringen, der ihr Bild in den Ouellen verhüllt. Wer aber verstehen
will, weshalb man im Mittelalter so wenig an einer säuberlichen Unterscheidung
der Häresien und der Häretiker interessiert war, daß man die Accessoires der
Teufelsdiener undifferenziert auf alle übertrug, muß sich bewußt sein, daß
unseren mittelalterlichen Gewährsleuten nicht so sehr Angst vor einer Bedrohung
der Ordnung dieser Welt die Feder
lenkte, sondern weil sie im Ansturm der Ketzer auf diese Welt die metaphysische Welt bedroht sahen. Im
katharischen Mythos von Lucifer, der am Ende der Zeiten mit seinen Getreuen
erneut den Kampf mit dem Erzengel Michael wagen und diesmal siegreich bestehen
würde, erhielt diese metaphysische Angst um das Seelenheil der Streiter Gottes
eine vermeintliche Bestätigung (ein Bild übrigens, das - zur Verwirrung der
Historiker - gleichfalls losgelöst von seinen Erfindern auf ganz andere
Ketzergruppen übertragen werden konnte[29]).
Erst vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Bewußtseins vom kosmischen Ringen
zwischen Gott und dem Satan, in das der einzelne Mensch auf der einen oder auf
der anderen Seite im Hier und Jetzt verstrickt ist und dessen Ausgang über das
individuelle Heil eines jeden entscheidet, erhält das mittelalterliche Bild vom
Ketzer und die Erbarmungslosigkeit, mit der er bekämpft wurde, geschichtlich
Relief.
II.
Vom geschichtlichen Ort des Ketzers im Weltbild des
Mittelalters zum Bezugsrahmen, den das historische Verständnis für
mittelalterliche Häresien erschließen kann! Ketzerei begegnet unter Theologen,
bei denen gelehrte Beschäftigung mit Glaubenswahrheiten gewissermaßen das
natürliche Berufsrisiko darstellte ('hérésie savante' ist der dafür geprägte
Terminus); und Ketzerei ist ebenso bei der komplementären Erscheinung zur
Häresie der Intellektuellen anzutreffen: bei den religiösen Bewegungen
breiterer Schichten ('hérésie populaire' genannt).[30]
Häresie war Sache der hohen Politik und der kleinen Leute, war Massenbewegung
und auch auf bloß esoterische Zirkel beschränkt, war Gegenstand ökumenischer
Konzilien und lokal begrenzter Lynchjustiz, beschäftigte die Phantasie von
Dichtern wie von Notaren, von Predigern wie von Rechtsgelehrten. Kurz: es gab
wohl nicht sehr viele Felder mittelalterlicher Lebenswirklichkeit, die nicht in
irgendeiner Form vom Phänomen Häresie berührt worden wären. Von ihnen allen
will ich hier nur zwei etwas näher betrachten: den Bereich von Kirchenreform
und Kirchen(178)kritik sowie das
weite soziale Bezugsfeld der Häresie
beides freilich jeweils bereits kleine Welten, die einen relativ
umfassenden Einblick in das häreseologische Spektrum erlauben.
Zunächst also zum Umfeld von Kirchenreform und Kirchenkritik,
in dem Häresien während des gesamten Mittelalters begegnen, vom ersten Moment
an, wo man überhaupt von dergleichen sprechen kann.[31]
Dieses erste Beispiel ist die vom hl. Bonifatius eingeleitete Reform der
fränkischen Kirche, als in den reichlich erratischen Gestalten eines Aldebert
und eines Clemens auch schon Ketzer begegnen. Man wird ihnen schwerlich
gerecht, wenn man sie als ekstatische Schwärmer bzw. theologische
Eigenbrötler wie es sie immer und
überall gab und gibt aus ihrer eigenen
Zeit gleichsam herauszuschneiden sucht.[32]
Denn wichtiger, als was sie lehrten, ist, daß sie lehrten und Zuhörerschaft
fanden und daß man sie überhaupt entdeckte. Ihr Auftreten ist zunächst einmal
ein Zeichen für eine gewisse religiöse Aufnahmebereitschaft in breiteren
Kreisen, die man bei dem bekannten Zustand der fränkischen Kirche in
vorbonifatianischer Zeit nicht unbedingt erwarten würde; und daß man sie fand,
vor Synoden verhörte und ihren Fall gar in Rom verhandeln ließ, dürfte weniger
zu werten sein als ein Indiz für eine von diesen Leuten ausgehende konkrete
Gefahr, sondern vielmehr als Zeugnis einer geschärften Bereitschaft des
fränkischen Klerus zur Wahrnehmung pastoraler Pflichten, zu denen auch die
Sorge um den rechten Glauben im Sinne der anerkannt gültigen kirchlichen
Tradition gehörte.
Als diese Bereitschaft wieder abnahm, verschwanden auch die
'populären Häresien', und sie tauchten wieder auf, als es erneut um Reform der
Kirche ging: nun nicht mehr bloß im ehemals fränkischen, sondern im gesamten
abendländischen Bereich, und dieses Ringen um Reform sollte bis zum Ausgang des
Mittelalters nicht mehr aufhören. Exakt zum Jahre 1000 wird uns nach dem
Vorspiel der Karolingerzeit der nächste Fall[33]
von mittelalterlicher Häresie berichtet: Schauplatz ist Vertus in der
Champagne, Ketzer ist ein Bauer namens Leutard, der nach evangelischem Vorbild
(wie er es verstand) ein neues Leben führte und propagierte, bibelfest genug,
um mit dem zuständigen Bischof von Châlons-sur-Marne öffentlich eine
Disputation zu führen, bei der er freilich keine sehr gute Figur machte, so daß
ihm sein Anhang davonlief und er sich, an seiner Berufung verzweifelnd, das
Leben nahm; das typische Ende eines Teufelsdieners, wie der Chronist nicht
vergaß zu erwähnen.[34]
In der ersten Hälfte des 11. Jh. begegnen uns in Europa noch vier weitere
leidlich gut bezeugte Fälle von Häresie: in Orléans 1022, in Arras 1025, in
Monteforte bei Turin 1028, in Lothringen um 1050.
Sie alle unterscheiden sich beträchtlich im dogmatischen
Bereich; die soziale Zusammensetzung differiert und zeigt doch zugleich das
Spek(179)trum der gesamten
Bevölkerung: Bauern in Vertus, hoher Klerus in Orléans, städtisches Kaufleute-
und Handwerkermilieu in Arras, hoher Adel in Monteforte, 'kleine Leute'
anscheinend in Lothringen. Ein sektenmäßiger Zusammenhang zwischen den
einzelnen Gruppen ist nicht erkennbar. Schaut man aber auf Raum und Zeit und
auf gewisse Grundzüge ihrer Lehren, so wird der Zusammenhang mit dem
Hauptereignis des 11. Jh. evident: der mit dem Namen Gregors VII. verbundenen
Kirchenreform, die zudem in genau jenem Raum ihren Rückhalt fand, in dem auch
die Ketzer der ersten Hälfte des 11. Jh. begegnen. In der zweiten verschwinden
sie wieder ganz natürlich, weil sie und ihr Kräftepotential von der allgemeinen
Kirchenreform, die man schon beinahe eine Kirchenrevolution nennen könnte,
aufgesogen worden sind. [35]
Als dann der Elan der Reform nicht mehr alle Kräfte der Kirche
beseelte, sich die Amtskirche zum Gewinner aufwarf, die ihre in den Turbulenzen
des sog. Investiturstreits erreichte Machtstellung kontinuierlich weiter
ausbaute, während daneben die Suche nach neuen, wahreren christlichen
Lebensformen abseits der Amtskirche und stets im latenten oder offenen Konflikt
mit ihr und ihren Vertretern weiterging, da begegnen seit dem Anfang des 12.
Jh. erneut Ketzer: Erst vereinzelt, wieder in der Utrechter Diözese wirkende
Tanchelm, der quer durch Frankreich ziehende Mönch Heinrich von Lausanne, der
Priester Petrus von Bruis, den eine aufgebrachte Menge in St Gilles in der
Provence verbrannte, der bretonische Adlige Eon von Stella oder der
Regularkanoniker Arnold von Brescia, dessen Asche Friedrich Barbarossa in den
Tiber streuen ließ. Sie unterscheiden sich in ihrem Auftreten als
Wanderprediger, zumeist mit theologischer Bildung und klerikaler Herkunft, wie
nach Art der Zusammensetzung ihrer Anhängerschaft kaum oder gar nicht von
gleichzeitigen Wanderpredigern wie Robert von Arbrissel, Bernhard von Thiron,
Girald von Salles und Vitalis von Savigny, oder auch Norbert von Xanten, deren
Rechtgläubigkeit entweder nicht in Zweifel gezogen wurde oder die sie
verteidigen konnten und die als Kloster-, ja sogar Ordensgründer in die
Geschichte eingingen und als Heilige verehrt wurden: Robert von Arbrissel etwa
als Stifter der insbesondere bei Damen des Hochadels beliebten Abtei
Fontevrault, Norbert von Xanten als Begründer des Prämonstratenserordens.[36]
Es ist keine Frage, daß die Ketzer wie die Heiligen unter den Wanderpredigern
ein und demselben sozialen wie frömmigkeitsgeschichtlichen Umfeld zuzuordnen
sind und es eher Unterschiede der individuellen theologischen Bildung und des
Auftretens, der persönlichen Beziehungen zu den Machtträgern in Kirche und
Laienschaft waren als prinzipielle Differenzen in Reformziel, methode und publikum,
die die einen zu Tode oder in Klosterhaft und die anderen zur Ehre der Altäre
brachte. Ver(180)stehen wird man
jedenfalls die einen wie die anderen nur, wenn man sie als verschiedene
Ausprägungen gleichartiger historischer Grundbedingungen betrachtet.
Ein wenig anders liegt der Fall bei den seit der Mitte des 12.
Jh. auftretenden Katharern und den seit den 1170er Jahren begegnenden
Waldensern. Beide - namentlich die Katharer - entwickelten sich sehr rasch zu
Großsekten, die der Kirche zumindest in bestimmten Regionen wie Südfrankreich
und Oberitalien ernsthaft Konkurrenz zu machen verstanden. Sie haben für ein
volles Jahrhundert das mit der Amtskirche nicht konforme Potential religiöser
Bewegung zu binden vermocht, bis die einen
die Katharer durch Inquisition,
Ketzerkreuzzug (Albigenserkriege 1209-1229) und überlegene Theologie in die
Bedeutungslosigkeit abgedrängt wurden und schließlich ganz aus der Geschichte
verschwanden, die anderen - die Waldenser - zwar in Frankreich, Italien und
Deutschland trotz aller Verfolgung sich bis über das Ende des Mittelalters
hinaus halten konnten (in Piemont z. B. sogar bis in die Gegenwart), aber über
die Kryptoexistenz einer vom Strome der Zeit abgeschnittenen Sekte seit dem 14.
Jh. nie mehr hinauskamen - falls sie sie nicht mit den aus ganz anderen
Voraussetzungen erwachsenen religiösen Bewegungen des Hussitismus im 15. und
des Protestantismus im 16. Jh. verbanden. Daß Katharer und Waldenser in ihrer
Blütezeit das Phänomen der Häresie als einer Erscheinung von zuvor eher
marginaler Bedeutung zu einem beachtlichen religions-, kirchen-, ja
machtpolitischen Faktor werden ließen, hat wesentlich damit zu tun, daß ihnen
in der zweiten Hälfte des 12. Jh. das Feld religiöser Reformen weitgehend
überlassen worden ist. Stand nämlich in der ersten Hälfte des 12. Jh. mit den
rechtgläubig bleibenden Wanderpredigern, vor allem aber den Ordensstiftungen
der Zisterzienser und Prämonstratenser sowie der Regularkanoniker für religiöse
Kräfte ein hinreichend großes kirchentreues Angebot zur Auswahl, so kann man
Vergleichbares in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht mehr erkennen, als jene
Reformorden zunehmend konsolidiert, saturiert und im Vergleich zum Impetus
ihrer Anfänge degeneriert waren, die Sehnsucht breiter Schichten der Bevölkerung
nach wahrer evangelischer Lebensweise aber unverändert (wenn nicht sogar in
gesteigerter Form) fortbestand. Katharer und Waldenser füllten daher eine
Lücke, deckten einen Bedarf, den kirchentreue Bewegungen in dieser Zeit nicht
zu befriedigen vermochten. Es war also im Prinzip gleichgültig, ob Ketzer aus
einer Konkurrenzsituation heraus im Christenvolke Anhang fanden, oder weil sie
allein das Feld religiöser Erneuerung beherrschten. Für ihren Erfolg oder
Mißerfolg, ja für ihre eigene Existenz war zunächst einmal entscheidend, ob
überhaupt nennenswerte religiöse Kräfte vorhanden waren, die nach Ausdruck
suchten. (181) War das der Fall, so
war die Grundvoraussetzung für die Existenz von Ketzern gegeben, deren Erfolg
sich dann danach bemaß, wie attraktiv die rechtgläubige Konkurrenz war und wie
gefährlich für Leib und Leben eine häretische Existenz.
Primär von hier aus erklärt sich auch der Abstieg der Katharer
und Waldenser seit dem beginnenden 13. Jh., denn mit den Bettelorden bekamen
sie wieder kirchentreue Rivalen um die Gunst des Publikums. Insbesondere die
Franziskaner haben ihnen das Wasser abgegraben, die genau wie sie eine
Lebensform anstrebten, in der das religiöse Grundanliegen der Zeit nach
Ausrichtung des Lebens am Beispiel Christi, der Apostel und der Urkirche
Gestalt zu werden schien. Gerade aber weil es die Franziskaner so ernst meinten
mit ihrem beständigen Ringen um die wahre evangelische Lebensform, verwundert
es nicht, wenn sich innerhalb des Franziskanerordens und in dessen Umfeld der
Prozeß wiederholte, der sich innerhalb der gesamten religiösen Bewegung des
12./13. Jh. vollzogen hatte: daß sich im Spannungsfeld zwischen
religiös-reformerischem Ideal und praktizierter Wirklichkeit, oder ganz einfach
weil neue Strömungen wie die von Joachim von Fiore ausgehenden eschatologischen
Erwartungen en vogue kamen, Gruppen abspalteten oder den Orden sprengten; im
14. Jh. waren das die Observanten hier und Konventualen dort, und lange vorher
schon die Spiritualen, Fraticellen und Apostoliker (wie man in der
deutschsprachigen gelehrten Literatur die Anhänger des Fra Dolcino zu nennen
pflegt). Wichtig für das Verständnis ist, daß all diese genuin häretischen oder
als häretisch gebrandmarkten Gruppen und Strömungen nicht zu denken sind ohne
eine stete Wechselbeziehung zu religiösen Grundanliegen der Zeit, der sie ihre
Entstehung verdankten, in der sie verankert waren und deren Ausdruck sie
gewesen sind.
All diese und die mancherlei anderen Ketzergruppen, die ich
hier übergehe, sind natürlich auch noch ganz anderen Bezugsfeldern als dem
religiös-reformerischen zuzuordnen. Von ihnen allen soll - wie angekündigt -nur
noch das freilich wichtigste, jedenfalls am meisten umstrittene zur Sprache
kommen: das soziale Umfeld, in dem Ketzer wirkten, aus dem heraus sie stammten,
das sie mitformten.
Den Beitrag der Ketzer zur Gestaltung der mittelalterlichen
Gesellschaft wird man außerordentlich niedrig ansetzen müssen, fragt man
einmal, was sie konkret verändert, was sie Neues geschaffen haben. Sieht man
von den Arbeitergenossenschaften der oberitalienischen Humiliaten und Waldenser
ab[37]
sowie den Böhmischen Brüdern, ja generell der böhmischen Kirche der
nachhussitischen Zeit[38],
so kann man nicht erkennen, daß Ketzer besondere Sozialformen entwickelt oder
der Gesellschaft ihren besonderen Stempel aufgedrückt hätten; nicht (182) einmal die Hussiten kann man ohne
weiteres als Ausnahme gelten lassen, da hier der Ketzerbegriff höchst
problematisch ist[39].
Muß die Antwort auf die Frage nach dem eigenständigen Beitrag
der Ketzerei zur Formung der mittelalterlichen Gesellschaft überwiegend negativ
ausfallen, so konnte sich doch weder Ketzerei abseits der Gesellschaft
entwickeln noch die Gesellschaft ohne Ketzerei. Das wird sofort klar, wenn man
nach dem sozialen Milieu fragt, aus dem Ketzer kamen und in dem sie wirkten. In
der Zeit des hl. Bonifatius war das sichtlich das platte Land, im 11. Jh. sind
es immer noch das Dorf (Vertus war damals ein bloßer Fronhof), daneben aber
schon die Adelsburg (Monteforte), vor allem aber die Stadt: die Stadt als
kulturelles Zentrum klerikaler Gelehrsamkeit wie in Orléans, oder auch als
Handels und Gewerbezentrum wie in Arras, und ganz einfach als Ort, wo Menschen
zahlreich zusammenkamen wie in Mailand, wo man die Ketzer von Monteforte
deshalb verbrannte, weil sie Massenanhang für ihre Lehren zu gewinnen begannen.
Vom 12. Jh. an ist das Bild dann eindeutig: Häresie und Stadt werden zur
untrennbaren Einheit. Nicht daß es danach nicht auch noch auf dem Lande Ketzer
gegeben hätte - das Waldensertum Deutschlands hatte sogar vor allem dort seinen
Rückhalt -, aber neue religiöse Formen (ketzerische wie rechtgläubige) werden
in der Stadt entwickelt, städtische Probleme liefern die Stichworte für die
religiösen Themen. Waldes ist ein Musterbeispiel dafür: Erfolgreicher Kaufmann
war er in Lyon, als ihm Bedenken kamen, wie er seinen Lebens und Erwerbsstil
mit dem Wunsch nach dem Heil seiner Seele vereinbaren könnte. Er gab seinen
Besitz auf, praktizierte 'apostolische' Armut und redete davon; das brachte ihm
Zulauf, da er aber als Laie predigte, verhedderte er sich im Gestrüpp der
kirchlichen Sanktionen, die aus dem kirchlichen Verbot der Laienpredigt
resultierten, und geriet so aus Mangel an Gehorsam samt seinem Anhang ins
häretische Abseits. Franz von Assisi, dessen sozialer Ausgangspunkt und
religiöser Antrieb ganz die gleichen waren wie bei Waldes, vermochte Konflikte
mit der Kirchenobrigkeit zu vermeiden, bei der er für seine religiösen
Bedürfnisse auch schon ein offeneres Ohr fand als sein unglücklicher Vorläufer.
Aber daß Franziskaner wie anfangs auch die Waldenser (und im übrigen auch die
Katharer und all die anderen häretischen Gruppen und Grüppchen) vornehmlich im
städtischen Milieu wirkten, zeigt hinlänglich deutlich, in welchem sozialen
Bereich häretische wie rechtgläubige religiöse Bewegungen seit dem 12. Jh. zu
Hause waren. Wer die europäische Stadtgeschichte kennt, ihre stürmische
Entwicklung exakt in jenem Zeitraum, wo Häresien gleichsam stadtfest werden,
wird dieses Wechselverhältnis selbstverständlich finden.
Die Frage ist nur - und man muß sie mit Eco stellen -, ob und
inwieweit (183) in der Stadt genuin
religiöse Probleme Ausdruck in häretischen oder rechtgläubigen Bewegungen
fanden (so Grundmann), oder ob auf religiöser Ebene nur artikuliert wurde, was
in ganz anderen Bereichen an Spannungen aufbrach und vorhanden war. Bei näherem
Zusehen merkt man sehr rasch, daß pauschale Antworten in die Irre führen: Man
findet Beispiele wie die mailändische Pataria der Kirchenreform des 11. Jh., wo
genuin religiöse Anliegen weiter Bevölkerungskreise zugleich
Transmissionsriemen innerstädtischer Auseinandersetzungen waren.[40]
Die Anfänge des Waldensertums aber wird man gerade umgekehrt beurteilen müssen:
daß Züge des stadttypischen Erwerbslebens zu religiösen Konflikten führten, und
zwar nicht dadurch, daß irgendwelche Bevölkerungsschichten wirtschaftlich und
sozial unter die Räder kamen, sondern es war der wirtschaftliche und soziale
Erfolg, der zu religiös empfundener Pein wurde.
Noch häufiger
beobachtet man ein unverbundenes Nebeneinander von sozialer oder
wirtschaftlicher Position und religiösem Dissidententum, wie etwa bei den
schlesischen Waldensern in Schweidnitz 1315, die sichtlich den gehobenen
Gesellschaftsschichten der Stadt angehörten, sich darin in nichts von ihren
rechtgläubigen Mitbürgern im gleichen Range unterschieden, und die doch
Waldenser waren[41]. In
dieselbe Richtung weisen die Untersuchungen von Emmanuel Le Roy Ladurie anhand
der Inquisitionsprotokolle der Jahre 1318-1325 für die im Pyrenäendorfe
Montaillou entdeckten Katharer,[42]
wie man generell feststellen darf, daß die Problemfelder Armut/Reichtum,
Herrschaft/Knechtschaft für die Katharer keine Rolle spielten: Die katharischen
perfecti waren zweifellos arm, lebten und bewegten sich nach Apostelvorbild;
aber die Anhängerschaft, die sie trug, unterschied sich sozial in nichts vom
rechtgläubigen Kirchenvolk.[43]
Die Vorstellung, daß erst und nur der sozial Entrechtete zum
Ketzer wurde, wird schließlich bei einer religiösen Bewegung wie dem Beginentum
des 13. und 14. Jh. vollends fragwürdig.[44]
Die Beginen rekrutierten sich vornehmlich in der Frühzeit der Bewegung aus den
Ober- und Mittelschichten der städtischen Gesellschaft. Die Vorstellung, daß
Frauen aus diesen Schichten das Leben einer soror in saeculo führten - d. h.
einer Frau, die abgeschieden von den Freuden dieser Welt und doch inmitten
dieser Welt im Dienst am Nächsten ihren Lebensinhalt fand -, weil sie zuvor
verarmt waren, wäre nach ihrer sozialen Position und religiösen Motivation
geradezu abwegig. Das anzunehmen wäre auch verfehlt im Hinblick auf die Art
ihres Ketzertums: Denn entweder wurden sie der Häresie verdächtigt, weil in
ihren Zirkeln mystisches Gedankengut verbreitet wurde, das man als freigeistig-libertinistisch
verteufelte; oder - noch häufiger - weil ihr Semireligiosenstatus, in der (184) Mitte zwischen Laientum und
Regelgebundenheit eines Ordens angesiedelt, Probleme der Kirchendisziplin
aufwarf, die eine auf neue religiöse Formen zunehmend unflexibler reagierende
Kirchenobrigkeit nur noch glaubte mit Exkommunikation und Häretisierung lösen
zu können. Aber die verfolgten Beginen fanden immer wieder den Beistand ihrer
geistlichen Protektoren (namentlich der Franziskaner), und die Kurie selbst
schwankte in ihren Maßnahmen.[45]
In summa: Nichts läge ferner von der historischen Wirklichkeit, als das von Eco
so suggestiv formulierte Modell der sozialen Aussätzigkeit als Ursache der
Häresie auf die Beginen des späten Mittelalters anzuwenden.
Damit sei nicht geleugnet, daß religiöse Bewegung
sozialrevolutionäre Züge tragen konnte. Das liegt zum einen daran, daß man seit
Kaiser Friedrichs II. Zeiten im Instrumentarium der Ketzerverfolgung ein
überaus wirksames Mittel fand, politischer Gegner Herr zu werden; man mußte als
Sozialrebell nicht das geringste mit Ketzerei zu tun haben, um sich doch vor
dem Inquisitionsrichter wiederzufinden. Dies um so mehr, als die
mittelalterliche Kirche nicht nur eine Glaubens, sondern auch eine
Herrschaftsanstalt war, jede Sozialkritik daher von Haus aus Kirchenkritik sein
mußte. Und gegen diese Art Kritik brachte die Kirchenobrigkeit in zunehmend
sorgloserem Maße die Instrumente kirchlicher Disziplinierung zur Anwendung,
beginnend mit der Exkommunikation und endend mit der Übergabe an den
'weltlichen Arm' zwecks Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Diese untrennbare
Verquickung von sozialem Veränderungswillen und Kirchenkritik macht es für den
Historiker nicht nur schwer, sondern sinnlos, die fast stets bei mittelalterlichen
Rebellionen gegebenen kirchenkritischen und deshalb oft zu Ketzereien erklärten
Beimengungen von der sozusagen genuin sozialkritischen Substanz zu trennen und
darüber zu meditieren, was da wohl Ursache und was Wirkung sei. Ob man sich nun
als Beispiele den Bauernaufstand der ostfriesischen Stedinger von 1229-1234 vor
Augen hält[46] die
englische Peasants' Revolt von 1381 oder die hussitische Revolution, und nicht
zuletzt den von Eco so oft zitierten Fra Dolcino und seinen Anhang - ein
Aufstand von Unterdrückten mußte geradezu naturnotwendig im Mittelalter
religiöse, und das heißt eo ipso: häretische Züge annehmen, aber deswegen war
noch lange nicht jede Häresie die Ideologie einer Aufstandsbewegung. Das
scheint nicht einmal für Ecos Kronzeugen, die Anhänger des Fra Dolcino,
zuzutreffen: Raniero Orioli hat bei den in Bologna zwischen 1303 und 1308 von
der Inquisition verhörten Mitgliedern der Sekte feststellen können, daß die
Gedankenwelt, in der diese Leute lebten, dachten, predigten, frei war von
jeglichem umstürzlerischen Element;[47]
das weist darauf hin, daß selbst Fra Dolcinos und seiner Anhänger Aufstand ein
sekun(185)däres Moment, das bloße
Akzidens einer primär oder der Substanz nach religiösen Bewegung war.
Das Verhältnis zwischen religiösem und sozialem Moment bei
Häresien konnte sogar die Form annehmen, daß nicht die wirtschaftlich und
sozial Zukurzgekommenen, sondern daß gerade umgekehrt soziale Aufsteigerschichten
eine besondere Affinität zu Ketzereien entwickelten. Dergleichen ließ sich für
die diversen mit der Inquisition in Berührung gekommenen Ketzer in Böhmen
während der ersten Hälfte des 14. Jh. beobachten,[48]
wo einesteils die zu deutschem Recht in Südböhmen siedelnden Nachkommen der
Kolonisten des 13. Jh. in besonderem Maße dem Waldensertum zuneigten, und wo
andernteils infolge der unspezifischen Suche der Inquisitoren nach
kirchenkritischen Tendenzen jedweder Art Angehörige gerade städtischer
Oberschichten vor das Inquisitionstribunal gerieten. Das diesen Leuten eigene
Selbstbewußtsein verhalf ihnen in ihrem sozialen Umfeld zu führenden
Positionen, brachte sie jedoch hinsichtlich ihrer Überzeugungen von der rechten
christlichen Lebensweise in Konflikt mit der Amtskirche. Nicht die soziale
Entwurzelung ist hier Ursache für Häresie, sondern der gesellschaftliche
Erfolg.
Wenn aber führende soziale Stellung einesteils und Affinität
zu kirchenkritischer, und damit im Endeffekt zu ketzerischer Einstellung
andernteils zwei Seiten derselben Medaille sein können, so bedingen sie in gewissem
Maße auch einander: Das Element der Ketzerei ist immer auch das Element eines
Veränderungswillens; wo dieser Wille in ländlichen oder städtischen
Führungsschichten begegnet, ist Ketzerei Ausweis für einen
Gesellschaftszustand, der sich insgesamt in dynamischer Veränderung befindet
(also nicht etwa nur die Unterschichten beträfe; andernfalls würden
Oberschichten zur Bewahrung des Bestehenden neigen, und das hieße gegenüber
ketzerischen Ansichten zur Repression). Das aber heißt: keine dynamische
Gesellschaft ohne Häresie und keine Häresie, die nicht durch ihre bloße
Existenz auf einen spannungsvollen Gesellschaftszustand zurückverwiese.
Spannung und Dynamik gesellschaftlicher Prozesse waren aber nicht das Privileg
bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, und ebensowenig besaß irgendeine von
ihnen ein Abonnement auf Ketzerei. Häresie und Gesellschaft konnten wohl ein
Bezugsfeld bilden; aber sowenig im Mittelalter jede Gesellschaft Häresien
hervorbrachte, war jede Häresie auf ein und dasselbe gesellschaftliche Milieu fixiert.
Der geschichtliche Ort der mittelalterlichen Häresie liegt für
den modernen Betrachter also an ganz anderer Stelle als für den Menschen jener
Zeit. War damals Ketzerei in klarer Eindeutigkeit im Reiche des (186) Bösen als einem ausgrenzbaren
Teil der Welt verankert und bestimmte sich von dieser Zuordnung her auch der
Erwartungshorizont gegenüber den Ketzern, so ist aus heutiger Sicht der Ketzer
eine Erscheinungsform der gesamten mittelalterlichen Welt, nicht nur eines
Teils von ihr. Ketzerei ist in dieser Sicht geschichtlich nichts als ein
besonderer (oft nicht einmal extremer) Ausdruck breit angelegter Prozesse und
Zustände. Häresien sind, sofern sie nicht selbst etwas auslösten (und das war
selten), vor allem Indikatoren, 'Zeichen', würde Eco sagen, deren Bezugspunkt
im Geflecht geschichtlicher Ordnungen aufzudecken die mit jeder einmal
gefundenen Einsicht stets von neuem gestellte Aufgabe des Historikers ist. Er
sollte sich dabei freilich bewußt sein, daß der Schein, in dem der Mensch des
Mittelalters den Ketzer erblickte, nur anders, aber nicht weniger Schein ist in
der modernen geschichtswissenschaftlichen Betrachtung. Gegen Ende seines Buches
läßt Eco seinen Helden, dessen kriminalistischer Spürsinn jedem Historiker zur
Ehre gereichen würde, sagen: "Mi sono comportato da ostinato, inseguendo
una parvenza di ordine, quando dovevo sapere bene ehe non vi é un ordine
nell'universo". Indessen wird ihm der Trost zuteil: "Ma immaginando
degli ordini errati avete pur trovato qualcosa...“[49].
[1] Der Dialog findet sich in der italienischen Ausgabe von 1980 auf S. 63-67, in der von Burkhart Kroeber besorgten deutschen Fassung von 1982 auf S. 77-82; diesen beiden Ausgaben liegen die folgenden Zitate zugrunde. - Entsprechend
dem Charakter dieses Beitrags sind Nachweise auf ein Minimum beschränkt.
[2] S. 79; it. Ausg. S. 65.
[3] S . 189-196, dazu S. 249-258; it . Ausg. S. 153-158, 199-206.
[4] S. 194; it. Ausg. S. 157: “...non siano altro che due delle facce, innumerevoli, della stessa manifestazione demoniaca.“
[5] S. 192, 195; it. Ausg. S. 155: „...mettono a repentaglio l’ordine stesso del mondo civile.“ S. 158: „...mettono a repentaglio l’ordine su cui si regge il popolo di Dio."
[6] Grundmann (wie unten Anm. 16) S. 320. Die Zuspitzung auf die Bekämpfung der Kirche findet sich im sog. Passauer Anonymus, ed. Jakob Gretser, Raineri ordinis Praedicatorum liber contra Waldenses haereticos, in: ders., Lucae Tudensis episcopi scriptores aliquot succedanei contra sectam Waldensium (Ingolstadt 1613) S. 54.
[7] S. 192; it. Ausg. S. 155: „...non confondete cose diverse!"
[8] S. 249f.; it. Ausg. S. 200.
[9] S. 254; it. Ausg. S. 203: „...mostra gli eretici un solo intrico di diaboliche contraddizioni che offendono il senso comune."
[10] S. 258; it. Ausg. S. 206: "Ciascuno è eretico, ciascuno è ortodosso, non conta la fede che un movimento offre, conta la speranza che propone. Tutte le eresie sono bandiera di una realtà dell'esclusione. Gratta l'eresia, troverai il lebbroso.“
[11]Unter die ‘Außenseiter und Exoten’ hat Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter (1973) S.588ff. die Ketzer eingereiht, als ersten 'Sonderling' den Bauern Leutard aus Vertus in der Champagne, von dem unten noch die Rede sein wird. - Daß das Minderheiten-Etikett dem Ketzerphänomen kaum gerecht wird, zeigte Dietrich Kurze, Häresie und Minderheit im Mittelalter, HZ 229 (1979) S.529-573.
[12] ad X 5.7.3 s. v. 'Omnem haereticum', ed. Venedig 1581 Buch 5 fol. 34vb-35 ra. Zum ganzen Zusammenhang Othmar Hageneder, Der Häresiebegriff bei den Juristen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: The Concept of Heresy in the Middle Ages (llth-13th C.), hrsg. von W. Lourdaux und D. Verhelst (1976) S. 42-103, hier bes. S. 45 ff .
[13] Reg. Greg. II, 55 a, ed. Erich Caspar, Das Register Gregors VII., MGH Epp. sel. 2 (1920) S. 207 Lehrsatz 26: "Ouod catholicus non habeatur, qui non concordat Romanae ecclesiae." Dazu Horst Fuhrmann, "Quod catholicus non habeatur, qui non concordat Romanae ecclesiae". Randnotizen zum Dictatus Papae, in: Festschrift H. Beumann (1977) S. 263-287.
[14] Hageneder S. 54. "Glaube wird Gehorsam", formulierte Yves Congar, Der Platz des Papsttums in der Kirchenfrömmigkeit der Reformer des 11. Jahrhunderts, in: Sentire Ecclesiam. Festschrift H. Rahner (1961) S. 196-217, hier S.202.
[15] Summa aurea zu X 5. 7, § 8: (Qua pena feriatur (sc. haereticus), ed. Lyon 1537 fol. 238va: „... quia de varietate conveniunt in idipsum, id est ad eundem finem, scilicet infernalem."
[16] Für das Folgende finden sich die Nachweise im einzelnen bei Herbert Grundmann, Der Typus des Ketzers in mittelalterlicher Anschauung (1926); Nachdruck in: ders., Ausgewählte Aufsätze 1 (MGH Schriften 25, 1, 1976) S. 313-327; R. I. Moore, Heresy as Disease, in: The Concept of Heresy (wie Anm. 12) S. 1-11; A. Patschovsky, Die Anfänge einer ständigen Inquisition in Böhmen (1975), Wortregister.
[17] Das Bild stammt aus Cant.2,15: "Capite nobis vulpes parvulas, quae de moliuntur vineas." Dazu Grundmann S.321. Lothar Kolmer, Ad capiendas vulpes (1982), hat das Bild zu Recht in den Titel seiner Arbeit über die Anfänge der Inquisition in Südfrankreich genommen.
[18] Zuletzt hierzu Kurt Victor Selge, Die Ketzerpolitik Friedrichs II., in: Probleme um Friedrich II. (Vorträge und Forschungen 16, 1974) S. 309-343, bes. S. 321 ff.
[19] Grundmann S . 318.
[20] Vgl. den Passauer Anonymus, ed. Gretser (wie Anm. 6) S. 86, der sich für die Bestrafung häretischer Kleriker auf den Canon ‘Ad falsarios' im Titel 'De crimine falsi' der Dekretalen Gregors IX. berief (X 5.20.7). Die hier einschlägige Textpassage auch bei Patschovsky, Der Passauer Anonymus (MGH Schriften 22, 1968) S. 35. - Im gleichen Sinne Thomas von Aquin, Summa theologiae II, 2q.11art.3.
[21] "Antichristi sunt omnes haeretici"; vgl. den Text bei Migne, PL 114, 697. Der Passauer Anonymus beginnt den Ketzerteil seines Sammelwerkes geradezu programmatisch mit dem Johannes-Wort samt Glosse; ed. Gretser (wie Anm. 6) S. 47. - Der deutsche Wortlaut der Bibelzitate hier und im folgenden nach der von der Katholischen Bibelanstalt besorgten ökumenischen >Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Das Neue Testament< (1979).
[22] Die Nachweise für das Folgende bei Grundmann S. 324 ff .; dazu Dietrich Kurze, Zur Ketzergeschichte der Mark Brandenburg und Pommerns vornehmlich im 14. Jahrhundert, Jb. für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 16/17 (1968) S. 50-94, hier bes. S. 52ff.; Patschovsky, Waldenserverfolgung in Schweidnitz 1315, DA 36 (1980) S. 137-176, bes. S. 147 ff., sowie ders., Zur Ketzerverfolgung Konrads von Marburg, DA 37 (1981) S. 641-693, bes. S. 653 ff.
[23] So der Bericht des Mönches Paul von St-Père-en-Val1ée in Chartres über die 1022 entdeckten Ketzer von Orléans, Vetus Agano VI, 3, ed. M. Guérard, Cartulaire de l'abbaye de Saint-Père de Chartres (1840) S. 112.
[24] Vgl. Grundmann S. 322f.; dazu Patschovsky, DA 36, S.172 Anm.166 (Keller). Konventikelbildung mit geheimen Lehren rügt Albert d. Gr. in seinem Gutachten über die Häresie im Schwäbischen Ries als 'contra modum evangelicum'; ed. J. de Guibert, Documenta ecclesiastica Christianae perfectionis studium spectantia (1931) S.116. Von der 'doctrina anguli' spricht Berthold von Regensburg; vgl. A. E. Schönbach, Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt, 3. Stück: Das Wirken Bertholds von Regensburg gegen die Ketzer (SB Wien, phil.-hist. Kl. 147, 1904) S.22 Z. 19f.; ebd. S.45 Z. 20ff .: "ipsi heretici econtra in tenebris et angulis et textrinis, in domibus leprosorum, in latebris et in cavernis sub terra, ut vermes et talpe. "
[25] Vgl. Robert E. Lerner, Vagabonds and Little Women: The Medieval Netherlandish Dramatic Fragment 'De Truwanten', Modern Philology 65 (1968) S.301-306.
[26] Vgl. Pseudo-David von Augsburg, De inquisitione haereticorum c.15/16 und 24, ed. W. Preger, Der Tractat des David von Augsburg über die Waldesier, Abh . München, hist Cl. 14, 2. Abt. (1878) S. 213 und 218.
[27]Nachweise bei Patschovsky, DA 36, S.149ff.
[28] Bei den Katharern z.B. dürfte es genügt haben, bestimmte Lehrpunkte wie das dualistische Weltkonzept, den Mythos vom Engelsturz und die Vorstellung von der Menschenseele als einem der mit Lucifer vom Himmel gestürzten Engel etwas verzerrt auszulegen, um das gewünschte Ergebnis katharischen Teufelskultes zu erhalten.
[29] Dieser Mythos wird den Waldensern in Schweidnitz 1315 nachgesagt und den im selben Jahre verhörten, wohl ebenfalls waldensischen Ketzern in Österreich, über die der sog. Kremser Inquisitionsbericht unterrichtet, ed. Margaret Nickson, Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 42 (1967) S.305.
[30] Vgl. Herbert Grundmann, Hérésies savantes et hérésies populaires au moyen âge (1968); Nachdruck (wie Anm.16) S. 417 ff .
[31] Im folgenden verzichte ich bei Erwähnung allbekannter Dinge auf jegliche Belege und verweise statt dessen auf Überblickswerke wie Herbert Grundmann, Ketzergeschichte des Mittelalters, in: Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, hrsg. von B. Moeller, Bd. 2, Lief. G (l. Teil) (31978), oder Malcolm Lambert, Medieval Heresy (1977; deutsch 1981). - Grundlegend für den ganzen Zusammenhang Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen (1935; 21961).
[32] So Theodor Schieffer, Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas (1954 ; 21972) S. 221.
[33] Ich übergehe hier den Fall der pseudoprophetissa Thiota, die ein unter Leitung des Hrabanus Maurus tagendes Mainzer Konzil 847 zur Prügelstrafe verurteilte, weil sie sich das Predigtamt angemaßt und aus gewinnsüchtigen Motiven das nah bevorstehende Ende der Zeiten verkündet habe; ein Fall von Häresie ist das eigentlich nicht, wurde von den Zeitgenossen auch nicht so betrachtet. Quelle: Annales Fuldenses zum Jahre 847, ed. F. Kurze, MGH SS rer. Germ. (1891) S. 36 f., die einschlägige Passage neu hrsg. von W. Hartmann, MGH Concilia 3 (1984) S. 151. Zur Sache Lambert (wie Anm. 31) S. 9.
[34] Rodulfus Glaber, Historiae II 11, ed. Maurice Prou (Collection de textes, 1886) S. 49 f .
[35] Diese Deutung begründete Arno Borst, Die Katharer (Schriften der MGH 12, 1953) S. 80f.
[36] Zu den (rechtgläubigen) Wanderpredigern immer noch grundlegend Johannes von Walter, Die ersten Wanderprediger Frankreichs, 2 Teile (1903 und 1906). Dazu J. J. van Moolenbroek, Vitalis van Savigny (+ 1122) (1982); Jacques Dalarun, L’impossible sainteté: la vie retrouvée de Robert d’Arbrissel (v. 1045-1116), fondateur de Fontevraud (1985).
[37] Martin Schneider, Europäisches Waldensertum im 13. und 14. Jahrhundert. Gemeinschaftsform - Frömmigkeit - Sozialer Hintergrund (1981), bes. S. 61f., 71. Eine grundlegende moderne Studie zu den Humiliaten fehlt; vgl. vorderhand K.-V. Selges Humiliaten-Artikel in der Theologischen Realenzyklopädie 15 (21986) S.691-696, dazu Lester K. Little, Religious Poverty and the Profit Economy in Medieval Europe (1978) S. 113ff.
[38] Über das Bleibende der hussitischen Revolution vgl. FrantiÓek Òmahel, La révolution hussite, une anomalie historique (1985).
[39] Man wird dem Geschehen in Böhmen viel eher gerecht, wenn man absieht von der durch die Gesamtkirche vorgenommene Etikettierung des hussitischen Böhmen als häretisch und vielmehr den Hussitismus als erstes Beispiel einer Sprengung der kirchlichen Einheit wertet: durch Kräfte, die aus der Kirche selbst kamen, die diese Kirche umformten, und die den Anfang vom Ende des seit dem 11. Jh. bestehenden amtskirchlichen Systems der abendländischen Christenheit einläuteten. Diese Dimension des Geschehens kann man mit den Kategorien Ketzerei/rechtgläubige Kirche nicht mehr zureichend erfassen.
[40] Dieser Zusammenhang ist trotz zahlreicher Versuche bislang von der Forschung noch nicht befriedigend herausgearbeitet worden. Vgl. indessen Hagen Keller, Der Übergang zur Kommune. Zur Entwicklung der italienischen Stadtverfassung im 11. Jahrhundert, in: Beiträge zum hochmittelalterlichen Städtewesen, hrsg. von B. Diestelkamp (1982) S. 55-72.
[41] Patschovsky, DA 36, 158ff .
[42] E. Le Roy Ladurie, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324 (1975; modifizierte deutsche Fassung 1980).
[43] Vgl. Arno Borst (wie Anm. 35) S. 226ff .
[44] Es gibt keine moderne zusammenfassende Studie über das mitteleuropäischc Beginentum. Den besten Zugang gewährt derzeit der von K. Elm, R. Sprandel und R. Manselli gestaltete Beginenartikel im Lexikon des Mittelalters 1 (1980) Sp. 1799-1803.
[45] Vgl. etwa A. Patschovsky, Straßburger Beginenverfolgungen im 14. Jahrhundert, DA 30 (1974) S. 56-198. Das Hin und Her kurialer Maßnahmen gegenüber den Beginen läßt sich besonders gut am Verhalten Bonifaz' IX. beobachten; vgl. die einschlägigen Dokumente bei Paul Fredericq, Corpus documentorum inquisitionis haereticae pravitatis Neerlandicae 1 (1889) S. 253ff. Nr. 238 bis 241.
[46] Dazu Rolf Köhn, Die Verketzerung der Stedinger durch die Bremer Fastensynode, Bremisches Jahrbuch 57 (1979) S. 15-85.
[47] Raniero Orioli, L’eresia a Bologna fra XIII e XlV secolo, II: L’eresia dolciniana (Studi storici 93-96, 1975), bes. S. 139.
[48] A. Patschovsky, Quellen zur böhmischen Inquisition im 14. Jahrhundert (MGH Quellen zur Geistesgeschichte des MA 11, 1979), bes. S. 55ff.
[49] S. 495; deutsche Ausg. S. 625: "'Ich bin wie ein Besessener hinter einem Anschein von Ordnung hergelaufen, während ich doch hätte wissen müssen, daß es in der Welt keine Ordnung gibt.' ... 'Aber indem Ihr Euch falsche Ordnungen vorgestellt habt, habt Ihr schließlich etwas gefunden...’“.