Das Göttinger Nobelpreiswunder
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In
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in Verbindung mit Nobelpreisen
keine andere Universität so oft genannt wie Göttingen. Wenn
es auch einen Nobelpreis für Mathematik gäbe, hätte Göttingen
wohl noch mehr Nobelpreise aufzuweisen. In der zweiten Hälfte des
vergangenen Jahrhunderts wurde Göttingen allerdings von US-amerikanischen
Universitäten wie etwa dem Massachusetts Institute of Technology
eingeholt oder sogar überholt.
Dieser außerordentliche Erfolg Göttingens im Wettlauf um die Nobelpreise ist als Göttinger "Nobelpreiswunder" bezeichnet worden. Dieses Wunder hat jedoch weder etwas Übernatürliches an sich, noch war es purer Zufall. Auffällig ist, dass Göttingens Preisträger vor allem aus den Bereichen Physik und Chemie kommen; Preisträger für Medizin, Literatur und Frieden sind weniger zahlreich, und für Wirtschaftswissenschaften gibt es gar keinen. |
Ein Hauptgrund für das "Nobelpreiswunder" war, dass die Universität, die seit 1866 zum preußischen Hochschulsystem gehörte, Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum für Mathematik und Physik ausgebaut wurde. Dies war Teil der Bestrebungen der Regierung in Berlin, anknüpfend an lokale Traditionen bestimmte Fächer an ausgewählten Universitäten zu konzentrieren und dadurch u.a. Finanzmittel einzusparen. Die Göttinger Universitätstradition war geprägt durch Persönlichkeiten wie Carl Friedrich Gauß und Friedrich Wöhler. Etwa um 1900 entstanden dann in Göttingen eine Reihe neuer wissenschaftlicher Institute für Physik, angewandte Elektrizitätslehre, angewandte Mathematik und Mechanik, physikalische Chemie und Geophysik.
Der Reformgedanke einer "wissenschaftlichen Schwerpunktbildung" wurde im preußischen Kultusministerium von Friedrich Althoff (1839-1908) vertreten. In Göttingen betrieb seit 1886, neben anderen, der Mathematikprofessor Felix Klein (1849-1925) die Umsetzung von Althoffs Politik. Eine von vielen Neuerungen war die Etablierung der physikalischen Chemie, wozu Walther Hermann Nernst (1864-1941; Nobelpreis für Chemie 1920) für Göttingen gewonnen werden konnte. Klein zog auch den Mathematiker David Hilbert (1862-1943) nach Göttingen. Außerdem wurden die angewandten Wissenschaften stark gefördert, und Klein gelang es, durch Zusammenarbeit mit der Industrie finanzielle Unterstützung für wissenschaftliche Einrichtungen zu erhalten.
Nobelpreise
dokumentierten bald den Erfolg von Althoffs und Kleins Reformwerk, besonders
während des sogenannten "Goldenen Zeitalters" der mathematisch-physikalischen
Wissenschaften in Göttingen nach dem Ersten Weltkrieg. Es endete mit
der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten. Damals wurden
Max Born (1882-1970), Richard Courant (1888-1972), James Franck (1882-1964),
Viktor Moritz Goldschmidt (1888-1947) und viele ihrer weniger berühmten
Kollegen zur Emigration gezwungen, und man war sich bewusst, dass das "Goldene
Zeitalter" zuende war. Als Max Born gemeinsam mit seinem ehemaligen Assistenten
Walther Wilhelm Georg Bothe (1891-1957) 1954 den Nobelpreis für Physik
erhielt, geschah das in Anerkennung ihrer Arbeiten in den frühen Göttinger
Jahren.
Nach
dem Zweiten Weltkrieg gestatteten die Engländer Otto Hahn (1879-1968;
Nobelpreis für Chemie 1944), die Übersiedlung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
nach Göttingen zu organisieren, das in ihrer Besatzungszone lag. Sie
bestanden jedoch auf der Änderung des Namens zu "Max-Planck-Gesellschaft"
(1948). Max Planck (1858-1947; Nobelpreis für Physik 1918) selbst zog
ebenfalls nach Göttingen und wurde zum Ehrenpräsidenten der Max-Planck-Gesellschaft
ernannt. Außerdem betrauten die Engländer Werner Heisenberg (1901-1976;
Nobelpreis für Physik 1932) mit der Leitung des Wiederaufbaus und der
Entnazifizierung der Physik in Deutschland, und er wurde 1946 Direktor des
wiedererrichteten Kaiser-Wilhelm-Instituts (ab 1948 MPI) für Physik.
Weitere Nobelpreisträger kamen nach Göttingen, darunter Max von
Laue (1879-1960; Nobelpreis für Physik 1914). Göttingens jüngste
Nobelpreisträger Manfred Eigen (Nobelpreis für Chemie 1967) und
Erwin Neher (Nobelpreis für Medizin 1991, gemeinsam mit Bert Sakmann)
sind dem Max-Planck-Institut für physikalische Chemie (seit 1971 MPI
für biophysikalische Chemie) verbunden.
Nicolaas Rupke