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Kapitel 2 - Schenkungen vollständiger Sammlungen| Übersicht |


9 Das erste Bilderbuch der Reformation

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Martin Luther; Lucas Cranach d. Ä. [mutmaßl.Verf.]:
Passional Christi und Antichristi in Holzschnitten.
[Wittenberg:] [Johann Rhau-Grunenberg,] [1521].
Signatur: 4° Bibl. Uff. 639
Provenienz: Johann Friedrich Armand von Uffenbach, 1769/70

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4 ° Bibl. Uff. 639 (Ausschnitt)
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Im Jahre 1521 erschien in Wittenberg, dem geistigen Zentrum der Reformation, zunächst in lateinischer, dann in deutscher Sprache ein Werk, das bald eine Schlüsselstellung innerhalb der antipäpstlichen polemischen Druckgraphik des 16. Jahrhunderts einnehmen sollte. Als „das erste Bilderbuch der Reformation“ (Kumer), eine Holzschnittfolge, die von kurzen Texten begleitet wird, sprach das Passional Christi und Antichristi nicht nur ein gebildetes Publikum an, sondern war auch dem Leseunkundigen unmittelbar verständlich. Die Entstehungszeit des Werkes fällt zwischen den endgültigen Bruch Martin Luthers (1483 – 1546) mit Papst Leo X. (Ende 1520) und die Verhängung des Wormser Edikts über den Reformator (im Mai 1521). Es ist vermutlich ein Gemeinschaftswerk Luthers, seiner Mitstreiter Philipp Melanchthon (1497 – 1560) und Johann Schwertfeger sowie seines Freundes und „Reformationsmalers“ Lucas Cranach d. Ä. (1472 – 1553). Auf einander gegenüberliegenden Seiten vereint das Werk in lehrhafter Manier dreizehn einprägsam gestaltete, antithetische Bildpaare. Sie stellen Szenen aus dem Wirken und Leidensweg Christi und aus einem mit dem Antichristen gleichgesetzten Papsttum dar, das sich über Gott und die weltliche Obrigkeit erhebt und durch rein materielles Macht- und Besitzstreben charakterisiert ist. Unter den Bildern sind Zitate aus der Bibel und der römischen Kirchengesetzgebung sowie Glossen der Verfasser angeordnet, die zentrale reformatorische Anliegen transportieren. Die Schlussantithese wird durch eine Darstellung der Himmelfahrt Christi und des Höllensturzes des Papstes gebildet.

Das Werk führt transformierend eine Fülle von religionsgeschichtlichen, literarischen und ikonographischen Traditionen und Impulsen zusammen (mittelalterliche Passionalliteratur und Antichristlegenden, Biblia Pauperum, Schriften John Wyclifs und des Hussitentums). Es erfuhr eine weite Verbreitung und wurde im 16. Jahrhundert in verschiedensprachigen Ausgaben nachgeschnitten und nachgebildet. Eine interessante Aktualisierung fand es 1873 im Kontext des Kulturkampfes mit der Herausgabe einer Faksimileausgabe des Wittenberger Drucks: Ihr waren zwei aneinander gerichtete Briefe Wilhelms I., König von Preußen, und Papst Pius IX. vorangestellt, die den Konflikt zwischen dem Königreich Preußen und der römisch-katholischen Kirche widerspiegeln.

Aufgeschlagen ist ein Bildpaar, das einen zentralen, bereits in den 95 Thesen des Jahres 1517 manifesten Kritikpunkt Luthers zum Inhalt hat: den Ablasshandel. Einander gegenübergestellt sind die Vertreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel durch Christus und der Ablassverkauf durch Papst und Klerus.

(SG)