XVII.
Der "Talmudjude"
Der Titel dieses Vortrags greift ein Schmähwort auf, das der
erzkatholische Professor für Alttestamentliche Exegese an den Universitäten
Münster (1871) und Prag (1876), August Rohling (1839-1931), in die
antisemitische Polemik einbrachte, als er unter dem Titel "Der
Talmudjude" erstmals 1871 ein Machwerk erscheinen ließ, das neben
Übersetzungen ins Französische und Spanische bis 1933 nicht weniger als 22
Auflagen erlebte[1] und für das Bild vom
Juden, wie es sich die Nationalsozialisten selbst machten und wie sie es
propagierten, außerordentlich wirksam war[2]. Es hat der Verbreitung
dieses Buches nicht geschadet, daß man seinen Autor übelster Entstellungen hat
überführen können, die er - anfänglich sogar ohne Nennung seiner Quelle -
kritiklos aus einem älteren Werk des gleichen Genres übernahm[3]: aus dem
"Entdeckten Judentum" des Heidelberger Orientalisten Johann Andreas
Eisenmenger (1654-1704), dessen im Jahre 1700 gedruckte erste
Auflage auf Intervention Samson Wertheimers und Samuel Oppenheimers bei Kaiser
Leopold I. für vierzig Jahre sequestriert blieb und einer breiteren
Öffentlichkeit zunächst nur durch einen vom preußischen König Friedrich I. nach
dem Tode des Verfassers 1711, mit dem Impressum Königsberg - der (14) Form
nach also außerhalb des "Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation"
-, veranlaßten Nachdruck bekannt wurde[4]. Im Gegenteil: Die
selbst von Gegnern nicht bestrittene Gelehrsamkeit des Hebraisten Eisenmenger
schien auch für das Rohling'sche Plagiat Solidität zu verbürgen. Denn
Eisenmenger hatte anscheinend akribisch belegt, in welchen Quellen er sein Bild
des Judentums `entdeckt' haben wollte, und diese Quellen gibt es, und die
Zitate daraus hielten als solche zumeist der Nachprüfung stand; jedenfalls hegt
auch die jüngere wissenschaftliche Literatur keinen Zweifel an der - wenn auch
zeitgebundenen - gelehrten Seriosität dieses Judenhassers[5].
Das muß sie ihm zum Glück nur bedingt konzedieren. Denn zum
einen besagen die von Eisenmenger vermeintlich ans Tageslicht gezerrten
`Entdeckungen', im Kontext gelesen, bisweilen etwas ganz anderes, als er seinen
Lesern zu suggerieren suchte. Vor allem aber sind sie viel weniger, als man
bisher meinte, ein Produkt stupender Belesenheit und einer daraus
resultierenden - wenn auch verfehlten - geistig eigenständigen Kritik. Denn wie
Rohling an seinem Eisenmenger klebte, so modellierte Eisenmenger sein Werk nach
älteren, und zwar nach mittelalterlichen Vorlagen, nicht nur in einem weiten
allgemeinen Sinne - das hat man längst erkannt -, sondern konkret und im
Detail. Diese Vorlagen nennt Eisenmenger nicht. So blieb verborgen, wie
traditionsverhaftet auch sein Werk ist, wie geistig unselbständig vom ganzen
Ansatz her wie in den Einzelpunkten die von ihm geübte Kritik - trotz all
seiner gelehrten Bildung und obwohl er durchaus selbständigen Zugang zum
rabbinischen Schrifttum besaß.
Als sein Vorbild nun, dem er für einen Gutteil seines Werkes
das Material oder doch zumindest die argumentative Anregung entnahm, läßt sich
ein bestimmter Strang der antijüdischen Polemik des Mittelalters nachweisen. (15)
Es handelt sich dabei um ein Konglomerat von Werken, deren
Abhängigkeitsverhältnis gegenwärtig nur begrenzt zu durchschauen ist und das zu
klären ich mir als Forschungsziel gesetzt habe. Alle diese Werke hängen mit der
Pariser Talmudverurteilung des Jahres 1242 zusammen. Von ihr, ihrem
literarischen Ausfluß und ihrer Wirkung auf das Judenbild des Mittelalters und
der Neuzeit soll im folgenden die Rede sein.
I.
Im Jahre 1242 wurde in Paris der Talmud als häretisch
verurteilt[6]. Daraufhin sind nicht
weniger als 24 Wagenladungen mit Talmud-Exemplaren, denen später noch einmal
sechs Ladungen folgten, verbrannt worden[7]. Dies (16) ist
der Anfang einer allgemeinen Such- und Vernichtungsaktion gewesen[8], die - verstärkt durch
zahllose Judenmorde und -vertreibungen - aus dem Mittelalter nur noch ein
einziges komplettes Talmud-Exemplar überleben ließ: den Cod. hebr. 95 der
Bayer. Staatsbibliothek München aus dem Jahre 1343[9]. Doch statt, wie es in
der letzten im Zusammenhang mit der Pariser Talmud-Verurteilung ergangenen
Sentenz hieß[10], "die unzähligen
Irrtümer, Mißbräuche, Blasphemien und Schändlichkeiten", die der Talmud
angeblich enthielt, zum Verstummen zu bringen, hatten die verschiedenen Akte
der Verdammung die paradoxe Folge, daß eben diese Anstößigkeiten in einer Reihe
lateinischer Exzerpt-Übersetzungen der Christenheit erst eigentlich zur
Kenntnis gebracht wurden. Eher beiläufig als durch systematisches Sammeln sind
mir allein von der am weitesten verbreiteten Version dieser Übersetzungen, der
sog. Pharetra fidei contra Iudeos, bisher weit über 100 Hss. bekannt
geworden, und man kann annehmen, daß es keine nennenswerte Bibliothek in
Mitteleuropa gab, die nicht in der einen oder anderen Form über eines dieser
Talmud-Exzerpte verfügte[11].
Doch wie war es zu der Pariser Verurteilung und - durch sie
ausgelöst - zu dieser Flut von Übersetzungen aus dem Talmud gekommen[12]? Ein konvertierter Jude
namens Nikolaus Donin aus La Rochelle hatte im Jahre 1239 vor Papst Gregor IX.
Klage geführt, daß seine früheren Glaubensgenossen unter Verdrängung des in der
Bibel niedergelegten mosaischen Gesetzes sich einem anderen, der Tradition nach
von Gott nur mündlich an Moses übergebenen Gesetz verschrieben hätten, eben dem
Talmud; dieser aber stecke voller "Mißbräuche und Schändlichkeiten"[13]. Gregor IX. ordnete
daraufhin in (17) Frankreich, England und in den Königreichen der
iberischen Halbinsel die Konfiskation aller hebräischen Bücher und deren
Überprüfung an[14].
Offenbar nur in Frankreich leistete man diesem Gebot Folge. Es
kam zu einem Prozeß, der zunächst unter dem Vorsitz von Blanche von Kastilien,
der Mutter König Ludwigs des Heiligen[15], geführt wurde und in
aller Öffentlichkeit in Anwesenheit hoher geistlicher und weltlicher
Würdenträger am königlichen Hof wohl zwischen dem 25. und 27. Juni 1240
stattfand[16]. Ankläger war Nikolaus
Donin, Verteidiger des Talmud waren führende französische Rabbiner, an ihrer
Spitze der in Paris wirkende Rabbi Jechiel aus Meaux[17].
Anklagepunkte waren:
- 1. Der Talmud messe sich eine größere Autorität als der Bibel
zu, den Talmudgelehrten eine größere als Gott selbst; (18)
- 2. der Talmud enhalte Blasphemien gegen Gott, Christus, die
Jungfrau Maria und die Heiligen sowie Zeugnisse des Hasses auf alle Christen;
-
3.
der Talmud stecke voller Irrtümer, Fabeleien, Torheiten und Schändlichkeiten.
Das Verfahren nun brachte wohl Klarheit über die zentrale
Bedeutung des Talmud für das Leben der jüdischen Diaspora, doch bot das bis
dahin zusammengebrachte Belastungsmaterial offenbar noch nicht genügend
Handhaben zu seiner Verurteilung und Vernichtung. Es wurde daher eine neue
Prüfungskommission bestellt; sie war zwei Jahre lang tätig. Dann fällte ein
Gremium von Theologen und Juristen der Pariser Universität das Urteil auf
Verdammung und Verbrennung des Talmud[18].
In diesen Prüfungszeitraum fällt die Entstehung der
wichtigsten später wirksam gewordenen Talmud-Exzerpte in lateinischer Sprache.
Man verfertigte zunächst - immer mit Blick auf die Anklagepunkte - umfangreiche
Auszüge entsprechend der historischen Ordnung des Talmud, denen am Schluß noch
Exzerpte aus dem synagogalen Schrifttum angefügt wurden[19]. Dies ist, trotz ihres
Auswahl-Charakters, die einzige auf das Ganze des Talmud gerichtete lateinische
Übersetzung, die das Mittelalter hervorgebracht hat. Aus ihr erstellte man ein
in der Reihenfolge der Anklagepunkte systematisch geordnetes Dossier[20]. Diesem wiederum wurde
- in 35 Artikel gegliedert - in knapper Auswahl das Material entnommen, auf
dessen Grundlage man 1242 die Verdammungssentenz fällte[21]. Und im wesentlichen
auf dieser Kurzfassung beruht die publizistisch wichtigste Version dieser
Übersetzungen, die - kombiniert mit noch anderem Material[22] - bereits Mitte des 13.
Jhs. der Pariser Dominikanerprior Theobald von Sézanne anlegte[23]. Denn seine
Exzerptfassung liegt der eingangs genannten, in zahllosen Handschriften und
nicht weniger als sechs Früh(19)drucken[24] verbreiteten Pharetra
fidei contra Iudeos zugrunde, deren älteste erhaltene Überlieferungen noch
aus dem 13. Jh. stammen und deren räumliche Verbreitung von Wien bis Barcelona
reicht[25]. Eine auf der Pharetra
beruhende, in manchen Handschriften Nikolaus von Lyra zugeschriebene Fassung
der Talmud-Exzerpte[26] hat Gonzalo García de
Santa María aus Saragossa († 1521), der humanistisch gebildete Biograph König
Johanns II. von Aragon (1458-1479), um das Jahr 1500 im Druck herausgegeben[27]. Auf Theobalds Werk
beruft sich sein österreichischer Ordensgenosse, der um 1260 schreibende sog. Passauer
Anonymus, der in seinem voluminösen Werk über Juden, Ketzer und Antichrist
umfangreiche Auszüge aus dem Talmud überliefert, die auch enge Berührungspunkte
mit der Pharetra fidei contra Iudeos aufweisen[28]. Von Theobalds
Exzerpten hat der Zisterzienser Nikolaus Vischel aus Heiligenkreuz in
Niederösterreich Gebrauch gemacht in einem Anfang des 14. Jhs. entstandenen
antijüdischen Traktat[29]. Aus einer
Überlieferung der Pharetra zitierte der an der Universität Salamanca
wirkende spanische Minorit Alfonsus de Spina im Talmud-Kapitel seines
1459 entstandenen Werkes Fortalitium fidei[30]. Der gelehrte
brandenburgische Bischof Stephan Bodeker besaß eine Abschrift sowohl der
Pharetra wie der am Anfang der ganzen Tradition stehenden ausführlichen
Auswahlübersetzung aus dem Talmud und hat dieses Material seiner durch den Tod
1459 unvollendet gebliebenen Schrift Adversus Iudaeos zugrundegelegt[31]. (20)
Dies
ist nach dem Stand meiner bisherigen Kenntnis der Strang der Talmudtradition,
auf der Eisenmenger und - ihm folgend - Rohling in ihren Pamphleten fußten, aus
dem das Bild des `Talmudjuden' geformt wurde. Wie sah es aus?
II.
Monströs! Der Talmud - die autoritative Richtschnur für ein im
Einklang mit der Tora religionsgesetzlich korrekt geführtes Leben - steckte
dieser Literatur zufolge voller Blasphemien gegen Gott, dem anthropomorphe Züge
angedichtet würden, der bittere Reue darüber empfände, daß er die Juden so
schlecht behandelt habe, der sich von den Talmudlehrern an Weisheit
übertreffen, bisweilen auch hinters Licht führen ließe; kurz: der Gott des
Talmud wird geschildert als ein dummer, launischer, jedenfalls weder besonders
allmächtiger noch gar allwissender Gott, seine Geschöpfe in Gestalt der
Talmudlehrer ihm im Grunde überlegen. Wenn sich das Geschöpf über den Schöpfer
erhebt - so die Quintessenz dieser Exzerpte -, dann ist der Jude, der dem
folgt, ein Gotteslästerer par excellence und damit in den Augen der Zeit
schuldig des schlimmsten nur denkbaren Verbrechens: des Verbrechens gegen die
Majestät Gottes. Ein Verbrechen, das den Delinquenten automatisch der Sphäre
des Nefandum zuweist - der Welt des Satans[32].
Doch nicht nur Gott - das gleichsam einigende religiöse Band
zwischen Juden und Christen - wird angeblich im Talmud gelästert, sondern
dieser erziehe den Juden auch zur Verunglimpfung Christi und der Gottesmutter,
ziehe durch Verhöhnung von Heilig-Geist-Empfängnis und Jungfrauengeburt in den
Schmutz, was dem Christen hoch und heilig sei. Der `Talmudjude' ist folglich
jemand, der ganz besonders den Christen ihr Heiligstes besudelt.
Der Talmud lehrt aber seine Adepten angeblich noch ganz andere
Dinge: Jegliche Schandtat erlaube er den Juden gegenüber den Christen, die sie
nach Belieben belügen, betrügen, ja sogar umbringen könnten. Das sei reli(21)gionsgesetzlich
nicht nur zulässig, sondern sogar gefordert. Aussprüche, die in diese Richtung
wiesen - z.B. die berüchtigte Maxime Optimum goym/Christianorum occide -,
wurden mit allen Zeichen der gehörigen Entrüstung von den Zeiten der Pariser
Talmudverurteilung bis zu den Nazis wiederholt[33]. Da half es Rabbi
Jechiel von Meaux genausowenig wie seinen modernzeitlich gelehrten Nachfolgern
im Geiste, daß sie auf die historische Bedingtheit der hier aufgespießten
Rechtssätze verwiesen und die so ganz anders geartete Theorie und Praxis ihrer
Tage ins Feld führten[34] - die Zeit, in der
zunehmend der Wucher-Vorwurf und die Ritualmord-Beschuldigung laut wurden,
hatte längst ein Bild vom Juden, das diesem jegliche Schandtat zutraute[35]. Gotteslästerer, Jesus
und Maria schmähend, Todfeind der Christen, kurz: ein Monster. Das war das
Konzept vom `Talmudjuden' schon im 13. Jh., nicht erst bei Eisenmenger und dann
bei Rohling und den Nationalsozialisten.
III.
Es ist klar, wie eine solcherart beleidigte Gottheit und
Menschheit zu reagieren hatten: Die massenhaften Judenpogrome, -verfolgungen
und -vertreibungen durch die Jahrhunderte bis in unsere Gegenwart setzen nach
meiner Beobachtung erst nach Etablierung des Konzepts vom `Talmudjuden' wirklich
ein. War das solcherart geformte anthropologische Konzept vom Juden aber auch
für dessen Leidensgeschichte ursächlich? Das ist unlängst von einem brillanten
jüngeren amerikanisch-jüdischen Historiker, Jeremy Cohen, behauptet
worden. Er suchte den Nachweis zu führen, daß das vom Apostel Paulus
grundgelegte und von Augustin in gültige dogmatische Form gebrachte christliche
Konzept von der Existenznotwendigkeit des jüdischen Volkes bis ans Ende der
Zeiten - wo es sich dann zu Christus bekehren würde -, als sozusagen
alttestamentlich versteinerte Zeugen des christlichen Glaubens vom Konzept
eines zum Talmud abgefallenen Judentums abgelöst worden sei. Damit aber wäre
für dieses Judentum die Geschäftsgrundlage seiner Erhaltenswürdigkeit entfallen
gewesen, und so habe man sich frei gefühlt zu dessen Vernichtung, sei es in
Form der Zwangsbekehrung, wie sie im großen Stile in den spanischen
Königreichen betrieben wurde, sei es durch Vertreibung oder Mord[36]. (22)
Diese These erscheint mir nicht haltbar. Zum einen wird sie
durch die geschichtliche Wirklichkeit widerlegt. Denn noch mitten im 14. Jh.,
als die Pestverfolgungen das deutsche Judentum an den Rand der völligen
Vernichtung brachten, hat man an der päpstlichen Kurie den Geißlern diesen
Judenmord in die Schuhe zu schieben gesucht, um sie deswegen als Ketzer
verurteilen zu können - Ketzer deshalb, weil sie die von der Tradition
festgelegte eschatologische Rolle der Juden mißachtet hätten[37]. Wenn der Papst als
Haupt der lateinischen Christenheit Christen als Ketzer verurteilt, weil sie im
Widerspruch zur christlichen Lehre angeblich oder wirklich Juden umgebracht
hätten, dann kann man nicht unterstellen, daß maßgebende Kirchenkreise in
Abkehr von der christlichen Tradition Juden zur Zwangsbekehrung oder zur Vernichtung
freigegeben hätten. Dergleichen gab es, aber nach der im Mittelalter gültigen
christlichen Lehre war das ein Exzeß und keine Norm. Und in erster Linie
deshalb, weil so etwas trotz aller Gehäuftheit dennoch nur ein Exzeß war,
blieben Juden in der christlichen Welt am Ende überhaupt erhalten.
Der zweite Grund, weshalb Jeremy Cohen irrt, wenn er das
Prinzip der Vernichtung jüdischer Existenz mit der Entdeckung des `Talmudjuden'
in der Mitte des 13. Jhs. theologisch begründet sieht, liegt in der Konsequenz,
die das Papsttum daraus expressis verbis zog. Innocenz IV., der die Pariser
Talmudverurteilung von 1242 durch eigene Erlasse teils bestätigt, teils
abgemildert hatte[38], rechtfertigte die
Attitüde des Hauptes der Chri(23)stenheit, über das Gesetzbuch einer
anderen Religionsgemeinschaft zu Gericht zu sitzen, mit der von Christus an den
Papst delegierten Herrschaft über die Welt. Daraus zieht der große
Juristenpapst nicht den Schluß, ein vom Talmud bestimmtes Judentum sei reif zur
christlichen Bekehrung, sondern gerade umgekehrt: dieses Judentum müsse auf den
Weg des rechten jüdischen Glaubens, sprich: zum `Alten Testament',
zurückgeführt werden - und zwar von ihm, dem Papst[39]!
IV.
Wenn massenhafte Judenverfolgung erst nach Etablierung des
Konzepts vom `Talmudjuden' wirklich einsetzte und dieses Konzept dennoch nicht
als eigentlich ursächlich für die sprunghaft zunehmenden und auf das Ganze der
jüdischen Existenz zielenden Verfolgungswellen des ausgehenden Mittelalters zu
werten ist, wie hat man es dann geschichtlich einzuordnen?
In zwei Richtungen, wie ich meine: Zum einen als Indikator für
das Verhältnis zwischen Christen und Juden schlechthin. Zum anderen als Element
der negativen Formung des christlichen Judenbildes.
Zum ersteren: Wie man im Talmud eine Ansammlung von
Monstrositäten sah, so im Juden ein Monstrum. Wer den Talmud verbrannte und den
Juden den Hort ihrer geistigen Identität zu nehmen suchte, der zielte auf das
Ganze der jüdischen Existenz, und somit auch auf ihre Physis. So wie die Kirche
mit dem Talmud als Geisteswerk verfuhr, so behandelte die christliche
Gesellschaft die Juden als Menschen. Indem aber die kirchen-christliche
Gesellschaft den Talmud zu vernichten suchte, machte sie klar, daß sie Juden
nur in der Gestalt zu dulden bereit war, wie sie sie haben wollte, nicht wie
sie waren.
Wie nun hätte die christliche Gesellschaft die Juden gern
gehabt? Als wandelnde Denkmale alttestamentlicher Wahrheit? Und weil sie sie
anders fand, hätte die Christenheit - entsprechend der veränderten
Geschäftsgrundlage - ihre Einstellung zum Judentum verändert? In diesem Sinn
verstanden Amos Funkenstein[40] und Jeremy Cohen[41] die christlichen
Attacken auf den Talmud. Ich denke, man wird die Ebene, von der her das Bild
vom Talmud und dem Juden als `Talmudjuden' konzi(24)piert wurde,
sozialpsychologisch in tieferen Schichten suchen müssen. Man kommt am weitesten
mit einem Paradox: Die Gesellschaft, die den Juden als `Talmudjuden' entdeckte
und brandmarkte, wollte ihn auch so und nicht anders haben. Mit dem Wucherer,
Ritualmörder und später dann Hostienschänder und Brunnenvergifter schuf sie in
bloß scheinbarer Verschiedenheit Erscheinungsbilder immer eines und desselben
Urtyps: des Monstrums. Der `Talmudjude' ist da nur eine weitere Spielart.
Auf das Warum dieses Vorgangs hat Frantisek Graus eine Antwort
zu geben gesucht mit dem Modell des Sündenbocks[42]. Auch ich wüßte keine
andere. Nur hat es mit den Sündenböcken eine eigene Bewandtnis: Man hat sie im
gleichen Maße nötig, wie man sie zu schlachten geneigt ist. Beides zusammen
geht aber nicht: Die Pflege eines Feindbildes setzt - wenigstens in gewissem
Umfang[43] - dessen lebendige
Existenz voraus. Umgekehrt wäre die christlich verfaßte Gesellschaft wohl in
Verlegenheit geraten, hätte die Judenheit entsprechend Innocenz' IV. Direktiven
sich zum biblischen Urbild zurückverwandelt: Denn woher dann das Monster
nehmen, das man brauchte?
In anderen Worten: Wenn es richtig ist, daß das Bild vom Juden
als eines Ritualmörders, Hostienschänders, Brunnenvergifters - und eben: eines
`Talmudjuden' dem Bedürfnis der christlichen Umwelt nach Monster-Bildung in
Sündenbock-Funktion entsprang, dann sagt dieses Klischee in erster Linie etwas
über die mentale Befindlichkeit der klischeebildenden Gesellschaft aus, aber
nur sekundär etwas über das Verhältnis dieser Gesellschaft zu den von ihr als
Fremdkörper Ausgesonderten oder als solche Definierten. Diese Fremdkörper sind
dann auch, was ihre konkrete Gestalt betrifft, ebenso austauschbar, wie sie
selbst durch `Wohlverhalten' keine Chance haben, ihrer Sündenbock-Funktion
ledig zu werden. Lehrbeispiel sind die Juden der iberischen Halbinsel: Als sie
sich um 1400 durch Massenkonversionen zu der in christlichen Augen eigentlich
bestmöglichen Lösung drängen ließen, hörten sie mitnichten auf,
Verfolgungsobjekte zu sein, vielmehr entwickelte eine Phantasie, die auf
Ausgrenzung bestimmter Gruppen drängte, die Ideologie der "limpieza de
sangre", nachdem sich das Konfessions-Kriterium als nicht mehr hinreichend
griffig erwiesen hatte[44].
Diese Einordnung des monströsen Klischees vom `Talmudjuden'
als eines Symptoms innerchristlicher Befindlichkeit trifft exakt auf das von
Franti(25)sek Graus entwickelte Krisenmodell zu, demzufolge z.B.
Judenhaß und Klerushaß auf ein und derselben Ebene anzusiedeln wären[45]. Ist dies richtig, wäre
also das Bild des `Talmudjuden' primär als ein Krisensymptom der christlichen
Gesellschaft zu werten, dann müßte man Graus' Vorstellung einer spezifisch
`spätmittelalterlichen' Krise insofern modifizieren, als deren Zeitgrenzen zu
verschieben wären, und zwar zumindest in jene Periode hinein, in der das Bild
vom `Talmudjuden' entwickelt wurde.
Damit aber löste sich der Begriff der spätmittelalterlichen
Krise in seiner zeitlichen Begrenzung im Grunde auf; denn es ist absehbar, daß
die durch das `Talmudjuden'-Klischee erreichte Zeitgrenze kaum
Absolutheitscharakter besitzt. Vor einer solchen Annahme warnt bereits das
zeitlich voraufgehende Häresie-Phänomen, das sozialpsychologisch auf ganz der
gleichen Ebene anzusiedeln ist wie das Klischee vom `Talmudjuden'. Es wäre
daher wohl klüger, Krise als einen Dauerzustand, das heißt als endemisch für
die mittelalterliche Gesellschaft zu begreifen.
V.
Die Entwicklung der Vorstellung vom `Talmudjuden' ist nicht
nur Gradmesser für die Entwicklung des Judenbildes allgemein und der
Einstellung der christlichen Gesellschaft zum Juden insgesamt, sondern sie ist
auch selbst Teil jenes überaus komplexen Prozesses der allmählichen Formung des
Judenbildes. Dies ist die zweite Richtung, in der man eine geschichtliche
Einordnung des Konzepts vom `Talmudjuden' vorzunehmen hat. Als Frage
formuliert: Was leistete dieses Konzept im Gesamtzusammenhang der Modellierung
des Judenbildes im ausgehenden Mittelalter? Das ist nicht schwer zu erkennen:
Die Züge des Blasphemischen, Sittenlosen, ja Mörderischen verstärkten die
Tendenz zur Dämonisierung, und damit zur Entmenschlichung des Judenbildes[46].
Das liegt nicht unbedingt am Talmud selbst, den man sogar mit
christlichen Augen auch ganz anders hätte betrachten können. Das lehrt das
Beispiel des mit dem sprachgelehrten Dominikaner Raimundus Martini (†
1284) nur kurze Zeit nach der Pariser Talmud-Verurteilung einsetzenden Stranges
der über den Talmud informierenden christlichen Literatur[47]. (26) Denn
Raimundus Martini interpretierte den Talmud nicht als ein Sammelsurium von
gotteslästerlichen Absurditäten und widerchristlichen Bösartigkeiten, sondern
als ein von seinen jüdischen Exegeten immer verkanntes Zeugnis für den
christlichen Glauben. Martinis Botschaft an die Juden lautete daher: Hört nur
recht auf Euer eigenes Lehrbuch, dann müßtet Ihr Euch eigentlich zum
Christentum bekehren. Ein Menschenbild aus solcherart gedeuteter Quelle trug
naturgemäß nicht nur sinistre Züge. Überhaupt sollte man sich hüten, das
christliche Judenbild des späteren Mittelalters als bloß negativ anzusehen. Es
gibt durchaus Spuren, die in eine andere Richtung weisen, die zu sammeln und zu
ordnen aber einer eigenen Betrachtung bedarf; ich muß es hier bei dieser
Andeutung belassen[48]. Aber es ist ganz klar:
So positive Gegenströmungen es auch gab - das negative, zum Monströsen
sich verfestigende Bild beherrschte die Szene, war schier übermächtig.
Das aus der Pariser Talmud-Tradition gewonnene Bild vom
`Talmudjuden' verstärkte diese Richtung und trug zu ihrer Formung bei. Soweit
ich sehe, sind in diesem Bilde insbesondere die für das soziale Zusammenleben
mit den christlichen Nachbarn wichtigen Momente von Lug und Trug und
Mordbereitschaft erstmals als Wesensgrund jüdischer Existenz definiert worden.
Macht man sich klar, in welchem Maße die dieses Judenbild tradierende Literatur
in Mitteleuropa zirkulierte und in welchem Umfang die Geistlichkeit als
Leserschicht das Bild vom `Talmudjuden' im Laienvolk schon von amts wegen hat
propagieren können und müssen[49], dann bedarf (27) es
keiner ausschweifenden Phantasie sich vorzustellen, wie das blutsaugende
Monster des `Talmudjuden' das Bild vom Juden insgesamt beeinflußt und geprägt
hat. Der spätmittelalterliche Judenhaß und die daraus resultierenden
Verfolgungen sind das genaue Korrelat zu diesem Bild.
VI.
Seine Lebenskräftigkeit
im Zeitalter eines Eisenmenger, eines Rohling, eines Adolf Hitler belegen, wie
mir scheint, die - um ein mittelalterliches Begriffspaar zu gebrauchen - bei
allem Wandel der Akzidentien ungebrochene Kontinuität in der Substanz
hinsichtlich der Einstellung der europäischen Gesellschaft gegenüber klar zu
definierenden Fremdkörpern in ihrer Mitte: Sie waren ihr unerträglich, soweit
und insofern sie durch ihre schiere Existenz den Anspruch dieser Gesellschaft
auf Alleingültigkeit der eigenen Seinsweise in Frage stellten, und zwar in
Zeiten, wo man sich deren absoluter Gültigkeit unsicher geworden war; dann
drohten diesen Fremdkörpern Verfolgung und Vernichtung. Sie waren aber einer
krisenhaft erschütterten Gesellschaft zugleich doch allzeit unentbehrlich als
Prügelknaben, um das permanente Scheitern der eigenen Lebensform - das eigene
Unvermögen zur Bewältigung der Krise bemäntelnd - zu erklären und gleichzeitig
zu kaschieren, um nur ja nichts an den Wurzeln der eigenen Existenz ändern zu
müssen. Judenhaß und das Konzept des `Talmudjuden' waren in diesem Zusammenhang
systemstabilisierende und damit ganz unabdingbare Elemente einer geschlossenen
Gesellschaft, die ihrer Geschlossenheit nicht mehr vertraute.
Ich bin mir ziemlich
sicher, daß die christlich zu definierende europäische Gesellschaft des
Mittelalters sich nach Grad und Charakter ihrer Geschlossenheit von der sich
säkularisiert gebenden Gesellschaft der Neuzeit bis hin zur Schwelle unserer
Gegenwart nicht wesentlich unterschied. Das Bild des `Talmudjuden', wen immer
man in dieser Fratze erblickt, wird jedenfalls erst dann seine geschichtliche
Realität verlieren, wenn unsere, die europäische Gesellschaft wirklich zu einer
offenen Gesellschaft wird. Daß sie das aushalte, ist nicht nur eine Hoffnung -
das ist ein politisches Postulat!
[1] Diese Angaben entnehme ich dem Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700-1910 [GV], bearb. unter Leitung von Peter Geils, München 1979-1987, hier Bd. 118 (1984), 337, sowie GV 1911-1965, hg. von Reinhard Oberschelp, bearb. von Willi Gorzny, München 1976-1981, hier Bd. 108 (1979), 336. Dort auch Hinweise zu Übersetzungen ins Französische 1888 und ins Spanische 1889. Die Zahl der Auflagen ist nicht ganz leicht zu eruieren: Die (auch den Übersetzungen zugrunde liegende) 6. Aufl. von 1877/8 wurde allein siebenmal nachgedruckt; die als 7. - 15. Aufl. gezählte Fassung hingegen ist eine von Carl Paasch 1891/1892 besorgte Rückübersetzung der von A. Pontigny veranstalteten und mit einem Vorwort von Edouard Drumont versehenen französischen Übersetzung. Die gelegentlich schwankenden Angaben bezüglich des Erscheinungsjahres der einzelnen Ausgaben lassen erkennen, daß es über die Auflagen i.e.S. hinaus noch zahlreiche Nachdrucke gegeben haben muß. Das Erstaunliche am Verbreitungsbild des Werkes ist die Tatsache, daß es während der nationalsozialistischen Herrschaft selbst nicht zu Neuauflagen gekommen zu sein scheint. 1933 erschien die letzte vom "Gesamtverzeichnis" nachgewiesene Auflage.
[2] Zu Rohling und seinem "Talmudjuden" vgl. Jacob Katz, From Prejudice to Destruction. Anti-Semitism, 1700-1933, Cambridge/Mass. 1980, 219f., 285f. Siehe auch den einschlägigen Artikel im Österreichischen Biographischen Lexikon 1815-1950, Lief. 43 [Bd. 9] (1986), 213f.
[3] Über Rohlings Art der Quellenbenutzung vgl. vor allem Franz Delitzsch, Rohling's Talmudjude. Sechste revidierte und erweiterte Ausgabe, Leipzig 1881.
[4] Zu Eisenmenger und dem "Entdeckten Judentum" vgl. Katz (Anm. 2), bes. 13ff. - Die barocke Titelgebung der 1740 freigegebenen Erstauflage spricht für sich selbst: "Des bey 40. Jahr von der Judenschafft mit Arrest bestrickt gewesene, nunmehro aber Durch Autorität eines Hohen Reichs-Vicariats relaxirte Johann Andreä Eisenmengers, Professoris der Orientalischen Sprachen bey der Universität Heydelberg, Entdecktes Judenthum, Oder: Gründlicher und Wahrhaffter Bericht, Welchergestalt die verstockte[!] Juden Die Hochheilige Dreyeinigkeit, GOtt Vater, Sohn und Heiligen Geist, erschrecklicher Weise lästern und verunehren, die Heil. Mutter Christi verschmähen, das Neue Testament, die Evangelisten und Aposteln, die Christliche Religion spöttisch durchziehen, und die gantze Christenheit auf das äusserste verachten und verfluchen; Dabey noch viele andere, bishero unter den Christen entweder gar nicht, oder nur Zum Theil bekant=gewesene Dinge und Grosse Irrthüme[!] der Jüdischen Religion und Theologie, wie auch Viel lächerliche und kurtzweilige Fabeln und andere ungereimte Sachen an den Tag kommen; Alles aus ihren eigenen, und zwar sehr vielen, mit grosser Mühe und unverdrossenem Fleiß durchlesenen Büchern, mit Anziehung der Hebräischen Worte, und deren treuen Ubersetzung[!] in die Teutsche Sprach, kräfftiglich erwiesen, Und In Zweyen Theilen verfasset, Deren jeder seine behörige allemal von einer gewissen Materie ausführlich handelnde Capitel enthält. Allen Christen zur treuhertzigen Nachricht verfertiget, Und Mit vollkommenen Registern versehen. Gedruckt im Jahr nach Christi Gebuhrt [Frankfurt] 1700."
[5] Vgl. Katz (Anm. 2), 14.
[6] Genannt
sei nur die wichtigste Literatur: Ausgangspunkt der neueren Forschung sind Alexander
Kisch, Die Anklageartikel gegen den Talmud und ihre Vertheidigung durch
Rabbi Jechiel ben Joseph vor Ludwig dem Heiligen in Paris, in: Monatsschrift
für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums 23 (N.F. 6) (1874), 10-18,
62-75, 123-130, 155-163, 204-212 [als Monographie erschienen unter dem Titel:
Papst Gregor des Neunten Anklageartikel gegen den Talmud und dessen
Vertheidigung durch Rabbi Jechiel ben Josef und Rabbi Juda ben David, Leipzig
1874; nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert], sowie Isidore Loeb,
La controverse de 1240 sur le Talmud, in: Revue des études juives [künftig:
REJ] 1 (1880), 247-261; 2 (1881), 248-270; 3 (1881), 39-57. Beiden Gelehrten
gebührt das Verdienst, die für unsere Kenntnis der Pariser Talmudverurteilung
grundlegend wichtige Handschrift Paris, BN lat. 16558 - die Hauptüberlieferung
der unten zu besprechenden Extractiones de Talmut - erst eigentlich in
die Diskussion eingeführt und eine Reihe von Quellenstücken daraus im Original
oder in Übersetzung bekannt gemacht zu haben. Die Handschrift bildete die
Grundlage für das umfassende Werk von Chaim Merchavia, Ha-Talmud be-Rei
ha-Nazrut [Der Talmud im Spiegel des Christentums; engl. Titel:
The Church versus Talmudic and Midrashic Literature (500-1248)], Jerusalem
1970, 225-459, bes. 291ff. Von der jüngeren Literatur seien noch genannt F.
J. Baer, The Disputations of R. Yechiel of Paris and Nachmanides, in:
Tarbiz 2 (1930/31), 172-187 (hebr.); Judah M. Rosenthal, The
Talmud on Trial. The Disputation at Paris in th Year 1240, in: The Jewish
Quarterley Review 47 (1956-1957), 58-76, 145-169; André Tuilier, La
condamnation du Talmud par les maîtres universitaires parisiens et les
attitudes populaires à l'égard des Juifs au XIIIe siècle, in: Études
sur la sensibilité. Actes du 102e Congrès national des sociétés
savantes 2 (1979), 199-214, dessen Ausführungen freilich ziemlich
revisionsbedürftig sind; Joel E. Rembaum, The Talmud and the Popes:
Reflections on the Talmud Trials of the 1240s, in: Viator 13 (1982), 203-223; Robert
Chazan, Medieval Jewry in Northern France. A Political and
Social History, London 1973, 124ff.; ders., Daggers of Faith.
Thirteenth-Century Christian Missionizing and Jewish Response, Berkeley 1989,
33f.; Jeremy Cohen (wie unten Anm. 36), 60ff.
[7] Quelle für diese Nachricht sind die Annales Erphordenses fratrum Praedicatorum zum Jahre 1242, ed. Oswald Holder-Egger, Monumenta Erphesfurtensia, MGH SS rer. Germ. us. [42], Hannover und Leipzig 1899, 98. - Dorther auch das Datum der Talmud-Verbrennung 1242 Sept. 29, von der her sich der Zeitpunkt der ipso facto vorausgehenden Verurteilung des Talmud erschließen läßt. Die in der Literatur begegnende Angabe 1240 ist auf den Zeitpunkt der Disputation zwischen Nikolaus Donin und Rabbi Jechiel von Meaux einzuengen (siehe unten), nicht jedoch auf den der Verurteilung und Verbrennung. Dazu speziell auch Allan Temko, The Burning of the Talmud in Paris. Date: 1242, in: Commentary 17 (1954), 446-455. - Die Angabe über sechs Wagenladungen stammt aus dem Material der Extractiones de Talmut, überliefert in der Hs. Paris, BN lat. 16558 fol. 211va. Die Zahl 24 variiert in den Überlieferungen mit der Zahl 14 (so die Hs. Paris, BN lat. 16558, während die Parallel-Überlieferung der Hs. Carpentras 153 wieder XXIIII hat).
[8] Eine Übersicht dazu gibt Heinrich Graetz, Die Schicksale des Talmud im Verlaufe der Geschichte, Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums 34 (1885), 529-541.
[9] Vgl. Hermann L. Strack, Einleitung in Talmud und Midrasch, 6. Aufl. 1976, 79ff. zur handschriftlichen Überlieferung. Von dem Münchener Talmud-Exemplar veranstaltete Strack 1912 eine Faksimile-Ausgabe.
[10] Sie datiert vom 15. Mai 1248 und stützt sich auf das unter Vorsitz Odos von Châteauroux zustandegekommene Verdikt der mit der Prüfung des Talmud betrauten Professoren-Kommission der Universität Paris; ed. Heinrich Denifle / Émile Chatelain, Chartularium universitatis Parisiensis, Bd. 1 (1899), 209-211, hier 209: ... quia eos invenimus errores innumerabiles, abusiones, blasfemias et nepharia continere ...
[11] Diese, im Anschluß an die Pariser Verurteilung einsetzende, lateinische Talmud-Überlieferung harrt noch der Bearbeitung, denn Chaim Merchavias grundlegende Arbeit (siehe Anm. 6) hört dort auf, wo diese Überlieferung einsetzt. In Absprache mit ihm plane ich, von den Extractiones de Talmut ausgehend diese Tradition zu erfassen, ihre wichtigsten Textzeugen kritisch zu edieren und ihre Wirkungsgeschichte aufzuarbeiten.
[12] Das Folgende stützt sich auf das vor allem aus der Hs. Paris, BN lat. 16558 stammende Material. Es ist am bequemsten zugänglich bei Denifle / Chatelain, Chartularium 1 (Anm. 10), 202ff., Nr. 173 und 178; dazu ebd. 173f., Nr. 131 (Innocenz IV., 1244 Mai 9) und 172 (Innocenz IV., 1247 August 12).
[13] Abusiones et nefaria; vgl. Denifle / Chatelain, Chartularium 1 (Anm. 10), 202 und 203.
[14] Die enstprechenden Schreiben Denifle / Chatelain, Chartularium 1 (Anm. 10), 202f., Nr. 173. Sie sind datiert vom 9. Juni 1239. Mit weiterführenden Angaben jetzt neu hg. von Shlomo Simonsohn, The Apostolic See and the Jews, Bd. 1: Documents: 492-1404 (Studies and Texts 94), Toronto 1988, 172f., Nr. 163.
[15] Sie wurde von Kisch (Anm. 6), 19 und noch von Rosenthal (Anm. 6), 71 als hochschwanger bezeichnet, sichtlich in Verwechslung mit Ludwigs IX. Gattin Margarete von Provence, die in der Tat kurz nach dem Talmud-Prozeß am 12. Juli 1240 einer Tochter das Leben schenkte, die den Namen der Großmutter, Blanche, erhielt. Daß Ludwig IX. auch noch nach Erreichen der Volljährigkeit für mehr als ein Jahrzehnt seiner Mutter erheblichen Einfluß auf die Regierungsgeschäfte einräumte, ist allgemein bekannt; vgl. etwa Jean Richard, Saint Louis roi d'une France féodale, soutien de la Terre Sainte, Paris 1983, 15f. sowie Gérard Sivéry, Saint Louis et son siècle, Paris 1983, 320f.; grundlegend Élie Berger, Histoire de Blanche de Castille, reine de France, Paris 1895, hier bes. 312f., 340f.
[16] Hierzu und zu den anderen Daten Heinrich Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 7, Leipzig 1894, 401-406. Die lateinischen Quellen geben kein Datum für den Zeitpunkt der Untersuchung am königlichen Hof; hierfür ist man allein auf die Angaben Rabbi Jechiels angewiesen (zu ihr Graetz, ebd. 404). Bezüglich der Anwesenden erwähnt Rabbi Jechiel ausdrücklich nur die "Königin", die wiederholt das Wort ergreift; sonst bleibt er eher unbestimmt. Nur daß die Versammlung hochkarätig war, wird deutlich, und daß Dominikaner und Franziskaner darunter waren. Odo von Châteauroux nennt als Teilnehmer den für Paris zuständigen Metropoliten, Erzbischof Walter von Sens, sowie die Bischöfe von Paris (Wilhelm von Auvergne) und von Senlis (Adam de Chambly) sowie Godefroy de Bléneau, der damalige Magister regens der Dominikaner an der Pariser Theologen-Fakultät; Denifle / Chatelain, Chartularium 1 (Anm. 10), 204, Nr. 173.
[17] Hauptquelle für die Vorgänge ist der Bericht Rabbi Jechiels von Meaux in dessen "Vikkuach", mit beigefügter lateinischer Übersetzung hg. von Joh. Chr. Wagenseil, Tela ignea Satanae, Altdorf 1681, Bd. 2, 1-23. Eine Neuausgabe besorgte Zeev ha-Cohen Grünbaum, Sefer Vikkuach Rabbenu Jechiel mi-Paris, Thorn 1873. Der Text ist am bequemsten zugänglich bei Reuben Margaliot, Vikkuach Rabbenu Jechiel mi-Paris, Lwów s.d. [1928], Nachdruck Jerusalem 1944 u.ö.; die von Rosenthal (Anm. 6), 73, Anm. 54 angekündigte kritische Ausgabe von A. D. Duff ist offenbar nicht erschienen. Zum vieldiskutierten Charakter der Veranstaltung - offenes Streitgespräch im Stile einer Disputation oder gerichtliches Verhör wie bei einer Ketzerinquisition - vgl. mit weiterführenden Angaben Cohen (wie Anm. 36), 63 mit Anm. 22. Lateinische Versionen mit deutlichem Verhörscharakter sind in der Hs. Paris, BN lat. 16558 fol. 230va-231va von der Befragung zweier Rabbiner erhalten, Rabbi Jechiels aus Meaux und Rabbi Jehudas ben David aus Melun, hg. von Loeb, REJ 3 (Anm. 6), 55-57 und Merchavia (Anm. 6), 453-455.
[18] Vgl. den Bericht Odos von Châteauroux, Denifle / Chatelain, Chartularium 1 (Anm. 10), 204, Nr. 173.
[19] In der Ordnung der Hs. Paris, BN lat. 16558 sind dies - abgesehen von fol. 1ra-4rb - die Folien 97ra-211rb.
[20] Das sind in der Hs. Paris, BN lat. 16558 die Folien 5ra-96ra.
[21] Überliefert in der Hs. Paris, BN lat. 16558 auf fol. 211va-217vb, hg. von Loeb, REJ 2 (Anm. 6), 253-270 und 3 (ebd.), 39-54.
[22] Dabei handelt es sich zum einen um Auszüge aus Petrus Alfonsi, Dialogi, titulus V, Migne PL 157, 597-606 (= ed. Klaus-Peter Mieth, der Dialog des Petrus Alfonsi, Diss. phil. Berlin 1982, 62-73), sowie um Elemente der Pseudo-Ben- Sira-Tradition, über deren hebräisch-sprachige Ausprägung nur höchst unzureichende Kenntnisse bestehen und über deren lateinische Rezeption man bislang gar nichts weiß; vgl. dazu Encyclopaedia Judaica IV (1971) Sp. 548-550 (Joseph Dan).
[23] So wirksam diese Fassung offenkundig gewesen ist, hat sich eine eigenständige Überlieferung doch nirgends erhalten. Nur aus den späteren Ableitungen haben wir Kenntnis davon. Über Theobald selbst gibt es keinen brauchbaren Lexikon-Artikel, geschweige denn weiterführende Literatur; am hilfreichsten sind noch die knappen Bemerkungen bei Denifle / Chatelain, Chartularium 1 (Anm. 10), 211, Nr. 178, Anm. 12.
[24] Hain *15229-15234.
[25] Ich verzichte auf Einzelnachweise. Das Werk ist noch immer nur zu benutzen in dem Druck von Io. Christoph Wolf, Bibliotheca Hebraea 4 (Hamburg 1733), 555-567, unter dem Namen Theobalds von Sézanne; vgl. auch ebd., 3 (1727), 1164-1166.
[26] Das bemerkte bereits Charles-Victor
Langlois im Artikel "Nicolas de Lyre", in: Histoire littéraire de
la France 36 (1927), 383.
[27] Zu ihm J. N. Hillgarth, The Spanish Kingdoms 1250-1516, Bd. 2, Oxford 1978, 188, 463, Anm. 2 mit Hinweis auf M. S[errano] y S[anz], Testamento de Gonzalo García de Santa María. Año de 1519, in: Boletín de la Real Academia Española 1 (1914), 470-478, der nachwies, daß Gonzalo García de Santa María aus der bekannten hochrangigen Converso-Familie stammte, der auch Paul von Burgos angehörte, und daß er wiederholt selbst in die Fänge der Inquisition geriet, die ihn am Ende seines Lebens sogar über Jahre hinweg bis zu seinem Tode in Arrest hielt.
[28] Vgl. Alexander Patschovsky, Der Passauer Anonymus. Ein Sammelwerk über Ketzer, Juden, Antichrist aus der Mitte des 13. Jahrhunderts (Schriften der MGH 22), Stuttgart 1968, 178-181, Nr. 20-31.
[29] Der Traktat "Contra perfidos Iudaeos" ist unediert. Er findet sich im Zusammenhang mit anderen Werken des Nikolaus Vischel in der Hs. Heiligenkreuz 84 fol. 115va-141vb. Vgl. die Beschreibung der Handschrift in: Xenia Bernardina 2, 1 (Wien 1891), 146. Zu Nikolaus Vischel und seinem antijüdischen Traktat vgl. Severin Grill, Nikolaus Vischel von Heiligenkreuz. Ein österreichischer Scholastiker, c. 1250-1330 (Heiligenkreuzer Studien 6) 1937 (= Separatabdruck aus der Cistercienser-Chronik Jg. 49, Nr. 578), hier 8, 11-14.
[30] Alfonsus de Spina, Fortalitium fidei, lib. III consideratio 2 (in der bei Anton Koberger gedruckten Ausgabe Nürnberg 1494 fol. 79ra-va), mit unverkennbaren Spuren des Einflusses der "Pharetra".
[31] Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, theol. fol. 306 sowie theol. fol. 118 ("Adversus Iudaeos" fol. 301r-354v). Zu Stephan Bodekers judaistischen Schriften vgl. vorderhand noch Bernhard Walde, Christliche Hebraisten Deutschlands am Ausgang des Mittelalters, Münster 1916, 30-63, hier 51ff. Eine Schülerin von Dietrich Kurze, Frau Annette Wigger-Görlich, bereitet als Dissertation eine umfassende Arbeit über den bedeutenden Mann vor.
[32] Zu diesem Zusammenhang Jacques Chiffoleau, Dire l'indicible. Remarques sur la catégorie du nefandum du XIIe au XVe siècle, in: Annales ESC 45 (1990), 289-324, dessen gedankenreiche Ausführungen sicher an Prägnanz gewonnen hätten, wenn er hin und wieder auch ein wenig deutschsprachige Literatur zur Kenntnis genommen hätte, wie etwa Johannes Frieds Studie über den Zusammenhang von Templerprozeß, Folter und der Lehre von der Willensfreiheit im HJb 105 (1985), 388-425 oder die diversen Arbeiten Othmar Hageneders über das Majestätsverbrechen und speziell Innocenz' III. Dekretale "Vergentis".
[33] Text nach der 35-Artikel-Serie, ed. Loeb, REJ 2 (Anm. 6), 264; siehe auch Theobald von Sézanne/Passauer Anonymus, in der Hs. München, Staatsbibliothek, Clm 311 fol.8rb; Eisenmenger, Teil II cap. 3 zur Frage, "ob die Rabbinische[!] Gesätze es zulassen / einen Christen umb das leben zu bringen?", in der Ausgabe von 1700, Bd. 2, 194-227, zur Stelle 215 [Druck: 115!]; Rohling (Anm. 1), 1. Aufl., 27f., 6. Aufl., 71ff.
[34] Ich verweise nur auf Cohen (Anm. 36), 70-72 und die dort gegebenen Nachweise.
[35] Zu dem Bild der Zeit über den Juden zuletzt A. Patschovsky, Judenverfolgung im Mittelalter, in: GWU 41 (1990), 1-16.
[36] Jeremy Cohen, The Friars and the
Jews. The Evolution of Medieval Anti-Judaism, Ithaca und London 1982; ders.,
The Jews as the Killers of Christ in the Latin Tradition, from Augustine to the
Friars, in: Traditio 39 (1983), 1-27, bes. 24ff.
[37] Zum Problem der Beteiligung der Geißler an den Judenverfolgungen Alfred Haverkamp, Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte, in: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Alfred Haverkamp (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 24), Stuttgart 1981, 27-93, hier 43ff. Die angebliche Verantwortlichkeit der Geißler wird scharf betont von Peter Herde, zuletzt in: Von der mittelalterlichen Judenfeindschaft zum modernen Antisemitismus, in: Geschichte und Kultur des Judentums. Eine Vorlesungsreihe an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, hg. von K. Müller / K. Wittstadt, Würzburg 1988, 11-69, hier 27f. Vgl. auch Richard Kieckhefer, Radical tendencies in the flagellant movement of the mid-fourteenth century, in: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 4 (1974), 157-176, bes. 162f. Quellen sind haupstsächlich das von Papst Clemens VI. am 20. Oktober 1349 ausgesprochene Verbot der Flagellanten-Bewegung (zuletzt hg. von Simonsohn [Anm. 14], 399-402, Nr. 375) sowie der damit in unmittelbarem Zusammenhang stehende Sermon des damaligen Mönches von St-Amand in der Diözese Tournai und Pariser Theologieprofessors sowie späteren Abtes von St. Bavo in Gent, Jean de Fayt, vom 5. Oktober 1349 vor Papst Clemens VI. in Avignon, hg. von Paul Fredericq, Corpus documentorum inquisitionis haereticae pravitatis Neerlandicae 3 (1906), 28-37, Nr. 26, hier bes. 36f. Vgl. zu ihm Ursmer Berlière, Jean Bernier de Fayt, abbé de Saint-Bavon de Gand, 1350-1395, d'après des documents vaticans, in: Annales de la Société d'Émulation de Bruges 56 (1906), 359-381; 57 (1907), 5-43, hier bes. Bd. 56, 361f. und 57, 37.
[38] Schreiben vom 9. Mai 1244 und vom 12. August 1247, ed. Simonsohn (Anm. 14), 180f. und 196f., Nr. 171 und 187.
[39] Innocenz IV., Kommentar zu "Quod super" (X 3.34.8) (Ausgabe Lyon 1535 fol. 164vb), zu benutzen mit den Emendationen von Benjamin Z. Kedar, Canon Law and the burning of the Talmud, in: Bulletin of Medieval Canon Law, N.S. 9 (1979), 79-82.
[40] A. Funkenstein, Changes in the
Patterns of Christian Anti-Jewish Polemic in the Twelfth Century, in: Zion 33
(1968), 125-144 (hebr.); eine gekürzte Fassung dieses Artikels in: Basic Types
of Christian Anti-Jewish Polemics in the Later Middle Ages, in: Viator 2
(1971), 373-382.
[41] Cohen (Anm. 36).
[42] Frantisek Graus, Pest - Geißler - Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86), Göttingen 1987.
[43] Das England des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit gilt bekanntlich als das Beispiel eines Antisemitismus ohne Juden. Man darf dabei freilich nicht außer acht lassen, daß die insulare Lage Großbritanniens denn doch nicht so ausgeprägt war, daß die Verhältnisse auf dem Kontinent als gänzlich außerhalb des eigenen Horizonts liegend empfunden wurden.
[44] Dazu eingehend Albert A. Sicroff,
Les controverses des statuts de "pureté de sang" en Espagne du XVe
au XVIIe siècle, Paris 1960.
[45] Zuletzt Graus (Anm. 42), bes. 307f., 529ff.
[46] Es ist von Amos Funkenstein richtig bemerkt worden, daß diese Tendenz seit dem 12. Jh. bereits zu beobachten ist, genau: seit Petrus Venerabilis, der es als erster fertigbrachte, dem Juden als Juden das Menschsein abzusprechen. Vgl. Funkenstein, (Anm. 40), 378; Patschovsky (Anm. 35), 9 mit Anm. 39.
[47] Für Raimundus Martini sei auf dessen Hauptwerk, den "Pugio fidei", verwiesen (zu benutzen in der Ausgabe von Jo. Benedict Carpzov, Leipzig / Frankfurt 1687). Als Beispiele der von diesem Werk den Ausgang nehmenden Tradition seien genannt: Porchetto de' Salvatici, ein aus prominenter Genueser Kaufmannsfamilie stammender Kleriker, der zu Beginn des 14. Jh. einen "Liber victoriae" des Christentums über das Judentum verfaßte; der ca. 1413/4 schreibende jüdische Konvertit und Polemiker Geronimo de Santa Fé, berüchtigt durch seine Beteiligung an der Zwangsdisputation von Tortosa; der aus vornehmer jüdischer Familie stammende Erzbischof Paul von Burgos mit seinem auf 1433 datierten "Scrutinium scripturarum"; Flavius Mithridates, der jüdische Lehrer Picos della Mirandola, kannte den "Pugio fidei", und geradezu exzessiven Gebrauch machte davon bekanntlich Petrus Galatinus in seinem 1518 erschienenen "Opus de archanis catholicae veritatis". Alfonsus de Spina schöpfte im übrigen aus beiden Traditionen: jener der Pariser Talmudverurteilung (siehe oben mit Anm. 29) wie aus Raimundus Martini; vgl. z.B. "Fortalitium fidei", lib. I, consideratio 3, primus thesaurus (Ausgabe Nürnberg 1494 fol. 25ra-vb) über die Ankunft des Messias zur Zeit der Zerstörung des zweiten Tempels. Vermittlungsstation für Alfonsus de Spina könnte, zumindest für einzelne Elemente, Geronimo de Santa Fé gewesen sein. Der gesamte wirkungsgeschichtliche Zusammenhang beider Traditionen der Talmudkenntnis - der von der Pariser Verurteilung und der von Raimundus Martini ausgehende - bedarf dringend der Aufarbeitung.
[48] Elemente einer positiven Wertung des zeitgenössischen Judentums finden sich zum Beispiel im joachitischen Strang spätmittelalterlicher eschatologischer Vorstellungen; dazu A. Patschovsky, Eresie escatologiche tardomedievali nel regno teutonico, in: L'attesa della fine dei tempi nel Medioevo, a cura di O. Capitani e J. Miethke (Annali dell'Istituto storico-germanico, Quaderno 28), Bologna 1990, 221-244, hier 232ff.
[49] Bislang kann man das nur vermuten. Es gibt bislang keine Untersuchung darüber, welchen Niederschlag das von der Pariser Talmud-Verurteilung ausgehende Schrifttum in katechetischen und moraltheologischen Werken, in der Sermones- und Exempel-Literatur gefunden hat, das heißt in der auf Massenwirkung zielenden spätmittelalterlichen Gebrauchsliteratur zu Händen der für die Seelsorge zuständigen niederen Geistlichkeit.