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Kapitel 9 - Aus den Bibliotheken privater Büchersammler | Übersicht |


95 Eine hussitische Bildsatire
aus dem 15. Jahrhundert

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Illuminierter Hussitenkodex, tschechisch.
Papierhandschrift,
Böhmen, 2. Hälfte 15. Jahrhundert.
Signatur: 2° Cod. Ms. theol. 182 Cim.
Provenienz: David Gottfried Schoeber, 1776

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2° Cod. Ms. theol. 182 Cim. (Ausschnitt)
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Der durchgängig illuminierte, in tschechischer Sprache verfasste Kodex gehört zu den wenigen erhaltenen bildnerischen Werken des frühreformatorischen Hussitentums. Die 43 Papierblätter umfassende Handschrift entstand vermutlich in den 60er Jahren des 15. Jahrhunderts im Auftrag eines Vertreters der Utraquisten. Sie ist eine von nur zwei bisher bekannten Bildsatiren, die den Gegensatz zwischen dem unverdorbenen Urchristentum und der verderbten zeitgenössischen Kirche gestalten. Die zweite Handschrift, den Jenaer Kodex, seit 1548 im Besitz der Jenaer Universitätsbibliothek, übergab Wilhelm Pieck anlässlich seines ersten Staatsbesuches 1951 in der Tschechoslowakei nach Prag; sie wird seitdem im dortigen Nationalmuseum verwahrt. Beide Werke gehen auf ältere Vorlagen zurück, die ihrerseits auf Schriften des hussitischen Gelehrten Nikolaus von Dresden fußen, vor allem auf dessen Traktat Tabulae veteris et novi coloris seu cortina de antichristo (1412).

In didaktischer Zielsetzung stellt die Handschrift dem tugendhaften Leben Christi und seiner Jünger, aber auch anderer biblischer Gestalten und Heiliger, den verfehlungsreichen Lebenswandel der zeitgenössischen Geistlichkeit gegenüber; angeprangert werden etwa das weltliche Besitz- und Machtstreben der Kirche, der Missbrauch ihrer Autorität, die Unkeuschheit des Klerus, Kleiderordnung und Idolatrie. Die einfachen, derben, spärlich kolorierten Federzeichnungen beschränken sich zumeist auf die Darstellung einer knapp umrissenen Szene, in der handelnde Personen im Mittelpunkt stehen. Ihnen sind kurze Texte beigegeben, Zitate aus der Bibel und anderen Schriften sowie knappe Erläuterungen und Glossen zur dargestellten Handlung. Historisch verbürgt ist ein Bericht über den Mord eines Priesters an seinem eigenen Kind (Bericht Zd?nek Kostkas auf dem außerordentlichen Landtag zu Prag 1462); außerdem enthält der Kodex dokumentarische Schilderungen aus der hussitischen revolutionären Bewegung.

Aufgeschlagen ist Bl. 35r, das den unkeuschen Lebenswandel der Ordensgemeinschaften zum Inhalt hat: „Viele scheinen den Menschen heilig zu sein, doch vor Gott sind sie verdammt“, wie eine an zentraler Stelle des Bildes angebrachte Inschrift lautet. In der Mitte eines Klostergartens sitzen eng umschlungen ein Mönch und eine Nonne. Links von ihnen steht der „Baum des sündigen Verlangens der Nonnen“, aus denen Nonnen sich Mönche, rechts von ihnen der „Baum der Unzucht der Mönche“, aus denen Mönche sich Nonnen schütteln. Auf dem gegenüberliegenden Bl. 34v ist Joseph dargestellt, der sich der ihn am Kleidersaum ziehenden Gattin des Potiphar widersetzt (vgl. 1 Mose 39).

(SG)