Wenn ich nach den Erzählungen der Griechen die Bäume aufzählen soll, die
noch jetzt erhalten sind und grünen, dann ist am ältesten von ihnen der
Lygosbaum, der im Heiligtum der Hera in Samos wächst, nach ihr die
Eiche in Dodona und der Ölbaum auf der Akropolis und der in Delos;
(Paus.8.23.5)

 

VI.    Schlußbemerkungen: Die Eiche und ihr Kult

Bei dem Phänomen des dodonäischen Baumes ist zunächst festzustellen, daß er in den antiken Quellen sowohl fhgoV als auch druV genannt wird.945 Es handelt sich hierbei jedoch eindeutig um denselben Baum, wie aus den Textzusammenhängen zu schließen ist. Zudem werden die beiden Begriffe auch in anderen Bezügen synonym verwendet: So wird die fhgoV am Skäischen Tor vor Troja in der Ilias von Homer zu druV in den Scholien zur Ilias.946 Der Grund für die unterschiedliche Bezeichnung ist wohl darin zu sehen, daß druV eher als Allgemeinbegriff und fhgoV hingegen als Spezialbegriff für eine bestimmte Baumart zu verstehen ist.947 Vielfach wird versucht, die Bezeichnung fhgoV von dem allgemeinen druV abzusetzen, weil in der etymologischen Herleitung von fagein ein Anhaltspunkt für die Identifikation gesehen wird. Man übersetzt fhgoV mit ‘Speiseeiche’ und schließt auf Arten mit bitterstoffarmen, süßen Früchten, besonders auf Quercus macrolepis.948 Grundlegend stellt sich die Frage, ob es sich bei fhgoV tatsächlich um eine Eiche handelt, oder ob unter Umständen eine andere Baumart, wie beispielsweise eine Kastanie oder eine Buche gemeint sein könnte.949 Die allgemein vertretene Ansicht der Identifizierung als Eiche hielt auch Nilsson für zweifelhaft und schrieb noch 1955: "Tatsächlich wissen wir nicht einmal, ob der heilige Baum in Dodona eine Eiche war."950 Einen neuen Versuch, diese Frage zu beantworten, unternahm 1990 Herzhoff in seinem Aufsatz ‘FhgoV. Zur Identifikation eines umstrittenen Baumnamens’.951 Anhand der Ilias, der älteren Texte über den Orakelbaum von Dodona und den Schriften des Theophrast überprüfte er diese Zeugnisse der griechischen Literatur auf botanische, vor allem auf ökologische und pflanzengeographische Aussagen hin.952 Es gelang ihm überzeugend darzulegen, daß mit dem Baumnamen FhgoV eine oder mehrere bestimmte Eichenarten gemeint sind. Im speziellen Fall von Dodona konnte die Eichenart Quercus trojana bestimmt werden. Diese Identifikation beruht in nicht geringem Maße auf dem Waldgleichnis in der Ilias, denn Herzhoff versuchte die FhgoV auf pflanzensoziologischem Wege über ihre Begleitpflanzen Esche und Kornelkirsche zu bestimmen. In dieser Verbindung kann die Eichenart Quercus macrolepis nicht wachsen, da sie anderer ökologischer Voraussetzungen bedarf.953 Die passende Eichenart hingegen ist die Quercus trojana.954 Sie zeichnet sich durch ganzrandige Blätter aus, die an Buchen erinnern; typisch ist der kurze Blattstiel, leicht keilförmige Blattbasis und weitwinklig sachte Lappung; weiterhin sind die zungenförmigen, teilweise abspreizenden Becherschuppen charakteristisch, die denen der Quercus macrolepis ähneln. Diese spezielle Eichenart kann da, wo ihre Äste nicht gescheitelt werden, hohe rundkronige Solitärbäume bilden, die bis zu 18m hoch werden können. Die Identifizierung der dodonäischen Eiche als Quercus trojana bestätigt Herzhoff neben seinen ökologischen und pflanzengeographischen Untersuchungen auch durch archäologisches Fundmaterial. Die gefundenen Eichenblätter (F345, F344) und Eicheln (F643) deutet er als tatsächliche Nachbildungen des Orakelbaumes und erklärt sie typisch für die Quercus trojana.955 Als weitere Fundstücke mit der Darstellung der Eiche, die Herzhoff zwar unberücksichtigt läßt, aber wohl auch dieser Eichenart zuzuschreiben sind, gehören eine zweite Eichel (F644), der Münztypus mit der Eiche (Taf.50 unten rechts) sowie ein Bronzeplättchen (F366). Bis in den Frühling hinein hält die Quercus trojana, wie andere Eichenarten, ihre alten Blätter an den Ästen. Charakteristisch ist hierbei ihre von weitem auffallende Bronzefärbung, insbesondere an sonnigen Tagen.956 Vorstellbar ist es nun, daß die Blätter durch die Winde zum Rauschen gebracht wurden, was dazu geführt haben könnte, daß beispielsweise Sophokles (Q15) und Platon (Q28b) von einer sprechenden Eiche berichten.

Wie die Ausführungen gezeigt haben, deutet vieles darauf hin, den in den Quellen genannten Heiligen Baum von Dodona als Quercus trojana zu identifizieren. Selbst unter der Prämisse, daß in Dodona nicht nur von einer, sondern von mehreren Eichen, die zu unterschiedlichen Zeiten existierten, auszugehen ist, wird wohl die Eichenart immer dieselbe gewesen sein. Dennoch bleibt ein Restzweifel bestehen, da keine naturwissenschaftlichen Untersuchungen vorgenommen wurden. Obgleich der Ausgräber den Graben T-T1-T2 (Taf.8) als den ursprünglichen Standort der Eiche angenommen hat, erwähnt er keinerlei botanische Überreste, die eine solche Annahme bestätigen. Seine Aussage, der Baum wurde mitsamt den Wurzeln während der christlichen Verwüstung am Ende des 4. Jahrhunderts n.Chr. ausgegraben, ist nicht hundertprozentig gesichert. Auch Nachgrabungen in dem genannten Areal wären wohl kaum aufschlußreich, da an dieser Stelle ein neuer Baum - ein Exemplar der Quercus pedunculiflora C.Koch - gepflanzt wurde (Taf.9 oben).957

Neben den literarischen Quellen, die die Existenz einer dem Zeus geheiligten Eiche in Dodona belegen, gibt es andere Hinweise, die die grundsätzliche Verbindung von Zeus und Eiche aufzeigen. Bereits bei Homer ist diese Assoziation mehrfach belegt, und so wird in der Ilias von einer sich in Troja befindlichen, dem Zeus heiligen Eiche gesprochen.958 Die Gefährten legen beispielsweise den Leichnam des Sarpedon "Unter die schöne Eiche des ägishaltenden Zeus hin".959 An anderer Stelle wird berichtet, wie Athene und Apollon sich einander an der Eiche begegnen und wie sich "..beide in Vogelgestalt gleich mächtigen Geiern auf die hohe Eiche Zeusvaters, des Halters der Ägis," setzen.960 Auch lehnte sich Apollon an seines Vaters Baum an, um dem Agenor im Kampf gegen Achill beizustehen.961 Weiterhin ist die trojanische Eiche für den Dichter eine ortsspezifische Markierung, denn an drei Stellen ist die Formel: "...zum skäischen Tor und der Eiche..." zu finden.962 Bei diesen Erwähnungen wird deutlich, daß die Eiche des Zeus in Troja einerseits als ‘Treffpunkt’ diente und andererseits als ‘Sicherheitsgarant’ für die trojanischen Krieger anzusehen ist. Zwei Elemente also, die auch für das Heiligtum von Dodona anzunehmen sind: Eine alleinstehende Eiche in exponierter Lage kann durchaus ursprünglich als ‘Kontaktadresse’ gedient haben, und die Funktion als ‘Sicherheitsgarant’ kann in übertragenem Sinne in der Funktion des Heiligtums als Asylstätte betrachtet werden.963 Das Element einer Orakelfunktion ist allerdings - im Gegensatz zu Dodona - nicht vorhanden. Grundsätzlich zeigen die Erwähnungen in der Ilias, daß zu Homers Zeit die Verbindung von Zeus und Eiche durchaus bekannt war. Diese Gemeinsamkeit erwähnt auch Pausanias: Auf dem Berg Lykaios in Arkadien zeigt sich der Charakter des Zeus als Gott der Eiche und des Regens deutlich in dem Regenzauber, den ein Zeuspriester vollführt, indem er bei langanhaltender Trockenheit einen Eichenzweig in die heilige Quelle tauchte. Zeigte sich Zeus gnädig, formierte sich sogleich eine regenspendende Gewitterwolke.964 In diesem Fall wurde Zeus also offenbar als Gott des Gewitters und des befruchtenden Regens betrachtet; eine Deutung, die ebenso für Dodona anzunehmen ist. Auch bei Ovid ist von Zeus und Eiche die Rede: Er erzählt von den Eicheln, die von Jupiters weitausladender Eiche stammen.965

Neben der sehr engen Verbindung von Zeus und Eiche ergibt die Durchsicht der literarischen Quellen auch Anhaltspunkte für die Verbindung zu anderen Göttern, die allerdings wiederum in Zusammenhang mit Zeus zu sehen sind: Der Zeusmutter Rhea scheint die Eiche heilig gewesen zu sein, da die Argonauten ihr einen Altar errichteten und sich mit Eichenlaub bekränzten.966 Auch für die Zeusgattin Hera ist dieser Baum belegt. Zu Ehren der Hera feierten die Bewohner von Plataia in Böotien alle vier Jahre ein Fest, die sogenannten Dädalien, bei dem das Bildnis der Nymphe Plataia - eine Hera-Rivalin - aus Eichenholz geschnitzt wurde. Dieser Ritus wurde zur Erinnerung an eines der zahlreichen Liebesabenteuer des Zeus vollzogen.967 Eine Verflechtung des Zeussohnes Herakles mit der Eiche ist mehrfach belegt: Unter einer Eiche am Oeta verbrannte sich Herakles, um von seinen Leiden befreit und der Göttlichkeit teilhaftig zu werden.968 Am Altar des Zeus Stratios im pontischen Herakleia pflanzte er zwei Eichen, und das Ende seines Lebens weissagte ihm der Orakelbaum von Dodona (Q14, Q15).969 Weiterhin zu erwähnen ist die Beziehung zu Demeter: Am Weg von Tegea nach Argos vor dem Partheniongebirge befand sich ein Eichenhain mit ihrem Heiligtum, wie auch in einem anderen Eichenhain bei Phigalia in Arkadien.970 Ovid berichtet von der Freveltat des Erysichthon, der im heiligen Hain der Demeter eine Eiche fällen wollte und dafür von ihr mit unstillbarem Hunger bestraft wurde.971 Schließlich ist bei Vergil auf die Verbindung von Ceres und Eiche aufmerksam gemacht.972 Für Artemis ist die Verbindung bei Kallimachos belegt, der erzählt, daß die Amazonen ihr ein hölzernes Götterbild unter einer schönstämmigen Eiche weihten.973 Von eher allgemeiner Art und Weise ist die Kombination von Pan und Eiche, von der Pausanias berichtet, denn es ist sicher nicht ungewöhnlich, daß Pan als wilder Berg- und Waldgott ebenfalls in Verbindung mit diesem Baum steht.974 Eine Eichenverehrung schildert Ovid in der Geschichte von Philemon und Baucis, die ihrem Wunsch gemäß, daß nie der eine des anderen Grab sehen möge, in eine Eiche und in eine Linde verwandelt werden. Sie wurden damit selbst Ort und Gegenstand kultischer Verehrung.975 Bei der Aufzählung der griechischen Verbindungsstränge zur Eiche dürfen letztendlich die Dryaden bzw. Hamadryaden nicht fehlen. Sie werden meist als Nymphen vorgestellt, deren Dasein eins ist mit ihrem Lebensbaum, aus dem sie sich verkünden, in dessen Nähe sie beständig weilen, an den sie sich klammern.976 Letztlich soll noch auf die sogenannte Phorbas-Eiche hingewiesen werden. Als Erinnerung an die Vergangenheit, in der der Dämonenkult noch blutige Menschenopfer forderte, wurden fortan anstelle der Menschenköpfe nur noch die Kleider an den heiligen Baum gehängt.977

Die Verknüpfungen der Elemente Eiche und Göttervater überschreiten die Grenzen Griechenlands, so wurde sie in Italien nicht weniger verehrt und steht dort in engem Verhältnis zu Jupiter.978 Die lateinischen Autoren haben uns die Erinnerung an zahlreiche heilige Eichen überliefert, von denen einige erwähnenswert sind: Beispielsweise legte Romulus die Kriegstrophäen auf dem Kapitol an einer Eiche nieder, wo später der Jupiter Feretrius seinen Tempel erhielt. Für Romulus gab es also keinen heiligeren Ort zur Aufbewahrung und Widmung seiner Ehrenbeute.979 Ein ähnlicher Baum stand auf dem Vatikanshügel.980 Auch dem römischen Kriegsgott Mars war die Eiche heilig, wie Sueton in der Kaiserbiographie des Vespasian berichtet, und eine schöne Beschreibung findet sich bei Lukan.981 Grundsätzlich ist dieser Baum vielen indogermanischen Völkern heilig. Seine Verehrung spielt auch bei den slavischen Völkern eine sehr große Rolle. Beispielsweise ist für die Bulgaren die Sitte überliefert, daß sie unter den Eichen den Gottesdienst abhielten, wenn im Dorf keine Kirche vorhanden war, und daß sie unter Eichen für Regen beteten und opferten. Auch bei den Kelten war sie dem höchsten Gott geweiht. Wie Maximus Tyrius berichtet, war das keltische Bildnis des Zeus eine hohe Eiche. Nach Plinius brachten die Druiden ihre Opfer in Eichenhainen dar. Die Eiche wurde bei den europäischen Indogermanen vor allem mit dem Gewittergott in Verbindung gebracht, bei den Germanen war sie der heilige Baum des Donar, und bei den Slawen war sie dem Perun gewidmet.982 Die Eiche war also dem höchsten Gott zueigen, und so gehört sie im griechischen Pantheon zu Zeus.

Als Ergebnis kann konstatiert werden, daß die Eiche in überragender Weise dem Göttervater, dem Sturm- und Donnergott, zugehörig ist. Dies steht sicherlich mit dem hohen Lebensalter in Zusammenhang. Die Annahme, nach der Eichen über 1000 Jahre alt werden können, ist, wie gezeigt, naturwissenschaftlich nicht zu belegen. Die Ursache für die übertrieben hoch angesetzte Lebensdauer ist wohl damit zu erklären, daß Eichen einen sehr großen Umfang erreichen können. Besonders alleinstehende Bäume, die keiner Konkurrenz durch andere Bäume ausgesetzt sind - wie beispielsweise in einem Wald - besitzen einen dickeren Stamm als andere. Außerdem hängt die Stammstärke in entscheidendem Maße von ihrem Standort ab, so zeigen Bäume in einer Auenlandschaft Jahresringe von 2-3mm, wohingegen Eichen auf trockenen Böden nur etwa 1mm dicke Zuwächse aufweisen. Der Umfang eines Baumes ist daher kein Gradmesser für sein Alter. Freistehende Eichen werden etwa mit 40-50 Jahren mannbar, d.h. sie blühen in diesem Alter zum ersten Mal. Die späte Mannbarkeit wird durch das hohe Alter wettgemacht. Weiterhin hängt die Verehrung bestimmt auch mit ihrer Größe zusammen. Eine Höhe von 20m ist durchaus vorstellbar.983 Die Höhe von Solitärbäumen ist auch die Ursache dafür, daß sie als besonders blitzgefährdet angesehen werden.984 Zwar wurde immer wieder versucht, der Eiche eine starke Blitzgefährdung zuzuweisen, was allerdings nicht biologisch begründbar ist. Diese Vorstellung wurde wohl durch eine alte Bauernregel geschürt, die besagt: ,Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen’. Wie Spurk meint, hängt dies wohl mit der Tatsache zusammen, daß vor allem alleinstehende Bäume häufig von Blitzen getroffen werden. Aber auch anderer Eigenschaften wegen wurde die Eiche von antiken Autoren gerühmt. Eine bedeutende Rolle bei ihrer Verehrung spielte wohl die Eßbarkeit der Eichel. So schreibt Herodot: "in Arkadien sind viel Eicheln essende Männer".985 Zu allen Zeiten dienten die Eicheln den Menschen und auch den Tieren als Nahrung. Wie neuere Ergebnisse der prähistorischen Archäologie bestätigen, war nicht einmal die Süßfrüchtigkeit Voraussetzung dafür, die Eicheln auf den menschlichen Speiseplan zu setzen, zudem wurden sie auch für fruchtbarkeitsfördernd und sogar für aphrodisisch gehalten.986 Gewissermaßen als zweite Frucht erscheinen die Galläpfel oder Gallen, die als runde Gebilde auf den Blättern sitzen.987 Wegen ihrer adstringierenden Wirkung fanden sie auch in der Medizin Anwendung. So waren sie bereits für Plinius eine Spielform der Natur zum Heilen von Wunden und Geschwüren. Theophrast unterscheidet zwischen den verschiedenen Treibsäften bei der Eiche; einer dieser Säfte treibe die Galläpfel aus.988 Nach Hesiod gewann man von ihr auch eine Art himmlischen Honig, der aus honigsüßem Tau bestand, der vom Himmel fiel und sich mit Vorliebe auf Eichenlaub niederließ.989 Das Holz der Eiche war als Bauholz geeignet und von besonders langer Lebensdauer. Wie Pausanias berichtet, stand zu seiner Zeit noch im Heraion von Olympia eine Säule aus Eichenholz.990 Ferner wurden aus ihrem Laub Kränze geflochten.991 Weniger in der griechischen als vielmehr in der nordischen Mythologie spielt die Mistel eine gewisse Rolle. Unter Berücksichtigung verschiedener Rituale wurde die Mistel von der Eiche getrennt und als apotropäisch angesehen. Die Funktion der Eiche als Tropaion ist ebenfalls belegt.992 Diese genannten Eigenschaften sprechen zwar für die Verehrung der Eiche und geben die Begründungen, weshalb sie verehrt wurde. Sie helfen aber nicht weiter bei der Frage, wie die Eiche in Dodona zu einem Orakelbaum wurde.

Die Vorstellung vom zukunftsverheißenden Baum ist wahrscheinlich aus dem Glauben an den Lebensbaum und an den Baum als Verkörperung der Fruchtbarkeit hervorgegangen. Damit geht einher, daß der Baum Menschen Glück und Unglück, Leben und Tod vorhersagen kann. Heute zeigen dies Bauernregeln: Beispielsweise besagt ein Sprichwort bei den Weißrussen, daß Wetter- und Erntekatastrophen eintreffen, wenn ein Teil des Laubes den Winter über an den Bäumen bleibt. Ebensolche Beispiele sind aus Böhmen und Mähren bekannt.993 Eine interessante Parallele zur Funktion von zukunftsweisenden Eichen ist aus dem Posener Gebiet bekannt, wo sich ausgedehnte Eichenwälder befinden.

"Wenn im September Spinngewebe an der Eichel ist, wird ein schlimmes Jahr sein. Wenn um sie viele Mücken herumfliegen, wird es eine mittlere Ernte geben. Wenn Würmer beginnen, die Eicheln anzubohren, so wird das Jahr fruchtbar und bis zur Erntezeit günstig sein. Eine völlig leere Eichel deutet auf Sterblichkeit und Brände. Ungewöhnlich hoher Ertrag an Eicheln bedeutet einen kalten Winter mit viel Schnee und reichlichen Fischfang. Ist der Eichelkern fest, so wird es viel Getreide geben, gleichzeitig aber auch Mordtaten und Werwölfe. Ist die Eichel kümmerlich, so muß man sich auf Hitze und Wassermangel vorbereiten. Feuchte Kerne der Eicheln bedeuten nasses Jahr und Überschwemmungen."994

Erdverbundene Vorhersagen für die Zukunft können auch für die ursprüngliche dodonäische Eiche in Betracht zu ziehen sein. Außerdem sind Geräusche, die von Bäumen ausgehen, in diese Reihe aufzunehmen, denn auch diese vermochten wohl zum Entstehen des Glaubens an ein Baumorakel beigetragen zu haben. Ist also nicht vorstellbar, daß die ‘Aussagen’, die die Eiche durch die Konsistenz ihrer Eicheln oder ihre Blätter oder ihre zahlreichen ‘Bewohner’ bezüglich des Wetters und des Ernteertrages machte, den Menschen dazu brachte, sie als prophetisch anzusehen? Und ist nicht ebenso vorstellbar, daß eine Eiche, die Aussagen über die lebenswichtige Agrarwirtschaft machen kann, auch bezüglich anderer Lebensbereiche kundig ist?

Hinzuweisen ist auch auf die Sitte des Baumschüttelns bei den Westslawen, für die ebenfalls eine zukunftweisende Bedeutung konstatiert wird. Diese Sitte soll die Ernte der Früchte darstellen und stellt einen Analogiezauber her. Interessant ist dies im Hinblick auf die zahlreichen glyptischen Darstellungen auf minoischen und mykenischen Gemmen und Goldringen. Dort wird ebenfalls das Baumschütteln dargestellt.995 Ein Goldring aus dem Schatz von Mykene zeigt vielleicht die schönste und durch ihre Details aussagekräftigste Darstellung der kultischen Verehrung einer Naturgottheit: Die unter einem mächtigen Baum sitzende weibliche Gestalt nimmt die Huldigung zweier Frauen entgegen, von denen sie mit Lilienkränzen beschenkt wird. Es handelt sich um eine kultische Handlung in einem durch die Doppelaxt gekennzeichneten heiligen Bezirk. Sonne, Mond und Wellenlinien im oberen Teil des Bildes versinnbildlichen das himmlische Gewölbe; hinter der Thronenden zieht eine weitere Gestalt Früchte des Baumes zu sich herunter (Taf.59 unten).996 Nilsson erklärt grundsätzlich die Darstellungen eines Mannes oder einer Frau, die einen Baum zu sich herabzubiegen scheinen (Taf.59 Mitte), als kompositionellen Zwang des Siegelrundes, was nur das Berühren eines Baumes bedeuten soll. Diese Agitation im minoisch-mykenischen Bereich wurde bislang allerdings nicht eindeutig geklärt, und so soll an dieser Stelle einmal grundsätzlich die Frage aufgeworfen werden, ob dies vielleicht mit einem zukunftsweisenden Ritual zusammenhängen könnte.997

Auf der ganzen Welt überliefern die Völker zu allen Zeiten unterschiedlichste Zeugnisse von Heiligen Bäumen: Sei es die Weltesche des Yggdrasil, der Baum des Lebens in der Bibel, die Hochzeit der Bäume in Indien, der Maibaum oder der Christbaum in unserer heutigen Gesellschaft. Die Verehrung eines Baumes hat keine grundsätzlich übereinstimmende Ursache, sondern der Baum konnte als wirklicher Mikrokosmos, als Bild des Kosmos (imago mundi), als Mittelpunkt der Welt und als Stütze des Universums (axis mundi), als mystische Bande zwischen Bäumen und Menschen und als Symbol der Auferstehung der Vegetation (Lebensbaum) verehrt werden. Allen gemein ist allerdings, daß der Baum den lebendigen Kosmos repräsentiert. Er wächst, verkörpert die Jahreszeiten und irgendwann ist sein Leben beendet. Für den griechisch-römischen Kulturkreis wurde diese sehr naturnahe Verehrung des Baumes durch die Ausbreitung des Christentums radikal beendet. Das Ende setzte mit den ersten christlichen Kaisern Roms ein. Theodosius untersagte im 4. Jahrhundert n.Chr. die Verehrung heiliger Bäume. Fanatische Christen zerstörten neben Tempeln, Götterbildern, heiligen Stätten etc. auch geweihte Bäume, da sie Zeugnisse heidnischen Glaubens waren. Augustinus drohte in einer seiner Schriften

"Wer irgendwo auf seinem Acker oder seinem Gehöfte oder neben demselben, etwa Bäume, Altäre oder sonstige Weiheorte besitzt ... und (er) solche nicht vernichtet oder nicht diesem unheiligen Treiben wehrt, der wird sich der Teilnahme an solchen Sakrilegien schuldig machen."998

Während die Baumheiligtümer im Zuge der christlichen Missionierung allmählich verschwanden, blieb die vielschichtige gleichnishafte Symbolik des Baumes in der neuen Religion erhalten. War die dodonäische Eiche im 2. Jahrtausend v.Chr. ein Zufallsprodukt der Natur, so wurde sie im Laufe der Zeit ein Symbol der Verehrung und als prophetisch angesehen. Selbst die heidnischen Kulte ablehnenden Anfänge des Christentums konnten nicht verhindern, daß sich die Erinnerung an die heilige Eiche über die Jahrhunderte hinweg erhalten hat. Im zweiten nachchristlichen Jahrtausend bezog sie Lord Byron in seine Poetik mit ein und ein anderer Künstler aus derselben Epoche nahm sie zum Vorbild für seinen Kupferstich (Taf.61). Heute lebt die Erinnerung an den Orakelbaum in einer neuen Eiche im alten Zeusheiligtum von Dodona (Taf.9 oben) wieder auf.

 

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