XIV. Die Wirsberger: Zeugen joachitischer Geisteswelt in Deutschland während des 15. Jahrhunderts ?

 

"Der späteste Versuch einer Sektenbildung auf joachimitischer Grundlage in Deutschland" - so hat der bedeutende protestantische Kirchengeschichtsschreiber Herman Haupt in einer der ersten wissenschaftlichen Betrachtungen zum Joachimismus überhaupt und zu unserem Thema im besonderen die um das Jahr 1466 ins Licht der Geschichte tretende sog. Wirsberger-Sekte historisch eingeordnet[1]. Sie war erstmals durch den Egerer Stadtarchivar Heinrich Gradl einer gelehrten Öffentlichkeit bekanntgemacht worden, der in dem von ihm betreuten Archiv eine Reihe von Schriftstücken fand und im Auszug mitteilte, die uns von dieser Sekte Kunde gibt[2]. Haupt hat dieses Material vermehrt und auf weitere Nachrichten hingewiesen[3]. Ein halbes Jahrhundert später dann hat Otto Schiff unter Hinzuziehung weiteren, zum Teil erst durch ihn entdeckten Materials eine erste Gesamtdarstellung geboten[4]. Sie ist noch heute grundlegend, obwohl inzwischen Ruth Kestenberg-Gladstein die Quellenbasis erneut hat erweitern können, als ihr der Nachweis gelang, daß für eine wohl 1465 verfaßte Quaestio quodlibetalis des am Erfurter Generalstudium wirkenden Augustiner-Eremiten-Theologen Johannes von Dorsten das Wirken der Wirsberger als historischen Hintergrund bildete[5].

Dies ist der heutige Stand der Forschung. Er ist in vieler Hinsicht unbefriedigend. Zunächst und am wichtigsten: Die Quellen stehen der Forschung in einer nur als erbarmungswürdig zu bezeichnenden Form zu Gebote. Denn Gradl hat sein Material, bestehend aus original oder kopial überlieferter Korrespondenz der wichtigsten am Geschehen beteiligten Personen - Quellen allererster Ordnung also! - nur in völlig unzureichenden Auszügen, zum Teil sogar nur in Form bloßer Inhaltsangaben mitgeteilt. Anderes liegt zwar im Vollabdruck vor[6] oder doch wenigstens - wie im Falle der Quaestio Dorstens - in umfangreicheren Auszügen; aber der Vergleich mit der handschriftlichen Überlieferung läßt sämtliche editorischen Versuche doch - milde ausgedrückt - als recht unvollkommen beurteilen. Wieder Anderes - wie das von Schiff beigebrachte Material - wurde noch gar nicht publiziert. Und schließ(226)lich läßt sich dem Bekannten noch manches bisher Unbeachtete hinzufügen[7]. Eine kritische Aufarbeitung und komplette Präsentation des einschlägigen Materials ist folglich unabdingbar, will man über die Wirsberger Abschließendes und der gelehrten Welt Nachvollziehbares kundtun. Die folgenden Ausführungen sind als Prolegomena eines solchen Projekts zu verstehen.

Nicht ganz so katastrophal wie die editorische Situation sind zum Glück die Produkte des gelehrten Scharfsinns einzustufen, die diesem Gegenstand gewidmet worden sind: Die Quellennachrichten wurden zumeist richtig referiert und das darüber Gesagte muß nur verhältnismäßig selten korrigiert werden. Wenig befriedigend verliefen jedoch die Versuche, über ein bloßes Referat der Quellennachrichten hinaus eine kritische Analyse des Quellenmaterials nach dessen Aussagewert bezüglich der Fakten und dessen Aussageform bezüglich der darin sichtbar werdenden Denkhorizonte hin vorzunehmen, ja ganz schlicht das Einzelphänomen `Wirsberger' in etwas weitere historische Zusammenhänge einzubetten. Ich hoffe zeigen zu können, daß erst bei einer solchen Weitung des Blicks zu erkennen ist, was es mit den Wirsbergern geschichtlich überhaupt auf sich hatte. Dazu wird nicht zuletzt ein die bisherigen Vorstellungen stark einschränkendes Urteil über die Bedeutung des eingangs zitierten joachimitischen Charakters der Bewegung gehören.

 

I. Doch zunächst: Wer waren eigentlich die Wirsberger? Der Name leitet sich von dem bei Kulmbach in Oberfranken gelegenen Orte Wirsberg her, dem Stammsitz eines seit 1279 quellenmäßig faßbaren Reichsministerialengeschlechts[8], dessen einzelne Zweige im Laufe der Jahrhunderte in der näheren und weiteren Umgebung, namentlich auch an verschiedenen Orten des unter dem Namen Regio Egere bekannten hochmittelalterlichen Reichsgutkomplexes[9] ansässig geworden sind. Dieses bedeutende Reichsland war ebenso wie große Teile des oberfränkischen Reichsguts mitsamt den Dienstmannen nach dem Ende der staufischen Dynastie allmählich in die Hände der benachbarten Territorialfürsten geraten. Das waren vor allem die wittelsbachischen Pfalzgrafen bei Rhein und Herzoge von Bayern, die zollerschen Markgrafen von Ansbach-Bayreuth, die wettinischen Markgrafen von Meißen und späteren Herzoge von Sachsen und - last not least - der König von Böhmen, der sich mit der der Region den Namen gebenden Reichsstadt Eger und ihrem Umland den Löwenanteil zu sichern verstand. So kam es, daß die ehemals reichsministerialischen Wirsberger - je nachdem, (227) wo sie konkret beheimatet waren - Dienstmannen unterschiedlicher, bisweilen auch mehrerer Herren wurden[10].

Ein seit dem beginnenden 15. Jahrhundert als Inhaber des im Dominium Egers gelegenen Gutes mit dem Namen "zum Höflein" (mundartlich: Höflas) bezeugter Zweig der Familie[11] stellte nun die personae dramatis, um die es hier geht. Drei Brüder treten handelnd in Erscheinung[12]: Livin, der offenbar Älteste, Herr auf Höflas, verheiratet, mit Kindern, die später das Familienerbe antreten sollten. Sodann Vincenz, Deutschordensritter, wohl Mitglied der Deutschordenskommende in Eger. Schließlich Janko, der für uns wichtigste Mann, von dem wir aber am wenigsten wissen. Er stand in Beziehungen zum Egerer Franziskanerkonvent, und man nahm bisweilen an, er sei Franziskaner, wenn nicht sogar förmliches Mitglied des Konvents gewesen; das ist mit Sicherheit falsch[13]. Die Stadt Eger hat ihn jedoch nicht als einen ihrer Bürger betrachtet, für den sie sich verantwortlich fühlte bzw. für den man sie hätte verantwortlich machen können[14].

Ordnet man die sozialgeschichtlich belangvollen Komponenten dieses Bildes, so hat man Mitglieder einer nicht sonderlich begüterten, wenn nicht sogar als ärmlich zu bezeichnenden niederadligen Familie vor sich: Von drei Brüdern reichte standesgemäße adlige Lebensführung nur für einen, ein zweiter hatte - immer noch nobel - im `Spital des deutschen Adels' unterkommen müssen, wie der Deutsche Orden zu Recht bezeichnet worden ist[15]. Der dritte schließlich läßt sich sozial nicht recht einordnen; nur soviel ist sicher: eine sozusagen `bürgerliche' Existenz führte er nicht - ob die familiären Ressourcen dafür nicht reichten oder ob er das nicht wollte, ist nicht auszumachen. Dem sozialen `standing' zufolge - bei Livin auch der Persönlichkeit nach - erinnern die Wirsberger von fern an Sir John Oldcastle und die in ihm verkörperte Führungselite der frühen englischen Lollarden. Es wird noch zu zeigen sein, daß das soziale Profil der Namensträger für die mit dem Namen verbundene Sache Bedeutung besaß.

 

II. Mit dem Vorwurf der Häresie und der Sektenbildung wurden von den drei Brüdern nur zwei konfrontiert: Livin und Janko. Janko war die treibende Kraft; Livin trat nur für ihn und seine Taten ein und mußte am Ende mit dem Leben dafür büßen. Jankos Schicksal bleibt im Dunkeln: er tritt seit Ende 1466 nicht mehr in Erscheinung und verschwindet einfach aus den Quellen[16]. Was nun hat Janko getan? Und wofür hat sein Bruder Livin büßen müssen? Das ist schwerer zu beantworten, als es die Quellenzeugnisse dem Augenschein nach vorspiegeln. (228)

 

II. 1. Die äußeren Fakten: In einem Brief vom 11. Juni 1466 fordert der in Breslau residierende päpstliche Legat Rudolf von Rüdesheim, Bischof des salzburgischen Eigenbistums Lavant, seinen Regensburger Amtskollegen Heinrich IV. von Absberg auf, gegen die beiden ihm von einem ungenannt bleibenden Adligen denunzierten Wirsberger-Brüder wegen des Verdachts auf Häresie von amts wegen vorzugehen[17]. Daraufhin läßt der Regensburger Bischof durch seinen mit der Wahrnehmung der Spiritualien in seinem Bistum betrauten Weihbischof, den Franziskaner Ulrich Aumayr, Titularbischof von Hierapolis[18], die Spitzenvertreter der vier in Regensburg ansässigen Bettelorden am 12. Juli desselben Jahres vorladen und ihnen eine Liste der den beiden Brüdern zur Last gelegten Lehrsätze zur Stellungnahme vorlegen[19]. Deren häretischer Charakter erschien evident.

Die um ihren Rat befragten Bettelordensgeistlichen Regensburgs, sämtlich konventualer Prägung, fanden aber neben dem denunzierten Brüderpaar noch einen anderen Schuldigen: den Egerer Franziskanerkonvent, in dem unter sichtlichen lokalen wie überlokalen Widerständen, jedoch mit päpstlicher Förderung, ja Anweisung, in den Jahren 1463 bis 1465 die Observanz eingeführt worden war. Dabei standen auf Seiten der Observanten die führenden Adelsfamilien in Stadt und Umland Egers, schützend griff zu ihren Gunsten auch König Georg von Podiebrad ein, während die Gegenposition etwa in der Gestalt des sächsischen Provinzialministers Nikolaus Lackmann von denselben Personen und Kreisen eingenommen wurde, die sich über die Wirsberger-Lehren negativ verbreiteten[20].

Damit erhielt die Angelegenheit eine neue, nunmehr kirchenpolitische Dimension, und zwar sowohl auf lokaler wie überlokaler Ebene. Der Häresievorwurf gegen die Wirsberger fand Verwendung als Kampfmittel im ordensinternen Richtungsstreit, bezogen speziell auf Eger, aber man kann weitergehen und sagen: auch im ordensübergreifenden Kampf zwischen reformwilligen und reformunwilligen Kräften in der Kirche insgesamt. Denn das observanten-feindliche Votum wurde ja nicht von Franziskanern allein abgegeben, sondern vom Klerus aller vier Bettelorden, und zeigt damit eine prinzipielle innerkirchliche Position an. Es ist indessen unklar, in welcher Form dieses Votum eigentlich publik gemacht worden ist, ob da nur gerüchteweise etwas durchsickerte, ob gezielt Indiskretionen verbreitet wurden, oder ob es rechtsförmliche Mitteilungen, wenn nicht gar öffentliche Proklamationen seitens oder namens des Bischofs gab[21]. Wie auch immer: die Egerer Franziskaner-Observanten kamen um eine Distanzierung von den Wirsbergern und den ihnen zur Last gelegten Vergehen nicht umhin, (229) und der von ihnen um ein klärendes Wort gebetene päpstliche Protektor: Rudolf von Rüdesheim - der die ganze Sache ins Rollen gebracht hatte -, sah sich zu einer beschwichtigenden Erklärung zu ihren Gunsten veranlaßt[22]. Der Vorwurf hielt sich dennoch zäh: von der zeitgenössischen mittelalterlichen Chronistik bis in Darstellungen unserer Tage[23].

Die Egerer Franziskaner waren aber nicht die einzigen, die sich herausgefordert fühlten. Protest legte auch die Stadt Eger ein, die als vermeintlicher Ketzerhort ihren Ruf beschädigt sah. Dies um so mehr, als das Denunziationsschreiben Rudolfs von Rüdesheim als Anhänger des Wirsberger Brüderpaares den Egerer Bürger Hans Schönbach namhaft gemacht hatte, dessen Beruf: das Gewerbe des Gewandschneiders[24], ihn als der städtischen Führungsschicht zugehörig ausweist[25].

Damit bekam die Angelegenheit allgemeinpolitische Bedeutung, denn Eger war nicht irgendeine Stadt: Ihre verfassungsrechtliche Stellung war delikat, damals wie ja bekanntlich auch noch in jüngerer Zeit. Denn trotz sich als dauerhaft erweisender Verpfändung an einen Territorialherrn - zuerst (1322) an den König von Böhmen ad personam, seit 1347 an die Krone Böhmen als Institution - war und blieb Eger der staatsrechtlichen Form und dem Selbstverständnis seiner Bürger nach Reichsstadt[26]. Und ihre politische Position als stockkatholisch im gemischt-konfessionellen Reiche des als Ketzerkönig geschmähten Georg von Podiebrad war gleichfalls heikel; denn konsequent durchgehaltene Politik Egers war und blieb es, Loyalität zum böhmischen König mit Katholizität im Glauben zu verbinden[27].

So setzten auch von dieser Seite her Distanzierungsbemühungen ein: Eger protestierte beim Regensburger Bischof gegen den von ihm erhobenen Vorwurf der Ketzerbegünstigung, schickte Manifeste in alle Welt mit der Klage, welch Unrecht der Stadt angetan würde. Es scheint sogar zu einer eigenen Demarche beim Papst, Paul II., gekommen zu sein. Zu ihrer Genugtuung erhielt die Stadt tröstende Antwort von allen wichtigen Institutionen: den benachbarten Land- und Reichsstädten, dem Markgrafen Albrecht Achilles von Ansbach-Bayreuth, den Bischöfen von Bamberg, Würzburg und Eichstätt, dem Erzbischof von Salzburg, und schließlich auch vom päpstlichen Nuntius Rudolf von Rüdesheim[28].

Doch bei den papierenen Protesten blieb die Stadt nicht stehen. Sie tat auch alles in ihrer Macht Stehende, ihre Worte durch Taten zu untermauern: Ihren Bürger Hans Schönbach veranlaßte sie, sich in persona beim Regensburger Bischof von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu reinigen[29], und als die Wirsberger nicht daran dachten, ein gleiches (230) zu tun, wollte Eger mit ihnen nichts mehr zu tun haben. Derart im Stich gelassen, erhoffte Livin von Wirsberg (von Janko ist hierbei bezeichnenderweise nicht die Rede) Schutz von einem Mächtigeren: vom König selbst, seinem Lehnsherrn[30].

Damit hatte der Fall die höchste politische Ebene erreicht. Der König gewährte den erbetenen Schutz und beauftragte die Stadt mit dessen Wahrnehmung[31]. Da hatte er freilich die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn der Stadt war es ernst mit ihrem Willen, sich aus der Sache herauszuhalten, und in aller Form forderte sie Livin auf, das Stadtgebiet zu meiden[32]. Nun stand der König vor der Wahl: Konflikt mit Eger oder Durchsetzung des Schutzanspruchs seines Dienstmannes. Mit Schreiben vom 16. Dezember 1466 entschied sich der König für Eger[33]. Das war sieben Tage, bevor der Papst ihn nach mehr als einjährigem Prozeß als Ketzer verurteilte und seine Untertanen von ihrem Treueid entband, zwei Monate, bevor die nach wie vor gut-katholische Stadt Eger in ihren Mauern die Hochzeit von König Georgs jüngstem Sohn Heinrich, Herzog von Münsterberg, mit Ursula, der Tochter des Markgrafen Albrecht Achilles von Ansbach-Bayreuth sah[34].

 

II. 2. Man sieht: Livin war in die Mühlen der hohen Politik geraten. Auch der in Regensburg gegen ihn und seinen Bruder Janko ins Werk gesetzte Häresieprozeß verlief von Anfang an mehr nach den Regeln der politischen Arithmetik als jenen der kanonisch-rechtlichen Prozeßordnung. Schon bei dem Denunziationsschreiben Rudolfs von Rüdesheim muß man beachten, daß der Legat zu diesem Zeitpunkt in der Hauptsache damit beschäftigt war, von Breslau aus den Kampf gegen Georg von Podiebrad zu organisieren[35], so daß die zeitliche Koinzidenz zwischen der Aufforderung zu amtskirchlichem Vorgehen gegen einen `böhmischen' Ketzer und den Aktivitäten zur Vernichtung des böhmischen `Ketzerkönigs' einen politischen Zusammenhang nahelegt. Dies um so mehr, als auch die Reaktion des Regensburger Bischofs bei der Wahl des Zeitpunkts offensichtlich politischen Rücksichten folgte. Denn eine Denunziation gegen die Wirsberger hatte schon seit den Zeiten von Heinrichs von Absberg Vorgänger bereitgelegen[36], aber erst die Aufforderung des päpstlichen Legaten führte zu konkreten prozessualen Maßnahmen seitens der Regensburger Bischofskurie. Und ähnlich politisch überlegt erscheint das weitere Vorgehen. Denn der Häresie-Erklärung der dem Regensburger Bischof vorliegenden Lehrsätze der Wirsberger vom 12. Juli 1466 war mitnichten, wie üblich, sogleich die kanonische Ladung an die Propagatoren dieser Lehren gefolgt, sich zu verantworten. Damit ließ sich der Bischof Zeit, bis er Livin einerseits in Distanz zu der (231) Stadt Eger wußte und andererseits im Schutze des `Ketzerkönigs': am 5. Dezember 1466 erfolgte die erste kanonische Ladung[37] - sechs Monate nach Rudolfs von Rüdesheim Denunziation, fünf Monate nach der Häresie-Erklärung der inkriminierten Lehren, drei bis vier Monate nach Klärung des Verhältnisses mit Eger[38], drei Monate nach König Georgs Schutzerklärung für Livin und etwa zeitgleich mit dem an ihn ergangenen Verbot, Eger zu betreten.

Für Pfingsten 1467 scheint eine zweite Vorladung erfolgt zu sein, auf die Livin offenbar ebensowenig reagierte wie auf die erste[39]. Aus nicht erkennbaren Gründen muß er sich dann nach der Mitte des Jahres 1467 auf Oberpfälzer Gebiet begeben haben: Dort jedenfalls geriet er in Kemnath in die Hände des Pfalzgrafen[40], wurde nach Regensburg überstellt und anscheinend am 10. Januar 1468 vor allem Volk im Regensburger Dom als bußfälliger Ketzer zu ewigem Kerker verurteilt[41]. Ort der Haft war die dem Hochstift Regensburg gehörige Burg Hohenburg bei Parsberg in der Oberpfalz, wo Livin bereits um die Jahreswende 1468/69 starb[42].

 

II. 3. Auch hier fördert es die Erkenntnis, den Ablauf der Ereignisse auf der Wirsberger-Bühne mit bestimmten Geschehnissen auf der Ebene der hohen Politik zeitlich in Parallele zu setzen[43]: Im April 1467 bricht der offene Konflikt zwischen König Georg und dem von Zdenek von Sternberg geführten sog. böhmischen Herrenbund aus. Schon der Monat Mai 1467 sieht die ersten schweren Kämpfe zwischen König und Rebellen, die mit spektakulären Erfolgen der Rebellen bei der Belagerung von Münsterberg beginnen, woraufhin vom König ihm bis dahin treu gebliebene Territorien und Gefolgsleute abfallen, vor allem in den Lausitzen und in Mähren. Das ist die Zeit, zu der Livin nach Regensburg vorgeladen wurde. König Georg gelang es zwar nach einigen Mühen, die Lage wieder zu stabilisieren, aber im Reich und namentlich im Herrschaftsgebiet der bayerischen Herzoge wurde mit Erfolg das Kreuz gegen den böhmischen Ketzer-König gepredigt, wurde (wenn auch nur mit geringem Erfolg) auf Reichstagen in Nürnberg und Regensburg vom Papst wie inzwischen auch vom Kaiser versucht, eine deutsche Fürstenallianz gegen ihn in Stellung zu bringen. Das ist die Zeit, in der Livin in pfälzische Gefangenschaft geraten sein muß. Die Jahreswende 1467/68 sah den offenen Bruch zwischen König Georg und dem Kaiser, Friedrich III., gefolgt von einer militärischen Kampagne des Böhmenkönigs in Niederösterreich und dem für die weitere Auseinandersetzung entscheidenden politischen Ereignis: dem Eingreifen des Ungarnkönigs Matthias Corvinus auf seiten der Gegner Georgs von Podiebrad. In die(232)sen Zeitraum fällt die öffentliche Verurteilung Livins als Ketzer, anscheinend in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Regensburger Reichstag vom 4. Januar 1468. Man kann sich schwer dem Eindruck entziehen, daß das Procedere gegen den Wirsberger auf propagandistische Wirkung zielte und somit Teil der psychologischen Kriegsführung gegen den Böhmenkönig war.

 

II. 4. Daß hier der Sack geschlagen wurde und der Esel gemeint war, empfand Livin von Wirsberg selbst sehr früh schon: In einem ausführlichen Rechtfertigungsschreiben vom 17. August 1466 verwahrt er sich energisch dagegen, daß man seinen Bruder Janko mit aller Gewalt unter die pehaym gedrüngen, d.h. zu einem Hussiten gestempelt habe[44]; und daß der Pfalzgraf Livin als unglaubigen beheimen hat ergreifen und dem Regensburger Bischof überstellen lassen, berichtet letzterer sogar selbst[45]. Daß spätere `katholische' Chronisten die Wirsberger bisweilen als Hussiten apostrophierten, ist aus dieser Sicht betrachtet nur konsequent[46]. Dies um so mehr, als selbst dem Böhmenkönig wohlgewogene Zeitgenossen, wie dessen - notabene `katholischer' - Sekretär Jobst von Einsiedel in den Wirsbergern die verruchten taboritischen `Pikarten' wiederauferstanden sah, d.h. den chiliastischen Flügel des Taboritentums, den der große Zizka 1421 liquidiert hatte[47].

Der förmliche Hussitenvorwurf ist indessen nur die gröbste Form der Diffamierung. Daß der Böhmenkönig nicht nur einem Glauben huldige, den in Form der Basler Kompaktaten immerhin ein veritables und zum Zeitpunkt von deren Abschluß auch in päpstlichen Augen noch ganz legitim tagendes ökumenisches Konzil gebilligt hatte und dessen Häresie-Charakter folglich auch einem `Katholiken' hätte zweifelhaft erscheinen können und in der Tat erschien, sondern daß er in seinem Machtbereich eine jedermann erkennbare Häresie dulde - das ist die eigentliche Botschaft, die der Regensburger Bischof als Handlanger des päpstlichen Legaten der Reichsöffentlichkeit zu vermitteln suchte. Zugleich war solcherart Nachweis evidenter Häresie von Egerer Bürgern sowie manifester Häresiebegünstigung durch den Herrn der Stadt ein nicht ungeeignetes Mittel, Pressionen auszuüben und je nach Bedarf die politische Loyalität der Stadt zum König zu diskreditieren oder umgekehrt auf die Probe zu stellen. Die Reaktionen der Stadt sind nur vor diesem politischen Hintergrund zu verstehen.

Ordnet man jene Personen, die den Prozeß in Gang brachten oder ihn führten oder ihn mittels Ergreifung zumindest eines der beiden Hauptschuldigen zu einem aller Welt vorzeigbaren Ergebnis verhalfen, ihren politischen Positionen im Kampf um Böhmen zu, dann wird man (233) rasch gewahr, daß man hier ausnahmslos engagierte Gegner des Böhmenkönigs vor sich hat. Somit lassen das Timing, die beteiligten Personen und Institutionen in ihren persönlichen Bindungen und politischen Absichten für das Häresie-Verfahren gegen die Wirsberger einen politischen Hintergrund erkennen, ja man könnte sogar pointiert von einem politischen Prozeß sprechen.

Wenn aber der Prozeß gegen die Wirsberger Teil der gegen den Böhmenkönig geführten Kampagne gewesen ist, dann muß man sich fragen, ob nicht auch die ihnen zur Last gelegten Häresien mehr ein Produkt polemischer Propaganda als tatsächlich verkündeter Lehre waren.

 

III. Welches ist der eigentliche Inhalt der Vorwürfe: ihr häresiologischer Kern sozusagen? Da muß man Schein und Sein deutlich auseinanderhalten. Für Livin von Wirsberg war es ganz unbegreiflich, wie man ihm und seinem Bruder Janko Häresien hat vorwerfen können, wo sie doch nur die bekannten Jeremiaden von der Verderbtheit der Welt von sich gegeben und die in ihrer Zeit weder seltene noch unbedingt mit dem Ketzervorwurf verpönte eschatologische Naherwartung von einem innerhalb von fünf Jahren eintretenden Jüngsten Gericht zum Ausdruck gebracht hatten[48]. Wo hätte da ein Irrtum liegen sollen oder gar eine Häresie, wo doch alles in der Heiligen Schrift zu finden sei und Janko bzw. der, der sie in diesem Sinne deutete, alles von gotes offenbarung hab? Verunglimpfungen der Kirche? Nie habe Janko ein böses Wort über die frum ordenlich gotforchtig pristerschafft geäußert, im Gegenteil: daß sie mer und hoher geeret werde, sei sein ganzes Bestreben gewesen. Aufruhr und Gefahr für die öffentliche Ordnung? Gott bewahre! Nie habe er über diese Dinge mit pofel noch unordenlichen lewten gesprochen, sondern die Schriften, an denen man Anstoß nahm, habe er schon seit zehn Jahren an alle möglichen gelehrten Kollegien geschickt mit der Bitte um Prüfung: seien sie von Gott, so wolle er sie verkünden, wo nicht, so sollten sie widerlegt werden. Und Livin kann es nicht fassen, wie er Maria, die lieben werden muter gotes, und got Ihesum unnsern lieben hrn iren sun uneren und nit glauben sölt.

Noch klarer liest sich das Lehrprogramm der Wirsberger in den Worten des Deutschordensbruders Vincenz[49]. Er habe von seinem Bruder Livin nichts als das Folgende vernommen: dy örden würden czustört, dy pristerschaft gereformirt, der adel verwandelt und wyder in die stet kumen, und die werlt wer schyr in eym glauben kumen, und der jüngst tag sey nicht weyt - des underwant er sich awß der schrifft czu pewern, und wer etlichen menschen durch stym geoffenwart von got. (234)

Ob in Livins oder in Vincenz' Worten: Das ist ein etwas exaltiertes, eschatologisch hochgestimmtes Kirchenreformprogramm, wobei `Kirche' den orbis christianus als ganzen meint. Nicht mehr, nicht weniger. An den Worten Livins und Vincenz' mag manches Apologie sein. Aber die Wirsberger-Brüder dürften von dem hier entworfenen Bild ihres Glaubensgebäudes kaum etwas wesentlich anderes als Wirklichkeit wahrgenommen haben.

Aber haben sie denn dieses Bild selbst entworfen? Sind sie überhaupt die Autoren der ihnen zur Last gelegten Häresien? Haben sie die Bücher, in denen man ihre Lehren fand, eigentlich selbst verfaßt? Und falls nicht: Haben sie sie vielleicht gar nicht richtig verstanden? Das könnte man meinen, denn Livin selbst beruft sich auf Janko, von dem er alles übernommen haben will, und dieser - so läßt er durchblicken - habe gleichsam nur den Briefträger für einen geheimnisvollen Unbekannten gespielt, den eigentlichen Spiritus rector der von ihnen verbreiteten Ideen[50]; und Jobst von Einsiedel weiß als brandneues Gerücht zu berichten, ein entlaufener Mönch, der einer Nonne ein Kind gemacht und ihr erzählt habe, das sei der kommende Jesus/Messias, habe all diese schrecklichen Dinge in die Welt gesetzt; und dieser ihr neuer Gott müsse den Wirsbergern wohl die Schriftsätze verfaßt haben, mit denen sie sich an die Öffentlichkeit wendeten, denn weder Livin noch Janko könnten viel Latein[51].

Dazu ist zu sagen: Jobst von Einsiedel gibt nur Klatsch und Tratsch wieder, und Livin beruft sich lediglich auf das, was er von seinem Bruder Janko gehört haben will bzw. wie er ihn verstand. Von einer originären Information kann man also weder hier noch dort sprechen. Es wird noch zu zeigen sein, daß sich bestimmte Teile ihrer Lehren als Reflex eben jenes sozialen Milieus bestimmen lassen, dem sie entstammten[52]. Ich sehe daher - im Gegensatz zur herrschenden Meinung[53] - keinen zwingenden Anlaß, das, was die Wirsberger - und hier vor allem Janko - in Wort und Schrift in Umlauf gebracht haben, nicht auch für ihr ureigenes Werk zu halten. Dies um so weniger, als ihr Werk nach Form und Inhalt keineswegs isoliert gewesen ist in seiner Zeit und damit zwangsläufig Elemente enthält, die die Wirsberger von anderen übernommen und nicht selbst erfunden haben.

Heimlichkeit jedenfalls war ihre Sache nicht: Nicht nur an gelehrte Kollegien hat Janko offenbar seine Schreiben gesandt[54] - als solche lassen sich Erfurt, Leipzig und Wien namhaft machen[55] -, sondern auch an Fürsten und Städte des Reiches, ja sogar an den Kaiser[56]. Weil diese Sache das ganze Reich anginge, sollten sie alle urteilen[57].

Einige taten das auch: Der dem Konventualen-Lager zugehörige, in Freiberg in Sachsen residierende Provinzialminister der sächsischen Or(235)densprovinz der Franziskaner, Nikolaus Lackmann[58], schickte ihm jedenfalls mit Datum 27. Mai 1466 - also gut 14 Tage vor Rudolfs von Rüdesheim Denunziationsschreiben - eine im eigenen und im Namen "aller anderen Doktoren und Definitoren des Ordens und Kapitels zu Freiberg" abgefaßte Antwort[59]. Nicht weniger als 72 stucke die do sind wider den heyligen gelawben will er in Jankos Schriftwerk gefunden haben - welche, sagt er nicht -, und er droht ihm mit Denunziation bei dem für ihn zuständigen Bischof, falls ihm dergleichen nochmals vor Augen komme.

Die zweite uns bekannte Reaktion war die eingangs erwähnte Quaestio quodlibetalis des Erfurter Augustiner-Eremiten Johannes von Dorsten vom Jahre 1465[60]; auch sie liegt also zeitlich vor Rudolfs Denunziationsschreiben. Dem abstrakten Charakter der Quaestio entsprechend wird kein Name genannt; daß die Wirsberger und ihre Lehre überhaupt Gegenstand der Betrachtung waren, muß man aus der Übereinstimmung der ihnen im späteren Prozeß wie in der Quaestio zur Last gelegten Glaubensartikel schließen. Die Übereinstimmung ist indessen so nahtlos, daß Zweifel an der Sachidentität ausgeschlossen werden können. Sie sind jedoch nicht von vornherein ganz abwegig, denn die bei Johannes von Dorsten begegnende Qualifizierung der wirsbergischen Häresie als joachimitisch ist - zumindest in der von ihm vorgenommenen Akzentuierung - derart isoliert in seiner Zeit, daß man sich ernsthaft fragen muß, ob Dorsten, die Wirsberger und die prozeßführenden Prälaten überhaupt dieselbe Sache meinten, für die oder um die sie stritten.

Dorsten faßte die Wirsberger-Häresie in zehn Punkte zusammen[61], die er mit dem Etikett `joachimitisch' meinte versehen zu können. Der erste und in der Tat charakteristisch joachimitische Punkt ist die chiliastische Erwartung einer Letztzeit vor dem Jüngsten Gericht, die analog den drei Personen der Trinität sowie dem Alten, Neuen und einem zu postulierenden geisterleuchteten Dritten Testament als die letzte von drei Zeiten vorgestellt wurde. Diesem Markenzeichen des genuinen Joachimismus ordnete Dorsten alle weiteren von ihm namhaft gemachten Glaubensirrtümer zu. Sie lassen sich - wie gesagt - samt und sonders auch in den sonstigen Wirsberger-Materialien auffinden; nur haben sie mit Joachim, ja selbst mit der späteren joachitischen Tradition, nur noch in einem recht vagen Sinne etwas zu tun[62].

Das gilt schon für die zentrale Gestalt der Letztzeit. Dies ist nicht etwa Jesus Christus als der Gegenspieler und Überwinder des Antichrist entsprechend der gängigen eschatologischen Tradition, sondern eine Art alter ego Christi mit den realutopischen Zügen eines eher jüdischen als christlichen Messias: Als Unctus Salvatoris wird er bezeichnet – eine (236) Analogiebildung zu `christus domini', eine gemeinhin Jesus Christus reservierte Metapher, die hier aber für dessen Double in Anspruch genommen wird, denn Jesus Christus habe als Sohn Gottes die Salbung nicht nötig gehabt[63]. Dieser Unctus Salvatoris sei spirituell geboren von der Jungfrau Maria, mit der vollen Einsicht in Gottes Offenbarung, ja in das ganze Geheimnis der Trinität begabt, allein imstande, die Welt zu erlösen bzw. jene 144.000, die gemäß alttestamentlicher Prophetie am Ende übrigbleiben würden. Alle messianischen Schriftstellen des Alten und des Neuen Testaments - darunter auch das Vaterunser[64] - würden auf das Kommen dieses Unctus Salvatoris gedeutet, des kaisergleichen menschlichen Stellvertreters von Gottes Sohn[65], dem - eine weitere Analogiebildung - ein zweiter Johannes voraufgehen würde, ein Iohannes de Oriente cecus natus, dem der geheimnisvolle Unctus die Augen geöffnet habe und der dessen Vorläufer und Propheten spiele. "Man nimmt an" - so Rudolf von Rüdesheim -, daß der Wirsberger Janko (eine tschechische Koseform des Namens Johannes) sich selbst in dieser Rolle sah[66].

Die Analogiebildung des doppelten Christus zum doppelten Antichrist, ja selbst die Vorläufergestalt eines `Johannes' ist keine Erfindung der Wirsberger. Sie läßt sich seit dem endenden 14. Jh. im deutschen Kulturbereich noch wenigstens zweimal nachweisen: 1393 bei dem als Ketzer in Heidelberg zu ewigem Kerker verurteilten Franziskaner Friedrich von Braunschweig und 1445 bei dem von den letzten Basler Konzilsvätern als Ketzer verurteilten und verbrannten Laien Nikolaus von Buldesdorf. Ich habe anderswo zu zeigen versucht, daß all diese Fälle geistesgeschichtlich in die von Joachim begründete, von Petrus Johannis Olivi umgeformte und von Jean de Roquetaillade chiliastisch aktualisierte eschatologische Tradition einzuordnen und deren soziale Trägerschichten im spiritualistisch-reformerischen Flügel der Franziskaner zu suchen sind[67]. Daß im Egerer Observantenkonvent der Franziskaner die Spiritus rectores der Wirsberger vermutet wurden, ist daher so abwegig nicht, solange man den möglichen Einfluß auf die unbestimmte Form einer bloßen geistigen Anregung begrenzt.

Aber über das Dreierschema der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Weltenzeiten sowie dem in der joachitischen Tradition erst ganz spät entwickelten Konzept eines zweiten Messias[68] hinaus vermag ich typisch Joachimisches oder auch nur Joachitisches bei den Wirsbergern nicht zu erkennen. Denn der Rest ihrer `Glaubensartikel' ist zeitkritische Dutzendware: Der Antichrist sei in der Welt, und er wird identifiziert mit dem Papst; Prälaten und sonstiger Klerus seien die membra Antichristi, `Babylon', oder die Große Hure der Apokalypse. Das (237) ist die übliche Kirchen-, d.h. Klerus-Kritik, von der nur die Bettelorden ausgenommen werden (übrigens alle, nicht etwa nur die Franziskaner!). Konsequenz aus der Verderbnis des Klerus: Die von ihm verhängten geistlichen Zensuren, aber auch die von ihm gewährten Gnaden sowie die von ihm gespendeten Sakramente seien kraftlos. Das sind weitreichende Folgerungen, und sie ließen sich ebenfalls in eine lange kirchengeschichtliche Tradition einreihen; aber man würde, wollte man sie dogmatisch fachgerecht etikettieren, wohl besser `donatistisch' dazu sagen, jedenfalls sicherlich nicht `joachitisch'.

Ähnlich ein anderes Element: Wer die Schrift abweichend vom üblichen Schema deutet und sich gar auf göttliche Erleuchtung dabei beruft, muß zwangsläufig zu einem kritischen Verständnis der exgetischen Tradition gelangen. Sie wird von den Wirsbergern offenbar in der Tat in Bausch und Bogen abgelehnt, und zwar sogar in recht drastischer Form: Die als heilig apostrophierten Kirchenväter hätten wohl dem Wein zu fleißig zugesprochen und ihre Alkohol-Delirien als divinae inspirationes ausgegeben[69]. Das ist grob, ließe sich der Sache nach jedoch gleichfalls mühelos in Traditionen einreihen - von den Taboriten z.B. wird Ähnliches berichtet[70] und Wyclifs wie der Hussiten Sola-scriptura-Doktrin stellte die kirchliche Überlieferung prinzipiell zur Disposition[71] -, nur hat das alles mit Joachimismus nicht das geringste zu tun.

 

IV. Wie dann wäre das Verhältnis der Wirsberger und ihrer Lehren zu Joachim und der von ihm ausgehenden Tradition zu bestimmen? Um diese Frage zu beantworten, muß man sich erst einmal klar zu werden suchen, was die Wirsberger in der Substanz überhaupt wollten. Das ist an sich ziemlich leicht zu erkennen: Sie wollten die Reform einer als heillos zerrüttet empfundenen Welt. Die sog. Häresie der Wirsberger ist folglich nichts anderes als eine religiös artikulierte Gesellschaftsutopie.

Als solche ist sie weder der Form noch den Zielen nach eine in ihrer Zeit isolierte Erscheinung. Die Nachrichten über wandernde Propheten chiliastischer Couleur sind im 15. Jh. Legion. Meist werden uns von den beunruhigten Zeitgenossen nur pauschale Angaben gemacht, hin und wieder ein - meist nichtssagender - Name genannt, gelegentlich Bruchstücke eines Programms skizziert[72]. All diese Zeugnisse lehren in der Hauptsache eines: Daß das Phänomen weltverbessernder Prediger chiliastischer Prägung relativ weit verbreitet war, und zwar dergestalt, daß die Akteure untereinander keinerlei direkte Verbindungen besaßen, alle zusammen aber als das Produkt gleichartiger sozialer, mentaler und ideeller Rahmenbedingungen zu bewerten sind, die jeweils für sich und (238) alle miteinander zu weitgehend übereinstimmenden Antworten auf gleichermaßen als problematisch empfundene Zustände ihrer Zeit fanden.

Innerhalb dieses weiten Rahmens, wo alles miteinander zusammenhängt und man doch kaum je etwas unmittelbar voneinander ableiten kann, läßt sich, wie mir scheint, in einem Punkt eine nähere Zuordnung treffen, wo also bestimmte Ideen mit bestimmten Trägerschichten über längere Zeiträume hinweg kontinuierlich miteinander verbunden waren. Gemeint ist der radikal-reformerische, häufig als `spiritualistisch' apostrophierte Flügel der Franziskaner. Denn zu ihm lassen sich von nahezu allen leidlich gut bezeugten chiliastischen Reform-Programmen Verbindungslinien herstellen, und umgekehrt ist der dort nie ganz erloschene Joachimismus für den spätmittelalterlichen Chiliasmus in mehr oder minder großem Umfang stets charakteristisch gewesen[73].

Es wäre aber wohl ein Fehler zu meinen, man hätte bei den Franziskanern in die Schule gehen oder gar selbst ein Franziskaner sein müssen, um im 15. Jh. ein Reformprogramm mit chiliastischen Zügen konzipieren zu können. Gewisse joachitische Elemente - wie etwa die endzeitliche Messias-Gestalt - hatten sich längst derart innerhalb einer breitere Schichten erfassenden Reformdiskussion verselbständigt, daß man nicht mehr notwendig auf franziskanisches Milieu oder gar auf geschlossene joachitische Sektenzirkel rekurrieren muß, will man in bestimmten Reformprogrammen die Herkunft joachitisch-chiliastischer Elemente näher bestimmen. Paradebeispiel dafür kann die bekannte, im Umkreis des Basler Konzils entstandene Reformatio Sigismundi dienen, wo in den Gestalten eines Friedrich von Lantnewen bzw. des der apokryphen Esdras-Prophetie[74] entlehnten `Sacer Pusillus' dieselbe endzeitliche Messias-Vorstellung Ausdruck fand wie bei den Wirsbergern in ihrem Unctus Salvatoris[75]. Und auch die letzte große reformerische Konzeption des Mittelalters: das "Buch der 100 Kapitel und 40 Statuten" des sog. Oberrheinischen Revolutionärs, kennt den Friedenskaiser mit dem mythischen Namen Friedrich als den von der Apokalypse geweissagten endzeitlichen Reformator: der wirt im namen gottes das wesen Bell zerbrechen und die priester totschlahen und das gantz erdrich under sich bringen - ein hirten, ein schoffstall, ein glouben durch die gantz weld machen[76].

Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, daß sich derartige Sätze auch in den Schriften fanden, die Janko von Wirsberg in alle Welt gehen ließ[77]. Zertrümmern des Schlechten, Aufbau des wahren Guten, was immer man sich darunter konkret vorgestellt haben mag - das ist bei allen Unterschieden im einzelnen der Grundzug sämtlicher Reformprogramme jener Zeit. Sie suchten und fanden im übrigen ein recht un(239)terschiedliches Echo. Nikolaus von Buldesdorf machte das Basler Konzil zum Forum für die Verkündigung seiner Ideen und auch Janko von Wirsberg suchte an die `Häupter der Christenheit', wie er sich ausdrückte, seine Sache zu bringen, da er von deren Richtigkeit wie Wichtigkeit durchdrungen war. Die Reformatio Sigismundi war mit 16 Handschriften und acht Drucken aus der Zeit vor dem Bauernkrieg relativ weit verbreitet, wurde aber nur anonym überliefert[78]; über den Autor - der gewußt haben mag, weshalb er seinen Namen verschwieg - gibt es manche Hypothesen, aber keine hat bislang überzeugen können[79]. Der Oberrheinische Revolutionär hinterließ sein Werk ohne Verfasserangabe in nur einer Handschrift. Wenn die jüngst von Klaus Lauterbach vorgenommene Zuschreibung der Schrift an den als Sekretär der Hofkanzlei Kaiser Friedrichs III. und Maximilians I. tätigen Mathias Wurm von Geudertheim der Überprüfung standhält[80], wäre zumindest in einem Fall der soziale Ort bestimmt, an dem Reform des Reichs, der Kirche, ja der Welt im 15. Jh. theoretisch artikuliert worden ist[81].

Es sieht so aus, als ließe sich auch von hier aus eine Brücke zu den Wirsbergern schlagen. Die Wirsberger stammen sozial aus dem den städtischen Oberschichten verbundenen Niederadel, d.h. aus derselben Schicht, wie sie als sozialer Herkunftsort für die Verfasser der beiden eben genannten spätmittelalterlichen Reformschriften postuliert werden muß, wenn nicht sogar nachgewiesen werden kann. Wenigstens zwei der ihnen zugeschriebenen Lehrpunkte zeigen einen schichtenspezifischen sozialen Hintergrund.

Der eine besagt, daß Fürsten und Prälaten - sprich: die herrschende Schicht des hohen Adels - in der Endzeit umgebracht würden[82]. Das ginge so vor sich[83]: Die Fürsten führten Soldritter in den Krieg, denen sie hernach die Löhnung verweigerten; diese würden daraufhin im Aufruhr gegen die Fürsten losschlagen und diese umbringen. Und "ihre Leichen werden unbestattet bleiben", heißt es zum Schluß in deutlicher Reminiszenz an das traditionelle Antichrist-Szenarium.

Der zweite Lehrpunkt lautet in den Worten Vincenz' von Wirsberg: der adel [würde] verwandelt und wyder in die stet kumen[84]. Das klingt recht enigmatisch, läuft aber im Prinzip auf dasselbe hinaus wie der den Praktiker des Kriegshandwerks der Zeit verratende erste Lehrpunkt: Abschaffung der ständischen Gliederung der Gesellschaft, was in den Augen der Wirsberger in praxi Liquidation des herrschenden Hochadels bedeutete. Dies hat in zweifacher Hinsicht einen konkreten sozialgeschichtlichen Hintergrund.

1. Der Kleinadel bildete in der Stadt wie auf dem Land eine auch durch Konnubium vielfach verbundene homogene Schicht – ungeach(240)tet eines sich seit dem 15. Jh. verstärkenden Prozesses des Auseinandertretens von Stadt- und Landadel. Der im Dominium Egers ansässige Livin von Wirsberg ist selbst das beste Beispiel für das enge Band zwischen Stadt und Landadel.

2. Gerade in Böhmen erreichte damals der soziale Gegensatz zwischen der Schicht des Hochadels auf der einen, des mit den Städten verbundenen Niederadels auf der anderen Seite eine den Zeitgenossen bewußte ungewöhnliche Schärfe. Ich verweise nur auf das bekannte Memorandum des aus der südböhmischen Magnatenfamilie der Rosenberger stammenden Bischofs Jost von Breslau vom Jahre 1465, abgefaßt am Vorabend des vom böhmischen Herrenbund inszenierten Aufstands, in dem die Frontlinien keineswegs nur zwischen Hochadel und König verliefen, sondern vor allem zwischen Hochadel und dem den König stützenden Niederadel und seinesgleichen[85] in Stadt und Land. Der Bischof Jost von Breslau schreibt[86], es gäbe Leute, die meinten, "es sollen die Barone nur allein, ohne die Ritterschaft, und die Ritterschaft wieder ohne die Barone sich hinstellen, dann werde man sehen, ob diese oder jene dem Lande bessere Dienste zu erweisen im Stande sind". Entmachtung des Hochadels und Etablierung des Kleinadels und der Städte als die eine neue politische Ordnung konstituierenden Kräfte - das stand als eine mögliche soziale Wirklichkeit damals den Zeitgenossen konkret vor Augen, und zwar keineswegs nur in Böhmen[87]. Vor diesem sozialpolitischen Hintergrund werden die beim ersten Hinhören erratisch klingenden Aussagen der Wirsberger überhaupt erst verständlich, und nur von dieser Dimension her erhalten sie ihr wahres historisches Relief[88].

 

V. Wenn sich die Lehren der Wirsberger nicht so sehr als joachitisch inspiriertes Theoriengebäude, sondern eher als sozialpolitisch konkret zu verortendes Reformprogramm im chiliastischen Gewande verstehen läßt und damit als eine von vielen Stimmen in einem großen nach Reform schreienden Chor, dann stellt sich die Frage nach dem Sekten-Charakter dieser `Häresie'.

Man kann sich der Antwort nähern, wenn man sich einmal fragt: Wieviele Wirsberger gab es denn nun eigentlich? Zwei? drei? ein Dutzend? oder noch mehr? Die Berichterstatter machen keine genauen Angaben, aber viele Anhänger sollen die Wirsberger schon gehabt haben, ja man überschlägt sich förmlich im Ausmalen ihrer Gefährlichkeit: Hochadel, Niederadel und andere sollen zu ihrem Anhang gezählt haben, dazu ein veritabler Bischof, dem unser Gewährsmann grimmig (241) wünscht, er wäre besser ins Grab gesunken[89]. Ähnlich aufgeregt ein anderer: Adlige und Nichtadlige in großer Zahl, darüberhinaus Städte und ganze Länder hätten sie zu ihrer Häresie verführt[90]. Und die Wirsberger scheinen sich auch selbst gebrüstet zu haben, zu ihrem Anhang würden zahlreiche weltliche und geistliche Fürsten und Leute aus dem Ordensstand, besonders der Bettelorden, zählen[91], insgesamt eine solche Menge in den verschiedensten Teilen Deutschlands, daß, wären sie vereint, sie jedem beliebigen großen Fürsten widerstehen könnten[92].

Prüft man das nach, so kommt man als hartem Kern von Jankos und Livins Anhang gerade auf den Egerer Bürger Hans Schönbach; und der konnte sich auch noch vor dem Regensburger Bischof vom Verdacht der Häresie reinigen. 1486 will ein Benutzer von Dorstens Quaestio - mit großer Sicherheit dessen Schüler Johannes von Paltz - ausgemacht haben, daß Livins von Wirsberg Häresie nach Erfurt "gekrochen" sei[93]. Also doch eine verschworene Gemeinde, gar Sektenkontinuität über 20 Jahre hinweg? Eine solche Deutung hieße das Zeugnis mißverstehen: Es besagt nicht mehr, als daß joachitisch getönte Reform-Programme nach Wirsberger-Art in Erfurt auch noch 1486 im Schwange waren - und das kann den, der meinen vorigen Ausführungen gefolgt ist, nicht mehr überraschen. Phänomenologische Übereinstimmungen stiften aber noch keine historische Kontinuität. Daß es damit bei den Wirsbergern schlecht bestellt ist, hat schon die bisherige Forschung verblüfft: Nach Livins Tod ist nichts mehr an historischer Wirkung spürbar. Wäre es anders, müßte das jeden verwundern, der das Selbstzeugnis Livins von Wirsberg ernstnimmt, Jankos Sache sei unter kain pofell noch unfursichtige lewt bisher ny gekommen[94].

Wo also blieb der Anhang? Verlief er sich? oder war er eine bloße Chimäre? ein Resultat von Aufschneiderei hier, absichtsvoll gepflegter oder auch tatsächlich vorhandener Ketzerhysterie dort? Die Antwort ist, wie mir scheint, sehr einfach: Es ist eine Frage der Definition des angeblichen Anhangs, d.h. der Sekten-Struktur. Kurz gesagt: Die Wirsberger haben nie eine Sekte im Sinne einer irgendwie organisierten Anhängerschaft gebildet. Sie hatten Ideen, sie sprachen darüber, und man hörte ihnen zu - manche zustimmend, vielleicht sogar begeistert (wie offensichtlich jener Egerer Bürger Hans Schönbach), andere reserviert, wenn nicht ablehnend. Vor allem: die Wirsberger konnten sicher sein, daß ihr Reformanliegen auf breiteste Resonanz in allen Schichten rechnen konnte. Mehr haben sie, wie ich meine, nie sagen wollen mit ihrem kühnen Ausspruch, der dem päpstlichen Legaten denunziert wurde und mit dem er ihre Gefährlichkeit und damit Verfolgungsnotwendigkeit unterstrich: "wenn alle" - ich ergänze: Reformwillige - "beieinander wä(242)ren, könnte ihnen kein Fürst widerstehen, so groß er auch sei". Mit dieser Einschätzung könnten sie sogar recht gehabt haben. Freilich: die Reformwilligen standen nicht beieinander, und mit Livins Tod und Jankos Verschwinden war ein neuer Ruf nach Reform wirkungslos verhallt.

 

VI. Aber doch nicht ganz! Nicht daß ihre Ideen irgendetwas Neues in Bewegung gesetzt hätten, aber der Wirbel, den sie verursacht hatten, war doch recht beträchtlich. Indes: das Quellen-Abbild ihrer angeblichen Häresie hat nur noch sehr entfernt, und manchmal auch rein gar nichts, mit dem zu tun, was die Wirsberger in Wirklichkeit gelehrt hatten und worum es ihnen in Wahrheit gegangen war. Was also präsentiert sich da im Spiegel der Quellen als `wirsbergisch'?

Das ist gar nicht so leicht zu sagen, denn vieles, was die Wirsberger lehrten, wird gar nicht unter ihrem Namen tradiert, und was unter ihrem Namen tradiert wird oder sich doch ihrem Falle zuordnen läßt, kann vielfach nur mit Vorbehalt als für sie typisch gelten. Zunächst einmal sind alle Quellen generell dadurch charakterisiert, daß sie die Wirsberger-Lehren nur in ganz selektiver Form aufzeichneten. Notiert wurde - ich frage nicht, wie zuverlässig -, was als häresieverdächtig Aufmerksamkeit erregt hatte bzw. gebrandmarkt werden sollte. In Bezug darauf, was die Wirsberger an Unanstößigem verbreitet hatten, treten ihre Lehren hingegen überhaupt nicht in Erscheinung. Die Wirsberger als Spiegelbild ihrer Quellen - das ist in jedem Fall ein Zerrbild, nicht so sehr durch das, was berichtet wird, sondern durch das, was in den Berichten fehlt.

Was nun nahmen die Berichterstatter wahr von den Wirsbergern und was vermittelten sie ihren Lesern? Da gibt es große Unterschiede, bedingt zum einen einfach dadurch, daß der Wirsberger-Name bei Skizzierung von Wirsberger-Lehren gar nicht immer genannt wird, vor allem aber deswegen, weil der geistige Horizont der Berichterstatter differierte. So ist zum Beispiel das aus den Wirsberger-Lehren in Dorstens Quaestio als charakteristisch herausgeschälte joachitische Element von den Verfassern und Propagatoren der anderen Quellen und deren Lesern keinesfalls als typisch wirsbergisch empfunden worden. Als zeitgenössisches Angriffsobjekt von Dorstens Quaestio die Wirsberger wiederzuerkennen, wird überdies dadurch erschwert, daß Dorsten keine Namen nannte. Natürlich war er sich bewußt, wessen Lehren er aufs Korn nahm, sein Schüler Johannes von Paltz - der mutmaßliche Autor der Quaestio von 1486 - offenbar auch. Der unbefangene Leser von Dorstens Quaestio aber konnte diesen Zusammenhang nicht ahnen; (243) ihn hat erst die moderne Forschung wieder herstellen können. Dorstens Botschaft war: Joachim redivivus - nichts von Janko und Livin.

Die zeitgenössische Vorstellung von den Wirsbergern eher prägend war der Denunziationsbrief Rudolfs von Lavant, der in einer Reihe von Überlieferungen erhalten blieb, und zwar in einer Streuung, die an gezielte Propagierung denken läßt[95]. In grobem Umriß wird hier das Bild einer gefährlich weit verbreiteten, klerus-, kirchen-, fürsten-feindlichen, auf Umsturz der Verhältnisse zielenden, im Machtbereich des böhmischen Ketzerkönigs agierenden chiliastisch inspirierten Sekte unter Führung des Wirsberger-Brüderpaares entworfen. Ein verzerrtes, aber in sich stimmiges Bild, an dessen Authentizität auch noch ein Otto Schiff nicht zweifelte[96].

Der Eindruck wird vertieft und näher ausgeführt in jener den Regensburger Bettelordens-Geistlichen vorgelegten Artikelserie, die für uns als Vergleichsbasis zu allen anderen Materialien als die wichtigste Quelle gelten muß. Weit verbreitet war die Liste indessen nicht: Nur Glaßbergers Franziskaner-Chronik hat sie uns bewahrt[97]. Mit ihr hängt eine in zwei Handschriften überlieferte, in 16 Punkte gegliederte Artikel-Serie eng zusammen, die vieles Übereinstimmende, manches Ergänzende bietet und sich als die Liste jener Irrtümer gibt, die Livin tatsächlich vor dem Regensburger Bischof 1468 abgeschworen habe[98].

Das also konnten die Zeitgenossen - auch wenn nicht alles in gleichem Maße der Information zugänglich war - als wirsbergisch dem Namen und der Sache nach wahrnehmen. Es entsprach im Tenor im wesentlichen alles dem von Rudolf von Rüdesheim entworfenen Bild.

Zwei weitere Quellen nun, in ihren Aussagen seltsam miteinander verschränkt und doch mit sehr unterschiedlichen Informationen versehen, komplizieren die Sache: Beides sind Listen häresieverdächtiger oder förmlich als häretisch qualifizierter Lehrpunkte. Keine von beiden nennt die Wirsberger beim Namen. Die eine, mit 35 oft enigmatisch knappen Lehrsätzen ausführlichere Liste führt sie mit den Worten ein: Novellorum hereticorum figmenta sew errores[99]. Diese Liste war es, auf die Otto Schiff 1931 erstmals aufmerksam machte[100], ohne doch ihren Inhalt je zu publizieren. Der Liste folgt der Denunziationsbrief Rudolfs von Rüdesheim[101], vor allem aber ist der Text der eindeutig als wirsbergisch zu identifizierenden Figmenta eingerahmt von dem Gutachten eines Regensburger Kartäuser-Mönches über einen vollkommen anderen Fall, der dennoch gewisse Berührungspunkte mit den Wirsbergern aufweist[102]: Die Sache spielt 1466, die Zeit stimmt also überein; Ort des Geschehens ist hier wie auch dort Regensburg. Sonst aber überwiegen die Differenzen: Der bislang noch gar nicht ins Blickfeld der (244) Forschung getretene Fall betrifft einen priestergleich auftretenden, von sieben Männern und sechs Frauen begleiteten Mann namens Heinrich, der Lehren verkündete, die man mit den Begriffen der damaligen Zeit als `freigeistig' charakterisieren könnte (obwohl der Begriff nicht fällt[103]).

Die Umrahmung der Figmenta mit diesem Gutachten des Regensburger Kartäuser-Mönchs wäre in unserem Zusammenhang nun nicht des Aufhebens wert, wenn nicht schon bei dieser Überlieferung Unsicherheit bestünde, wo die genaue Grenze zwischen den Figmenta und den Nachrichten über den `Freigeist' Heinrich zu ziehen wäre. Auf den ersten Blick ist diese Grenze jedenfalls nicht ohne weiteres erkennbar, und das hat bereits Otto Schiff zu unrichtigen Angaben veranlaßt[104]. Man steht aber nahezu hilflos vor der zweiten Artikel-Serie, die sich - wie gesagt - mit jener der Figmenta in eigentümlicher Weise verschränkt und sie doch zugleich ergänzt[105]. Aber ergänzt wird nicht nur sie: Denn nahezu ununterscheidbar vermengt sie sich mit den dem Freigeist Heinrich zugeordneten Irrtümern[106]. Nur sorgfältigste Analyse unter Heranziehung des gesamten heute bekannten Materials hat mir nach langen Überlegungen eine diskutable Scheidung der Bestandteile erlaubt[107]. Ein mittelalterlicher Leser hatte dazu keine Chance. Seinen Augen bot sich ein Monstrum von Häresie dar, das in dieser Gestalt nichts mit den Vorstellungen ihrer Erfinder, aber auch nicht einmal etwas mit jenen ihrer Richter zu tun hatte[108]. Was war diese Häresie dann? Ein Stück fiktiver Wirklichkeit, die aber in ihrer Fiktionalität nicht minder wirklich und somit als Teil der Vorstellung mittelalterlicher Menschen von Häresie nicht minder wirksam war als die angeblich abgebildete Wirklichkeit fiktiv.

 

VII. Ich komme zum Schluß! Wer waren die Wirsberger? Keine in der Wolle gefärbten Joachiten, Anführer einer gefährlich aufrührerischen Sekte. Sie waren vielmehr Stimmen im Chor eines Rufs nach Reform der Kirche, und das meinte: Reform der Welt in all ihren gesellschaftlichen Bezügen, Reform verstanden als Läuterung vor dem drohenden Hintergrund der Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag. Die Wirsberger hatten das persönliche Pech, in einer Region zu leben, die der Schauplatz erbitterter Auseinandersetzungen um den politischen Weg Böhmens unter seinem als Ketzer geschmähten König Georg von Podiebrad war. Joachim von Fiore und dessen Nachfahren konnten für Reformmodelle dieser Zeit in mehr oder minder großem Umfang den ideellen Artikulationsrahmen bereitstellen, lieferten im Falle der Wirsberger aber wohl nicht viel mehr als das eine oder andere Stichwort. Ihr Oeuvre, das wir vornehmlich nur in den Spiegelungen einer von Haus aus verzerrenden Berichterstattung zu erkennen vermögen[109], ist vom sozialen Status ihrer Propagatoren wie von ihrem konkreten Reformbegriff her wohl eher in die Nachbarschaft von Reformschriften wie der Reformatio Sigismundi oder der des Oberrheinischen Revolutionärs zu stellen als in die Nähe der Schriften eines Joachim, Olivi oder Jean de Roquetaillade. Die Wirsberger sind mithin Zeugen für die Lebendigkeit der Ideen Joachims von Fiore in Deutschland noch im 15. Jh., freilich nur in einem eher unbestimmten Sinn. Sie sind aber vor allem Zeugen für die hochgestimmte Sehnsucht nach und der tiefsitzenden Angst vor einem wirklich in die Tiefe gehenden Wandel der Welt.

 

 

Postskript

 

Der vorliegende Aufsatz war abgeschlossen, die darauf beruhende Vortragsfassung in San Giovanni zu Gehör gebracht, als Frau Dr. Ruth Schmolinsky mich darauf aufmerksam machte, daß sich ihrer Kenntnis nach in der ehemals Wallerstein-Öttingen'schen Hs. II, 1 2o 85, heute aufbewahrt in der Universitätsbibliothek Augsburg, die Überlieferung einer Wirsberger-Schrift befinden müsse. Die Nachprüfung erbrachte ein sensationelles Ergebnis: Die genannte Hs. enthält tatsächlich auf den Folien 190r-214r Wirsberger-Materialien, und zwar einen an "<Johannes> von Orient" gerichteten Brief sowie - offensichtlich vom selben Verfasser - ein umfangreiches Sendschreiben an die Stadt Nürnberg. Der Autor ist anonym. Es handelt sich jedoch ohne Frage entweder um Janko von Wirsberg - wie ich nach wie vor geneigt bin anzunehmen - oder um jenen geheimnisvollen `Unbekannten', von dem die Quellen als dem Spiritus rector der Bewegung munkeln (siehe oben S. ###). Die Identifikation dieses Materials als wirsbergisch ist Herrn Dr. Günter Hägele von der Universitätsbibliothek Augsburg zu verdanken, der seinen Fund demnächst im Deutschen Archiv annoncieren wird und mit dem gemeinsam ich eine diese Quelle erschließende Publikation plane.

Der Fund wirft eine Fülle von Problemen auf. Nicht das geringste wird der Versuch einer Klärung der Frage sein, ob es sich hier nicht um Texte aus der Feder eines Autors mit pathologischen Zügen handelt. Die hier sich äußernde eschatologisch gestimmte Erregtheit nimmt jedenfalls derart formsprengende Ausmaße an, daß diese Frage ernsthaft zu prüfen sein wird. Doch was immer die Untersuchungen ergeben werden, eines läßt sich jetzt schon mit Sicherheit sagen: Das oben Darge(246)legte bedarf keiner Revision. Allenfalls könnte sich eine Modifizierung insofern nahelegen, als die Vermutung reformerischer Phantasie, die mich die Wirsberger in die Nähe der Reformatio Sigismundi und des Oberrheinischen Revolutionärs rücken ließ, durch das neue Material nicht bestätigt wird. Freilich wird sie dadurch auch nicht widerlegt, und so möchte ich vorderhand auch an dieser - wie ich hoffe, an den Quellen gezeigt zu haben: nicht unbegründeten -  Annahme festhalten. (246-257 Anmerkungen)



[1]           Herman Haupt, Zur Geschichte des Joachimismus, ZKG 7 (1885) S. 372-425, hier S. 423.

[2]           Heinrich Gradl, Die Irrlehre der Wirsberger, Mittheilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 19 (1880) S. 270-279.

[3]           Haupt (wie Anm. 1) S. 423-425.

[4]           Otto Schiff, Die Wirsberger. Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionären Apokalyptik im 15. Jahrhundert, Historische Vierteljahrschrift 26 (1931) S. 776-786. Neu ist sein Hinweis auf die in der Hs. München, Staatsbibliothek, Clm 18930 fol. 84r-v überlieferten Novellorum hereticorum errores sew figmenta, auf die unten S. 243f. näher einzugehen sein wird.

[5]           Diese Quaestio hat die bezeichnende Fragestellung: Utrum tertius mundi status quem Ioachim abbas ymaginatur et hereticorum conventiculum minatur, catholice venturus astruatur priusquam (Variante: postquam) annus domini millesimus CCCCLXXI compleatur. Ruth Kestenberg-Gladstein, The "Third Reich". A fifteenth-century polemic against Joachism, and its background, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 18 (1955) S. 245-295; ebd. S. 266-282 die mit Hilfe von J.B. Trapp verfertigte Teiledition der Quaestio Dorstens nach den beiden heute bekannten Überlieferungen in den Hss. Gießen, Univ.-Bibl. 696 fol. 216r-218v sowie 25r-32v und Trier, Stadtbibl., Hs. 2064/2252 fol. 61r-76r, unter Heranziehung einer 1486 zu datierenden Erfurter Quaestio determinata contra triplicem errorem, deren anonymer Verfasser von Dorstens Quaestio ausgiebig Gebrauch gemacht hat. Es handelt sich dabei mit großer Sicherheit um den Dorsten-Schüler Johannes von Paltz, unter dessen Werken die Erfurter Quaestio nach den genannten Frühdrucken von Albert Czogalla jetzt kritisch herausgegeben worden ist (wie unten Anm. 93). Zur Diskussion der Quaestio Dorstens eingehend Kestenberg-Gladstein S. 260ff. bes. mit Anm. 169 (Datierung) und 192 (Überlieferung in der Gießener Hs.). Dazu mit weiterführenden Angaben Adolar Zumkeller, Manuskripte von Werken der Autoren des Augustiner-Eremitenordens in mitteleuropäischen Bibliotheken (Cassiciacum 20, Würzburg 1966) S. 225 Nr. 476 (Dorsten) und 257 Nr. 555a (Paltz); siehe auch den Artikel Johannes von Dorsten, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 4 (1983) Sp. 577-580 (Katharina Colberg) sowie Johannes von Paltz, ebd. Sp. 698-706 (Berndt Hamm), dazu unten S. 259-271 die Ausführungen von Paul Zimdars-Swartz.

[6]           Das Denunziationsschreiben Rudolfs von Lavant wurde gleich dreimal gedruckt: Johann George Schelhorn, Acta historico-ecclesiastica saeculi XV. et XVI., Teil 1 (Ulm 1738) S. 66-69 Nr. 10; Ignaz von Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters 2 (München 1890) S. 625f. Nr. 55; Nikolaus Glaßberger, Chronica (Analecta Franciscana 2, Quaracchi 1887) S. 422f. Ebd. S. 423-425 Abdruck der nur in Glaßbergers Chronik überlieferten Liste der vom Regensburger Bischof den Bettelordens-Oberen seiner Stadt vorgelegten wirsbergischen Lehrsätze. Die 1468 verurteilten Glaubenssätze Livins von Wirsberg publizierte Gerhard Ritter, Zur Geschichte des häretischen Pantheismus in Deutschland im 15. Jahrhundert. Mitteilungen aus einer vatikanischen Handschrift, ZKG 43 (1924) S. 150-159, hier S. 158f. - Zu den Quellen und zur Überlieferung vgl. unten S. 243.

[7]           Siehe unten S. 241 mit Anm. 90, S. 244 mit Anm. 105; siehe auch S. 245f.

[8]           Vgl. Heribert Sturm, Districtus Egranus. Eine ursprünglich bayerische Region (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Reihe II Heft 2, München 1981) S. 192.

[9]           Zu dessen Geschichte vgl. Sturm (wie Anm. 8) S. 1ff.; dazu ders., Eger. Geschichte einer Reichsstadt, 2 Bde. (Augsburg 1951/52), hier Bd. 1, S. 20ff. (Karte S. 95).

[10]          Wirsberger saßen in der alten regio Egere zeitweise in Fuchsmühl bei Tirschenreuth (1488-1497), auf Altenteich (1507-1596) und Wildstein (1531-1596) nahe Eger, ein Konrad von Wirsberg ist 1488 als Lehnsmann des Markgrafen von Ansbach-Bayreuth in der Amtsfunktion eines Hauptmanns "auf dem Gebirg" bezeugt, d.h. als Inhaber "eines burggräflich-nürnbergisch bzw. markgräflich-brandenburgisch gewordenen Ämter im ehemals egrischen Fichtelgebirge"; so H. Sturm, Tirschenreuth (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Heft 21, München 1970) S. 195; siehe auch dens., Kemnath (ebd. Heft 40, München 1975) S. 92 (Fuchsmühl); ders., Districtus Egranus S. 192ff. (Altenstein/Wildstein).

[11]          Zu Höflasgut Sturm, Districtus S. 261; zu dessen Sprachform Ernst Schwarz, Die Ortsnamen der Sudetenländer als Geschichtsquelle (Handbuch der sudetendeutschen Kulturgeschichte 1, München 21961) S. 187. Die Daten zu den Wirsbergern im Egerer Raum vgl. K. Siegl (wie unten Anm. 28) S. 100 Anm. 1, sowie bei Frantisek Kubu, Cheb v dobe husitské [mit Resümee: Eger in der Hussitenzeit], in: Soudce smluveny v Chebu. Sborník príspevku prednesenych na symposiu k 550. vyrocí, kveten 1982 Cheb (Olmütz 1983) S. 105-129, hier S. 120f. Ihnen sind drei Eintragungen in der Hs. 2099 des Prager Stadtarchivs vom 26. Juli 1460 sowie vom 9. und 16. März 1462 hinzuzufügen, die Livin von Wirsberg als Gläubiger eines Janko von Mies bezeugen; Archiv cesky 26 (1909) S. 302-304 Nr. 2-4 [ich verdanke Frantisek Smahel den Hinweis darauf].

[12]          Über ihr Alter läßt sich insofern ungefähre Aussagen machen, als ihr Vater, mit Namen (wie der offenbar älteste Sohn) Livin, 1437 August 2 als tot bezeugt ist und in diesem Jahr seine Kinder noch minderjährig waren; vgl. Heinrich Gradl, Die Chroniken der Stadt Eger (Deutsche Chroniken aus Böhmen 3, Prag 1884) S. 28 Nr. 31*. In dem hier in Frage stehenden Zeitraum war also keiner der Brüder älter als 50 und jünger als 30 Jahre; mit ca. 40-45 Jahren - der eine mehr an der oberen, der andere mehr an der unteren Grenze - wird man 1466/69 für alle drei das Alter taxieren dürfen.

[13]          Gradl, ebd. Anm. 3, entscheidet sich trotz mancher Bedenken für Ordenszugehörigkeit Jankos, ebenso Haupt S. 423, anders Schiff S. 778 ("Laie und ohne gelehrte Bildung") und Kestenberg-Gladstein S. 256 mit Anm. 121. In modernen Überblicksdarstellungen wie Karl Hausberger, Geschichte des Bistums Regensburg 1 (Regensburg 1989) S. 218, ist er wieder Minorit. Daß er kein Angehöriger des Franziskanerordens war, läßt sich mit Bestimmtheit dem an Janko gerichteten Brief des Ordensprovinzials der Saxonia, Nikolaus Lackmann, entnehmen (vgl. Gradl S. 272): Die dort gewählte Anrede: In got liber besunder guter freund, kann nicht einem Ordensmitglied gelten, und die Drohung, ihn dem (für Eger zuständigen) Bischof zu denunzieren (und nicht etwa: ihn disziplinarisch in eigener Person oder vor einem Ordenskapitel zu belangen), noch viel weniger. Janko selbst nennt sich in dem einzigen erhaltenen in seinem Namen ausgefertigten Schreiben Jencko von Wirßperg, ohne jeden Zusatz (wie z.B. `frater'), der auf eine Ordenszugehörigkeit schließen ließe.

[14]          So dürfte die von Gradl S. 274f. zitierte und besprochene Stelle im Manifest der Stadt Eger von 1466 August 11 zu deuten sein, Janko sei weder stat noch lannde verwantt.

[15]          Zu diesem seit Beginn des 15. Jh. in der ordenseigenen Propaganda begegnenden Ausdruck vgl. Hartmut Boockmann, Der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte (München 1981) S. 195 und 230 (weiterführende Hinweise S. 282 unter Nr. 113).

[16]          Von ihm ist zuletzt in dem Vorladungsschreiben des Regensburger Bischofs Heinrich von Absberg vom 5. Dezember 1466 die Rede; Gradl S. 277.

[17]          Zu den Druckorten des Briefes oben Anm. 6; zur Überlieferung unten S. 243 mit Anm. 95. Zur Biographie Rudolfs von Rüdesheim - Typus des gelehrten geistlichen Rats `bürgerlicher' Herkunft, der Karriere im Fürstendienst machte und von dort geistliche Spitzenpositionen errang (1460: Propst des Stiftes St. Viktor in Mainz, 1463 Bischof von Lavant, 1465 päpstlicher Legat, 1468 Bischof von Breslau, + 1482) vgl. bislang Ludwig Petry, Rudolf von Rüdesheim, Bischof von Lavant und Breslau. Ein Forschungsanliegen der vergleichenden Landesgeschichte, MIÖG 78 (1970) S. 347-357; ders., Das erste Jahr der Breslauer Legation Rudolfs von Rüdesheim 1465/66, in: Beiträge zur schlesischen Kirchengeschichte. Gedenkschrift für Kurt Engelbert (Köln-Wien 1969) S. 255-265 [beide Aufsätze sind benutzt im Nachdruck: Ludwig Petry, Dem Osten zugewandt. Gesammelte Aufsätze zur schlesischen und ostdeutschen Geschichte. Festgabe zum 75. Geburtstag (Sigmaringen 1983) S. 263-273 und 274-284]. Zuletzt mit Hinweisen auf die einschlägige polnische Literatur Jan Drabina, Dzialanosc dyplomatyczna legata apostolskiego Rudolfa z Rüdesheim na Slasku, [deutsche Zus.: Diplomatische Tätigkeit des päpstlichen Legaten Rudolf von Rüdesheim in Schlesien], in: Acta Universitatis Wratislaviensis Nr. 195, Historia 23 (Breslau 1974) S. 205-229. - Wie Petry zu Recht bemerkt, verdiente Rudolf eine monographische Behandlung. Dabei würde wohl auch der von ihm gegen die Wirsberger entfachten Kampagne Aufmerksamkeit geschenkt werden müssen, die als Teil seiner `diplomatischen Tätigkeit' bislang ganz unbeachtet blieb.

[18]          Er ist in dieser Position von 1456 bis 1468 bezeugt; vgl. Ferdinand Janner, Geschichte der Bischöfe von Regensburg 3 (Regensburg 1886) S. 528.

[19]          Zum Vorgang und zum Text der Artikel Glaßberger, Chronica S. 423-425. Schiff S. 780 mit Anm. 12 spricht von "Verhör" und daß die Ordensmänner "jede Schuld bestritten"; dabei kann er sich auf Glaßberger S. 425 stützen, der behauptet, die `Prälaten' der Regensburger Bettelorden, omnes irreformati, hätten zu ihrer Entschuldigung den Häresieverdacht auf den Egerer Konvent der observant gewordenen Franziskaner gelenkt. Das kann nicht gut stimmen. Denn die Sitzung vom 12. Juli 1466 kann in dem mit der Denunziation anlaufenden kanonischen Prozeßverfahren nur die Aufgabe gehabt haben, die eingegangenen Vorwürfe auf ihr rechtliches Gewicht hin zu überprüfen; die Regensburger Bettelordensoberen fungierten daher als Gutachter im Häresieprozeß während der Ermittlungsphase und saßen in keiner Weise auf irgendeiner Anklagebank, so daß sie es nötig gehabt hätten, einen gegen sie erhobenen Verdacht auf andere zu lenken. Ein solcher Verdacht wäre geradezu absurd gewesen: Rudolfs Denunziationsschreiben erhob ihn nicht, die Regensburger waren fern vom Schuß, zudem Konventuale, und der das bischöfliche Verfahren konkret leitende Weihbischof Ulrich Aumayr war selbst Franziskaner. Glaßbergers Bericht ist daher am besten zu verstehen, wenn man ihn umdreht: Weil die Regensburger Bettelordensgeistlichen die Egerer Franziskaner in Verdacht gebracht haben, schmäht der Chronist sie als die eigentlich Schuldigen.

[20]          Zu den Auseinandersetzungen im Zuge der Einführung der Observanz in der Franziskaner-Provinz Sachsen, zu der Eger gehörte, vgl. Ferdinand Doelle, Die Observanzbewegung in der sächsischen Franziskanerprovinz (Mittel- und Ostdeutschland) bis zum Generalkapitel von Parma 1529 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 30/31, Münster i. W. 1918); dort S. 23ff. die Daten zu Eger.

[21]          Der den Ruf des Egerer Franziskanerkonvents wiederherstellende Brief Rudolfs von Rüdesheim vom 28. August 1466, überliefert bei Glaßberger S. 425f., bezieht sich nur auf Gerüchte angeblich unklarer Herkunft, er habe die Stadt Eger und dessen observanten Franziskanerkonvent dem Regensburger Bischof im Zusammenhang mit dem Fall der Wirsberger namentlich als häresieverdächtig denunziert; davon, sagt der Bischof, könne keine Rede sein. Das würde bedeuten, daß weder ordensintern noch von seiten des Regensburger Bischofs eine förmliche Aufforderung an den Egerer Franziskanerkonvent erging, sich zu rechtfertigen. Wir werden sehen, daß es lange Zeit auch kein förmliches Vorladungsschreiben an die unstreitig betroffenen Wirsberger-Brüder gab; ein bei einem Ketzer-Inquisitionsverfahren ziemlich ungewöhnlicher und von Livin zu Recht gerügter Vorgang.

[22]          Siehe die vorige Anmerkung.

[23]          Melker Annalen ad a. 1466, ed. Wilhelm Wattenbach, MGH SS 9 (1851) S. 521 [Zeitstellung für diesen Abschnitt: vor 1481]: ... in civitate dicta Egra orta est heresis pessima et stultissima ex ordine fratrum minorum, id est sancti Francisci, qui dicti sunt de observancia... Basler Chroniken Bd. 5, ed. August Bernoulli (Leipzig 1895) S. 439 zu 1466 [Nachtragsteil der Jahresberichte 1465-1473 zur Chronik des Heinrich von Beinheim (+ 1460)]: Anno 1466 was ufferstanden ein ketzerey by Behem, und sunderlich in der stat Egra unde den armen Barfuossen. Das böse Gerücht nehmen Gradl und Haupt, die Janko für einen Franziskaner halten, nicht weniger ernst als Schiff und Kestenberg-Gladstein, die ihm die Zugehörigkeit zum Franziskaner-Orden absprachen; siehe unten Anm. 53. In manchen modernen Überblicksdarstellungen (z.B. H. Sturm, Eger [wie Anm. 9] Bd. 1, 111; 2, 221) neigt man dazu, in den Franziskaner-Observanten Egers überhaupt die eigentlichen Verursacher der Wirsberger-Häresie zu sehen. Inwieweit das tatsächlich zutreffen könnte, siehe unten S. ###. Zwischen einer hypothetischen Möglichkeit und einer historischen Tatsache besteht aber auch dann immer noch ein gewisser Unterschied.

[24]          pannicida; das ist kein "Tuchhändler" (Schiff S. 779).

[25]          Schönbachs - beginnend anscheinend mit jenem Hans - figurieren seit 1440 unter den Egerer Patrizier-Geschlechtern; siehe Gradl, Chroniken (wie Anm. 12) S. 62 Nr. 101, S. 417 Nr. 1274; 1481-1489 scheint unser Hans Schönbach Mitglied des äußeren Rates gewesen zu sein.

[26]          Zur staatsrechtlichen Beziehung Egers zu Böhmen seit seiner Verpfändung an König Johann von Luxemburg siehe H. Sturm, Eger Bd. 1, S. 103ff.

[27]          Zu Egers Neutralitätskurs vgl. H. Sturm, Eger Bd. 1, S. 110ff., sowie Frederick G. Heymann, George of Bohemia, King of Heretics (Princeton, N.J. 1965) S. 448 mit Anm. 21.

[28]          Zu all diesen Schriftstücken Gradl S. 274ff. und vor allem Karl Siegl, Zeugnisse für die Rechtgläubigkeit der Stadt Eger vor Verhängung des Interdikts im J. 1467, Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 42 (1904) S. 393-420, mit Abdruck bzw. umfangreichen Auszügen der einschlägigen Schriftstücke S. 403-417. - Das die Initiativen Egers auslösende Element scheinen Verhandlungen gewesen zu sein, die der Doctor decretorum Johann Goldner, Domkanoniker und damals auch schon Generalvikar (vgl. Janner [wie Anm. 18] Bd. 3, S. 535, 562 Anm. 3, 588), im Auftrag des Regensburger Bischofs wohl Anfang August 1466 in Eger mit dem Rat der Stadt führte, den heiligen cristenlichen glauben hoch berurend (so der die Verhandlungen ankündigende Brief Bischof Heinrichs von Regensburg vom 31. Juli 1466); vgl. Siegl S. 402. Daß dabei, wenn auch vielleicht nicht ausschließlich, die Wirsberger-Angelegenheit zur Sprache kam, darf als sicher gelten. Denn unmittelbar danach, am 11. August 1466, setzt die Flut der Rechtfertigungsschreiben Egers ein.

[29]          Schreiben Egers vom 12. September 1466, Gradl S. 276.

[30]          Er scheint sich deswegen direkt an den Hof des Königs nach Prag begeben zu haben, Gradl S. 276.

[31]          Brief Georgs von Podiebrad an Eger vom 17. September 1466, Gradl S. 276.

[32]          Dies berichtet Livin selbst in einem Beschwerdebrief an die Stadt Eger vom 8. Dezember 1466, Gradl S. 277: ...wi ich ewre stat meyden sal etc.

[33]          Brief Georgs von Podiebrad an Eger, Gradl S. 278.

[34]          Heymann S. 445.

[35]          Zur Rolle Breslaus in diesem Kampf Alfred A. Strnad, Die Breslauer Bürgerschaft und das Königtum Georg Podebrads, Zs. für Ostforschung 14 (1965) S. 401-435, 601-640.

[36]          Das erfahren wir aus Bischof Heinrichs von Absberg Schreiben an Markgraf Albrecht Achilles von Ansbach-Bayreuth vom 12. Mai 1469, ed. C. T. Gemeiner, Regensburgische Chronik 3 (Regensburg 1821) S. 452. - Heinrich von Absberg war nach dem Ableben seines als bloßen Administrators fungierenden Vorgängers, des jugendlichen Wittelsbacher-Prinzen Pfalzgraf Ruprecht von Neumarkt-Mosbach (1457-1465), am 10. Oktober 1465 erst am 3. November dieses Jahres zum Bischof gewählt worden (päpstliche Bestätigung: 3. Januar 1466; Weihe 25. November 1466; Belehnung: 18. März 1467; er ist also über einen ziemlich langen Zeitraum hinweg als Amtsperson nur bedingt handlungsfähig gewesen).

[37]          Gradl S. 277. Zuvor waren die Wirsberger nur in allgemeiner Form öffentlich mit dem gegen sie bestehenden Häresievorwurf konfrontiert worden, und zwar anscheinend sogar nur indirekt mittels der durch den Regensburger Generalvikar Johann Goldner erfolgten Unterrichtung Egers Anfang August 1466. Hierauf dürfte sich Livins Bemerkung in einem auf den 20. August 1466 datierten Begleitschreiben zu dem an Eger übersandten Exemplar seines öffentlichen Rechtfertigungsschreibens vom 17. August beziehen, er reagiere von des gerufftes wegen, als der pischoff auf mich aüfgeprayt mit etlich den seinen hat (Eger, Stadtarchiv, Fasc. 460; Gradl hat dieses Stück gekannt, aber nicht notiert). Dies ist das erste Zeugnis einer Reaktion Livins auf den Regensburger Prozeß.

[38]          Das muß vor Bischof Heinrichs Brief an Eger vom 5. September 1466 geschehen sein, in welchem der Bischof die erfolgte Absolution von Hans Schönbach mitteilt; Gradl S. 475f.

[39]          Carl Theodor Gemeiner, Regensburgische Chronik 3 (Regensburg 1821) S. 413f. Anm. 781 mit Berufung auf einen Eintrag im Regensburger Ratsprotokoll, Livin sei "wegen seiner verirrten Sekte um Pfingsten zu Verhören nach Regensburg getaget worden". Das bedeutet wohl nicht, daß das Ladungsschreiben "um Pfingsten" erging, sondern daß Livin zu diesem Termin in Regensburg hätte erscheinen sollen; es ist daher möglich, daß es gar kein zweites Ladungsschreiben gab, sondern sich der Pfingsttermin bereits im Vorladungsschreiben vom 5. Dezember 1466 fand, von dem wir nur durch ein Begleitschreiben für den Boten an den Egerer Rat Kenntnis haben, in welchem sich naturgemäß keine näheren Angaben zum Inhalt des Schriftstücks finden.

[40]          Quellen: Matthias von Kemnath, Chronik Pfalzgraf Friedrichs I., ed. C. Hofmann (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte 2, München 1862) S. 111: Liuin wart zu Kemnat gefangen und gene Regensburg geantwortt; die sog. Excerpta Saxonica, Misnica et Thuringiaca ex monachi Pirnensis seu, vero nomine, Johannis Lindneri sivi Tillani onomastico autographo, ed. I. B. Mencken, Scriptores rerum Germanicarum praecipue Saxonicarum 2 (Leipzig 1728) Sp. 1521: ... wart von Kempnith vnderm phalczgrafen kegen Regensburg gefancklich bracht; Brief Bischof Heinrichs von Regensburg vom 12. Juni 1469 an Markgraf Albrecht Achilles von Ansbach-Bayreuth: ... der Hochgeborn Fürst unser gn. Herr Pfalzgraf ihn als unglaubigen beheimen und uns als seinem Bischof und Obersten überantworten hat lassen. - Der mit Namen im dunkeln bleibende Pfalzgraf dürfte wohl eher Friedrich I. gewesen sein als Otto II. von Mosbach, doch besteht darüber keine einhellige Meinung in der Forschung; die Argumente bei Schiff S. 782 Anm. 15.

[41]          Zum Datum Schiff S. 782 mit Anm. 15. Einziges Zeugnis ist der chronologisch reichlich unklare Bericht in der bis 1519 reichenden sog. Anonymi farrago historica, ed. A. F. Oefele, Rerum Boicarum scriptores 2 (Augsburg 1763) S. 515. Der Anonymus stellt das Ereignis zum Jahr 1466 und läßt es dort im Monat März am Sonntag infra Octavam Epiphaniae geschehen. Die Jahresangabe müßte nicht unbedingt irritieren, denn zu 1466 stellen andere Chronisten die Wirsberger-Sache ebenfalls, d.h. sie subsumieren nach gängiger annalistischer Praxis einen zeitlich gestreckten Vorgang unter dessen Anfangsjahr; vgl. Matthias von Kemnath (wie Anm. 40), ebenso Laurentius Hochwart, Episcoporum Ratisponensium catalogus III, ed. A. F. Oefele, Rerum Boicarum scriptores 1 (Augsburg 1763) S. 223. Ein Fehler hingegen liegt fraglos entweder bei der Monats- oder bei der Tagesangabe vor; ich folge Schiff in der Übernahme der Tagesangabe, die aber eben auf 1468 (und nicht auf 1466) zu beziehen und folglich wie oben angegeben aufzulösen ist (Schiff: 6. Januar). Die Alternative könnte sein, das März-Datum auf den Zeitpunkt der Verurteilung zu beziehen und den Sonntag in der Epiphanie-Oktav mit Livins Todestag in Verbindung zu bringen. Das wäre dann der 8. Januar 1469, ein Datum, das gut mit dem Brief Vincenz' von Wirsberg harmonieren würde, der uns am 22. Januar 1469 Kunde von Livins Tod gibt; Gradl S. 278f.

[42]          Zum Haftort am bestimmtesten die Anonymi farrago (in carcere turris Hohenburg Norici) und, fast gleichlautend, Hochwart. Zum Todesdatum siehe die vorige Anmerkung.

[43]          Zum Folgenden vgl. Heymann S. 454ff. sowie Otakar Odlozilík, The Hussite King. Bohemia in European Affairs, 1440-1471 (New Brunswick, N.J. 1965) S. 190ff.

[44]          Gradl S. 274.

[45]          Siehe oben Anm. 40.

[46]          Vgl. etwa Johannes Staindl, Chronicon generale, ed. A.F. Oefele, Rerum Boicarum Scriptores 1 (Augsburg 1763) S. 538: Lewinus Wirsperger Haereticus Hussita captus ...

[47]          Brief Jobsts von Einsiedel an den Egerer Patrizier und damaligen Bürgermeister seiner Vaterstadt, Caspar Juncker von Seeberg, der jenem mit der Bitte um Beurteilung eine Wirsberger-Schrift zugesandt hatte, vom 17. September 1466, ed. Franz Kürschner, Jobst von Einsiedel und seine Correspondenz mit der Stadt Eger aus dem Archive der Stadt Eger, Archiv für österreichische Geschichte 39 (1868) S. 245-292, hier S. 281f.; zu den Junckers - einem der führenden Egerer Geschlechter - und speziell zu Caspar Junckers Bürgermeister-Position vgl. H. Gradl, Chroniken (wie Anm. 12) S. 396ff. Nr. 1225 sowie H. Sturm, Eger Bd. 2, S. 389. - Zum chiliastischen Flügel der Taboriten und seinem Ende vgl. etwa Howard Kaminsky, A History of the Hussite Revolution (Berkeley - Los Angeles 1967) S. 336ff. und 418ff., sowie jetzt Frantisek Smahel u.a., Dejiny Tábora 1, 1: Do roku 1421 (o.O. 1988) S. 282ff. und 287ff. Zur Bedeutung der sog. Pikarden siehe Robert Lerner, The Heresy of the Free Spirit in the Later Middle Ages (Berkeley-Los Angeles 1972) S. 119ff.

[48]          Hier und zum Folgenden grundlegend sind Livins Brief an die Stadt Eger vom 17. August 1466 sowie sein undatiertes, vermutlich zeitgleiches Manifest an die Christenheit; Gradl S. 273, 274. - Sprechend für den Tenor der von ihnen verbreiteten Schriften ist das Incipit "Voce terroris" eines ihrer Werke, belegt in einem Postskript zu Rudolfs von Rüdesheim Denunziationsschreiben in der Hs. Paris, BN lat. 5178 fol. 54r; vgl. Döllinger, Sektengeschichte 2, 626. - Ich danke meinem Monumenta-Kollegen Herbert Schneider für die Überprüfung dieser Angabe.

[49]          Gradl S. 278f.

[50]          Livin an Eger, 15. August 1466 (Gradl S. 274): ... und der selbig der ausschreybt gibt in der heyligen schrifft mancherley für, wy er solchs von gotes offenbarung hab, mit anczeigung czu erkennen; das klingt ganz so, als sei das ein ganz anderer als Janko, dessen Lehren Livin zuvor resümiert hatte. Weiter: darczu so pin ich sofil untericht, das er (= Janko) der ding nicht erdacht hat, ner sofil, das er darczu angeczegen und ersucht worden ist in mos als da czu lanck wer, das er dy sach an redlich ent bringe.

[51]          Jobst (wie Anm. 47) S. 283.

[52]          Siehe unten S. 239f.

[53]          Schiff S. 778, 781; Kestenberg-Gladstein S. 256. Schiff hält Jobsts entlaufenen Mönch für den Autor der Schriften und den von den Wirsbergern verkündeten `Messias', Kestenberg-Gladstein weiß es noch genauer: sie läßt ihn "wahrscheinlich" aus dem Egerer Franziskanerkonvent entsprungen sein. An dieser quellenanalytisch halsbrecherischen Verbindung ist Schiff nicht ganz unschuldig, denn mit dem Hinweis auf die wohl tatsächlich anzunehmende Verbindung Jankos zu den Egerer Franziskanern und auf die Behauptung der Melker Annalen sowie der Basler Chroniken, für die Wirsberger-Ketzerei sei der oberservante Egerer Franziskanerkonvent die Brutstätte gewesen (vgl. das Zitat oben Anm. 23), insinuiert er in der Tat Kestenberg-Gladsteins Kombination. Anders noch Gradl, der von Jankos Schriften sprach, als sei jener deren Autor. - Ausgesprochen oder unausgesprochen liegt allen Überlegungen zu Jankos Stand, Bildung und Autorschaft die - von Jobst von Einsiedel vermeintlich bestätigte - Vorstellung zugrunde, ein kleiner Adliger im Laienstande sei zu ungebildet gewesen, als daß er derartige Werke hätte verfassen können. Generell würde eine solche Unterstellung in Deutschland noch für das 13. Jh. zutreffen, mit fortschreitender Zeit stimmte sie schon für das 14. Jh. kaum noch, und für das 15. Jh. - der Hoch-Zeit der gelehrten Räte im Laienstand! - wäre sie schlicht abwegig.

 

             Im übrigen ist die mangelhafte Lateinkenntnis des Autors der Johannes von Dorsten vorliegenden - notabene volkssprachlichen! - Schrift(en) notorisch, wie eine Randglosse der Gießener Hs. 696 fol. 26v belegt (Kestenberg-Gladstein S. 275; ich verbessere meist stillschweigend ihren Text): Verissime sic facit hic auctor erroris novi, qui ex veteri et novo testamento adducit auctoritates quas in vulgari exponit ad propositum suum, licet eas non intelligat. Unde illud Ieremie (1, 14): "Ab Aquilone pandetur malum", exponit sic: "Von dem Adler wrt komen all argk", non faciens differentiam inter aquilonem et aquilam; per aquilam autem vulgariter (Kestenberg-Gladstein: ait Wr. [= Wirsberger!]) intelligitur Romanum imperium. Wer also mit dem Argument höherer Bildung für die Verfasserfrage operiert, müßte sich durch dieses Zeugnis widerlegt sehen.

[54]          Brief Jankos vom 27. Juli 1466, Livins Manifest; Gradl S. 273.

[55]          Artikel-Serie der Hs. Wien, cvp 4764, Nr. 8: Item articuli huius heresiarche dicuntur esse presentati pluribus universitatibus Erfordernsis, Lipcensis, et Wyennensis, ymmo eciam imperatori. Für Erfurt ist die Quaestio Dorstens der Beleg für die Richtigkeit dieser Angabe.

[56]          Brief Jankos vom 27. Juli 1466, Gradl S. 273; oben Anm. 55. Dorsten beruft sich wiederholt auf ein `scriptum' bzw. `registrum', missum per eos ad Cesarem (den Kestenberg-Gladstein S. 290 Anm. 121 irrig mit Georg von Podiebrad identifiziert).

[57]          Brief Jankos an Eger vom 27. Juli 1466, Gradl S. 273.

[58]          Zu ihm Leonhard Lemmens, Die Provinzialminister der alten sächsischen Provinz, in: Beiträge zur Geschichte der sächsischen Franziskanerprovinz vom Heiligen Kreuze 2 (1909) S. 1-12, hier S. 8, sowie vor allem Ludger Meier, De schola Franciscana Erfordiensi saeculi XV, Antonianum 5 (1930), bes. S. 157-202.

[59]          Gradl S. 272.

[60]          Siehe oben S. 225 mit Anm. 5.

[61]          Kestenberg-Gladstein S. 274ff.

[62]          Ich verzichte im folgenden auf Einzelbelege und verweise auf die von mir geplante kritische Ausgabe der relevanten Quellen. Das meiste auch bei Glaßberger, Chronik S. 422ff.

[63]          So die von Glaßberger überlieferte Regensburger Artikel-Serie (S. 424 [Nr. 12]); vgl. Dorsten, ed. Kestenberg-Gladstein S. 276f. Nr. 7.

[64]          So Dorsten, Artikel Nr. 2.

[65]          ... et regnabit super totum mundum sicut Caesar imperator et deus; Glaßberger S. 423. Figmenta Nr. 1 (wie unten Anm. 99): Hic regnabit pro imperatore similis filio hominis a deo missus.

[66]          Et est quidam, qui se appellat Iohannem de Oriente, qui debet esse precursor illius Uncti. Presumitur, quod dictus Iohannes de Wirßperck sit ille.

[67]          A. Patschovsky, Eresie escatologiche tardomedievali nel "Regnum Teutonicum", in: L'attesa della fine dei tempi nel Medioevo, a cura di Ovidio Capitani e Jürgen Miethke (Annali dell'Istituto storico italo-germanico, Quaderno 28, Bologna 1990) S. 221-244.

[68]          Er begegnet nach meiner Kenntnis erstmals bei Jean de Roquetaillade unter der Bezeichnung `reparator'; vgl. Patschovsky (wie Anm. 67) S. 229f.

[69]          Vgl. etwa die Artikelserie bei Glaßberger S. 424 (Nr. 11); Dorsten, ed. Kestenberg-Gladstein S. 275 Nr. 5.

[70]          Vgl. etwa Lorenz von Brezova, Hussitische Chronik, ed. J. Emler, Fontes rerum Bohemicarum 5 (Prag 1893) S. 412f.

[71]          Vgl. A. Patschovsky, Ekklesiologie bei Hus, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von H. Boockmann, B. Moeller, K. Stackmann (Abh. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philol.-hist. Kl., 3. Folge 179, Göttingen 1989) S. 370-399, hier S. 394ff.

[72]          So etwa bei Friedrich von Braunschweig und Nikolaus von Buldesdorf, siehe oben S. 236 mit Anm. 67. Das sind aber nur die markantesten Fälle. Dazu (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) eine kleine Auswahl der weniger bekannten:

-           Im Zusammenhang mit Dorstens Quaestio wird ein Franziskaner Johannes de Castro Coronato namhaft gemacht, gesandt vom König von Zypern, um Geld gegen die Türken im Abendlande locker zu machen, der, in Erfurt ergriffen und der erzbischöflichen Kurie nach Mainz gefangen überstellt, dort als Ketzer verurteilt und hingerichtet wurde; vgl. Kestenberg-Gladstein S. 264 und 278 mit Anm. 205-208.

-           Im selben Zusammenhang findet sich als Randglosse der Gießener Hs. 696 fol. 216r die Notiz: Nota questionem istam composuit doct(or) Io(hannes) Dorsten et dedit cuidam lectori, qui hereticum convincit coram imperatore Federico III ex ea; et fuit combustus hereticus, lector factus episcopus. Vgl. Kestenberg-Gladstein S. 267. Näheres über den Fall scheint sonst nicht bekannt zu sein, auch ist der Lektor noch nicht identifiziert. A. Czogalla (wie Anm. 93) S. 101 Anm. 353 scheint den Fall mit jenem Livins von Wirsberg gleichzusetzen; einer solchen Auffassung könnte ich mich nicht anschließen.

-           Robert Lerner machte mich auf den 1389 verfaßten Traktat des im kanonischen Recht wohlbewanderten Franziskaner-Lektors Dietrich von Arnevelde aufmerksam, überliefert in der Hs. Ba 5 fol. 21ra-61vb der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek in Paderborn. Der Traktat hat die bezeichnende Überschrift: Incipit `Silencium' contra prophetias prophetarum Saxonie de futuris contingentibus, de novo Christo, de vita et obitu Antichristi, de conversione Iudeorum et gentilium et multis aliis eveniendis. Darin ist in Anspielung auf die jüdische Messias-Vorstellung von `fabulae Iudaeorum' die Rede sowie von deliramentis fratris Iohannis de Rupescissa et Heleri et quorundam aliorum. Jean de Roquetaillade ist eine Schlüsselfigur der chiliastisch getönten Literatur, ein Mann namens Heller aber trat bislang quellenmäßig nirgendwo in Erscheinung. Unter den `alii' vermutet Lerner wohl zu Recht auch jemanden wie Friedrich von Braunschweig; aber der Plural wird ernstzunehmen sein.

[73]          Dies bemühe ich micht in dem Anm. 67 zitierten Aufsatz nachzuweisen.

[74]          4. Esdr. 16, 53.

[75]          Reformation Kaiser Siegmunds, ed. Heinrich Koller, MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters 6 (Stuttgart 1964) S. 326ff., 332ff.

[76]          Ich zitiere nach der mangelhaften Ausgabe von Annelore Franke/Gerhard Zschäbitz (Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter Reihe A Bd. 4, Berlin 1967) S. 374ff., 495. Vgl. zur Sache Klaus H. Lauterbach, Geschichtsverständnis, Zeitdidaxe und Reformgedanke an der Wende zum 16. Jh. Das oberrheinische "Buchli der hundert capiteln" im Kontext des spätmittelalterlichen Reformbiblizismus (München 1985), bes. S. 198ff. mit Ausführungen zum Chiliasmus des Werkes, die sich in vielem mit dem oben Gesagten berühren. Der Verfasser bereitet eine kritische Edition des Werkes im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica vor.

[77]          Die einzelnen Elemente dieses Satzes lassen sich Punkt für Punkt in den den Wirsbergern zugeschriebenen Glaubenslehren auffinden.

[78]          Vgl. die Einleitung zur Edition Kollers, S. 33ff.; dazu Hartmut Boockmann, Zu den Wirkungen der "Reform Kaiser Siegmunds", DA 35 (1979) S. 514-541, hier bes. S. 516 mit Anm. 7.

[79]          Die Identifikationsversuche bei Koller S. 8; siehe auch Tilman Struve, Reform oder Revolution? Das Ringen um eine Neuordnung in Reich und Kirche im Lichte der "Reformatio Sigismundi" und ihrer Überlieferung, ZGORh 126 (1978) S. 73-129, hier S. 74f. mit Anm. 5.

[80]          Lauterbach (wie Anm. 76) S. 284ff. Dazu ders., Der "Oberrheinische Revolutionär" und Mathias Wurm von Geudertheim. Neue Untersuchungen zur Verfasserfrage, DA 45 (1989) S. 109-172.

[81]          Für die Reformatio Sigismundi hat Koller S. 4ff. das Jahr 1439 als Datum und das Basel der Konzilszeit als Ort der Fertigstellung bestimmen können. Der Verfasser bleibt, ihm zufolge, "in der Masse der auf dem Basler Konzil anwesenden Männer, besonders etwa der Juristen, Kanzleibeamten und Schreiber verborgen" (S. 7). Nicht einmal die Frage, ob der Verfasser Kleriker oder Laie gewesen sei, lasse sich klären (S. 8).

[82]          Das bedeutet keineswegs, daß die Wirsberger ähnlich den Taboriten Gewaltanwendung gepredigt oder in eigener Person geplant hätten, wie Schiff S. 784f. meint. Daß der Umbruch zur neuen Welt gewaltsam vor sich gehe, war selbstverständlich ihre Grundüberzeugung - aber das Zeichen dazu würden nicht sie, sondern der Unctus Salvatoris geben. Ihre Mission sollte expressis verbis friedlich sein: ... sequaces illius secte  non debent contendere cum contradicentibus. Unde dicunt: Quicumque noluerint recipere fidem, dimittatur in suo errore (Glaßberger S. 425 [Nr. 23]; ähnlich die Figmenta Nr. 29 sowie das Postskript zum Denunziationsschreiben Rudolfs von Rüdesheim in der Hs. Paris, BN lat. 5178, ed. Döllinger, Sektengeschichte 2, 626). Das hört sich sehr viel anders an als bei den Taboriten.

[83]          Vgl. Glaßberger S. 425 (Nr. 27): Quod principes et prelati in brevi interficientur, dicentes quod principes conducunt milites in bellum quibus postea negabunt stipendia; qui insurgentes invadent pricipes et interficient; qui sic interfecti insepulti manebunt (vgl. Apoc. 11, 7-10 über das Schicksal der traditionell auf Elias und Henoch gedeuteten Blutzeugen).

[84]          Gradl S. 278; Figmenta Nr. 11: Omnis nobilitas revertetur ad civitates.

[85]          Darunter verstehe ich die städtische Führungsschicht auch unterhalb der Stadtadelsebene im engeren Sinn.

[86]          Vgl. dazu Heymann S. 393f., Odlozilík S. 166; der Text des tschechischsprachigen Dokuments findet sich überliefert im sog. `Handbuch' (`Manualník') des jüngeren Wenzel Koranda, hg. von Josef Truhlár, Manualník M. Vácslava Korandy (Prag 1888), hier S. 203-205 Nr. 58; eine deutsche Übersetzung bei Franz Palacky, Geschichte von Böhmen 4, 2 (Prag 1860) S. 340-342.

[87]          Daß mit dem in diesen Reformschriften als politische Trägerschicht der neuen Ordnung beschworenen `gemeinen Mann' bzw. den `Kleinen' keineswegs die wirklichen Unterschichten gemeint gewesen sind, sondern die kleinen Herrschaftsträger als der politische populus minutus sozusagen, betont zu Recht Franz Irsigler, Die "Kleinen" in der sogenannten Reformatio Sigismundi, Saeculum 27 (1976) S. 248-255.

[88]          Eine Einordnung in sozialrevolutionäre Strömungen von den Taboriten bis zum Pauker von Niklashausen versucht auch Schiff S. 785f., aber das von ihm entworfene melodramatische Bild ist eher verworren als in sich schlüssig, beruht insbesondere im Gewaltmotiv auf falschen Prämissen.

[89]          Artikel-Serie der Hs. Wien, cvp 4764 Nr. 7: Item illius secte sunt viri notabiles: nobiles, milites et alii, et fuit quidam episcopus. Utinam salubriter persolvisset debitum generale humane nature sive universe carnis!

[90]          Articuli heretice pravitatis, que noviter suborta est anno domini MoCCCCoLXVIo, et nobiles et ignobiles in magno numero, civitates insuper et terras multas in heresim duxerunt. Quos articulos dominus Rodolphus episcopus Lauentinus (= Rudolf von Rüdesheim) scripsit ad Magunciam domino abbati sancti Iacobi. So die Überschrift der Hs. Trier, Stadtbibl., 1207/505 fol. 43r, die sich zwar auf eine Kurzfasssung der unten S. ### bezüglich ihres Zusammenhangs mit den Wirsbergern noch zu besprechenden Ketzerartikel des `Freigeists' Heinrich bezieht, die aber gerade im Punkte der Gefährlichkeit der annoncierten Sekte einen Reflex auf die Wirsberger-Häresie, um nicht zu sagen: Wirsberger-Hysterie, darstellt und zugleich ein Zeugnis ist für die von Rudolf von Lavant entfaltete Propaganda-Tätigkeit.

[91]          Rudolf von Lavant an die Egerer Franziskaner, Glaßberger S. 426: qui quoque (die Wirsberger), ut referebat (der adlige Denunziant), se plurimos et principes seculares et prelatos ecclesiasticos atque personas religiosas, potissimum in ordinibus Mendicantium, ... sue impietatis participes et consectatores habere gloriantur. Das ist zwar eine parteiische Quelle, aber auch Jankos Worte: dergleich mer den eyn hoch gelarter und geistlicher in grossen Colegia ..., dopey ich ... personlich gewest pyn ... an mich pegert das ich dy sach an dy hohen haubet prengen sul (Gradl S. 273), lassen Renommiergehabe ahnen. In diesem Sinne möchte ich auch einen etwas enigmatischen Artikel der Figmenta deuten (Nr. 20): Ubi requiri debet iste Unctus queratur Gurcensis, Maydburgensis, Schawmburgensis. Schiff S. 780 Anm. 11: "Sie glauben also, daß der Bischof von Gurk, die Grafen von Maidberg und Schaunberg - sämtlich österreichische Herren - ihre Anhänger seien". Daß mit Gurcensis der Bischof von Gurk gemeint ist, glaube ich auch; die anderen Identifikationen aber erscheinen mir fragwürdig. Denn Maydburgensis wird üblicherweise mit Magdeburg aufgelöst, und mit Schawmburgensis könnte man auch an den damaligen Bischof von Bamberg, Georg von Schaumberg, denken. Drei Bischöfe - das könnte eine Sequenz "hoher Häupter" sein, wie sie Janko als Auditorium vorgeschwebt haben mag. Die Frage bedarf jedenfalls noch weiterer Prüfung.

[92]          Rudolf von Lavant, Denunziationsschreiben vom 11. Juni 1466 (vgl. Glaßberger S. 422, gerade hier sehr fehlerhaft): Audivi a quodam magno nobili, quod dictus Leuinus confessus ei fuerit, quod tanta sit multitudo in huiusmodi secta in diversis partibus Alemannie, quod si simul omnes essent constituti, possent resistere cuicumque magno principi. Dazu zu stellen ist die ähnlich klingende Aussage der Hs. Wien, cvp 4764 fol. 192v (Artikel Nr. 2): ... quod si collecti essent, expugnarent fortissimum principem Wauarie (= Bayern). Zur textkritischen Problematik gerade dieses Artikels, durch den mitten hindurch die Trennlinie zwischen Lehrsätzen des `Freigeists' Heinrich und der Wirsberger verläuft, unten S. 244.

[93]          Johannes von Paltz, Quaestio determinata contra triplicem errorem, hg. von Albert Czogalla, in: Johannes von Paltz, Werke, Bd. 3: Opuscula (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen, hg. von Heiko A. Oberman, Bd. 4, 1989) S. 37-138, hier S. 101: Posui autem istud correlarium ad confusionem duplicis erroris, quorum unus dicit ad litteram nullum Antichristum existimandum. Qui error ex Bohemia serpsit etiam usque ad partes istas per quendam Levinum Wirsberger, postea in Ratispona per imperatorem condempnatum ad perpetuos carceres anno 1467. Siehe auch Kestenberg-Gladstein S. 267 Anm. 1.

[94]          Siehe oben S. 233 mit Anm. 48.

[95]          Mir wurden bislang 8 Überlieferungen bekannt: Colmar, Bibl. de la Ville, Ms 45 fol. 171r; München, Staatsbibl., Clm 177796 [früher St. Mang, Stadtamhof/Regensburg] fol. 167v-168r, Clm 18930 [früher Tegernsee] fol. 85r-v; Paris, BN lat. 5178 fol. 53v-54r; Wien, ÖNB, cvp 4764 [Herkunft: Böhmen?] fol. 191r-192v. Dazu kommt die einzige Überlieferung der Glaßberger'schen Chronik in der Hs. München, Franziskaner-Konvent St. Anna, Hs. 8o Cmm 7 (vgl. die Einleitung der Chronik S. Xf.) sowie die heute noch nicht identifizierte Vorlage Schelhorns, wohl aus der Memminger Stadtbibliothek, deren Leiter Schelhorn war (vgl. die Angaben über die Herkunft seines Materials in der Vorrede seiner Acta Bl. 3v und 4v). Erschließen läßt sich sodann eine Überlieferung in St. Jakob in Mainz, auf welche die Hs. Trier, Stadtbibl., 1207/505 zurückgeht (siehe oben Anm. 90) sowie in Basel, auf die in der Basler Chronik (siehe oben Anm. 23) Bezug genommen ist. Daß es noch weitere Überlieferungen gab (z.B. in Regensburg und in Eger), steht außer Frage.

[96]          Vgl. seine zusammenfassende Wertung S. 785f.

[97]          Glaßberger, Chronik S. 423-425.

[98]          Publiziert von G. Ritter, ZKG 43 (1924) S. 158f. nach der Hs. Vatikan, Pal. lat. 870 fol. 157r. Eine bessere Überlieferung bietet die Hs. Bamberg, Staatl. Bibliothek, I. H. Msc. Theol. 20 fol. 68r. Dort die Überschrift: Item fertur quot isti sunt articuli heresis ipsius Liuini de Wirsperg anno domini etc. LXVIII ab ipso per questionacionem examinati.

[99]          Überliefert in der Hs. München, Staatsbibl., Clm 18930 [früher Tegernsee] fol. 84r-v.

[100]         Schiff S. 783 mit Anm. 17.

[101]         Fol. 85r-v.

[102]         Der Text beginnt fol. 82r. Überschrift: Articuli subsequentes contra fidem, quos quidam seminarunt in diosesi Ratisponensi, fuerunt ipsi presuli eiusdem diocesis oblati anno Christi 1466, quos quidam Cartusiensis improbavit sicuti post quemlibet articulum patebit.

[103]         Der Zentralbegriff ist nicht `libertas spiritus', sondern `contemplatio'.

[104]         Es ist unrichtig, daß der die Lehren jenes Heinrich widerlegende Kartäuser-Mönch auch für die Figmenta verantwortlich ist, und die am Schluß der Gesamtaufzeichnung folgende Angabe, 20 Artikel seien unbeachtet geblieben, beziehen sich auf die Lehrsätze Heinrichs und nicht der Wirsberger.

[105]         Überlieferungsort ist die Hs. Wien, ÖNB, cvp 4764 fol. 193r-v; ihre Kenntnis verdanke ich Robert Lerner.

[106]         Das geht soweit, daß sich die Vorlagen mitten im Satz vermengen. Artikel 2: Item ille heresiarcha met octavus et sex hiis sorores (das ist Heinrich mit seinem Gefolge) multum populum pervertit, quod si collecti essent, expugnarent fortissimum principem Wauarie - das kann sich unmöglich auf Heinrich beziehen, ist aber mit sehr ähnlichen Worten von den Wirsbergern behauptet worden.

[107]         Die Scheidung läßt sich blockartig vornehmen: Von den insgesamt 17 Artikeln der Liste sind der erste und die letzten vier auf Heinrich zu beziehen, der Mittelteil (Artikel 3-13) geschlossen auf die Wirsberger; Artikel 2 ist ein Mixtum compositum (siehe die vorige Anmerkung).

[108]         Die Schwierigkeit, die Nachrichten über beide Fälle auseinanderzuhalten, muß bereits in der Vorlage des cvp 4764 angelegt gewesen sein, dessen Kopist/Redaktor die Vermengung offensichtlich guten Glaubens vornahm.

[109]         Auch Livins und Jankos Briefe sind, wiewohl Selbstzeugnisse, als apologetisch mit diesem Verdikt zu belegen. Da muß man gar keine beschönigende Tendenz unterstellen: Zum Nachweis perspektivischer Verzerrung genügt die Tatsache, daß sie auf bestimmte Vorwürfe reagieren und keineswegs eine objektive Zusammenfassung ihrer Überzeugungen bieten. - Vgl. jedoch unten das Postskript.