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Gauß und der gekrümmte Raum

Im Zusammenhang mit der Vermessung des Königreichs Hannover hatte Gauß eine spektakuläre Idee. Er dachte, es könnte sein, dass der Raum gekrümmt ist und hat versucht es zu messen. Wir erklären zuerst, was ein gekrümmter Raum bedeutet, bevor wir auf die Messung von Gauß eingehen. Für diese Überlegungen ist es nicht notwendig, darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Zeit auf verwirrende Weise mit dem Raum zusammenhängt, weil dieser Effekt nur bei extrem hohen Geschwindigkeiten auftritt. Wir lassen also die Zeit völlig aus dem Spiel.

 

Was sind gekrümmte Räume?

Wie können sich (mathematisch denkbare) Räume überhaupt unterscheiden, was charakterisiert einen Raum eigentlich als "gekrümmt"? In einem Satz formuliert besteht ein Raum immer aus Punkten (meistens unendlich vielen) und eindeutigen Abständen zwischen allen Punktpaaren.

Versuchen wir zuerst zu verstehen, wie wir unseren Raum aus dem täglichen Leben kennen. Ganz wesentlich ist, dass der Raum dreidimensional ist. Das lässt sich nicht aus irgendwelchen mathematischen Gesetzen schließen sondern nur beobachten. Es könnte genauso gut ein Universum geben, das zweidimensional oder vierdimensional ist. Das ist schnell behauptet, aber in allen unvoreingenommenen (z.B. nicht durch ein Physikstudium verdorbenen) Geistern sträubt sich alles gegen einen nicht dreidimensionalen Raum. Stellen wir uns z.B. vor, der Raum wäre zweidimensional, das Universum wäre eine unendlich ausgedehnte Ebene. Dann ist man versucht zu fragen, was wäre dann über und unter der Ebene? Vakuum? Oder noch nicht einmal? Die Frage ist aber genauso sinnlos wie bei dem Universum, das wir kennen, die Frage "Was ist außerhalb unserer drei Raumdimensionen? 4D-Vakuum? Oder vielleicht 7D-Vakuum?". In einem zweidimensionalen, ebenen Universum gibt es kein "über und unter der Ebene", deshalb hat es auch keinen Sinn zu fragen, was dort ist. Wir stellen also fest, dass der Raum 3 Dimensionen hat, dass es aber auch anders sein könnte.

Räume unterscheiden sich aber nicht nur durch die Zahl ihrer Dimensionen sondern auch durch ihre innere Struktur, die durch die Abstände zwischen ihren Punkten gegeben ist.

Die Oberfläche einer Kugel ist ein gekrümmter Raum. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist das Analogon zu einer geraden Linie im ungekrümmten Raum.

An dieser Stelle wird es Zeit für ein Beispiel, auf das wir später noch mehrfach zurückkommen werden. Die Oberfläche einer Kugel ist ein zweidimensionaler Raum. Der Abstand zwischen zwei Punkten des Raumes, d.h. zwei Punkten auf der Kugeloberfläche, wird definiert als die Länge des kürzesten Weges von einem Punkt zum anderen auf der Kugeloberfläche. Solche kürzesten Wege stellen immer die "geraden Linien" in einem beliebigen Raum dar.

Diesen Raum (nennen wir ihn OK) stellt sich natürlich jeder Mensch vor, indem er an die 3D-Kugel denkt, deren Oberfläche OK bildet. Aber - und darauf wollen wir hinaus - den Raum OK gibt es auch unabhängig von der Existenz eines 3D-Raumes. Was heißt das? Wir können OK mathematisch so definieren, dass wir gar nicht von einer 3D-Kugel sprechen, indem wir angeben, welche Punkte dazugehören sollen, und wie die Abstände zwischen den Punkten sind. Das würde etwa so aussehen:

Ein Punkt in OK ist ein Paar von Winkeln (phi, theta), wobei phi größer oder gleich 0° und kleiner 360° ist. Theta ist größer oder gleich -90° und kleiner oder gleich 90°. (Phi ist der Längengrad, theta ist der Breitengrad.) Zwei Punkte sind genau dann gleich, wenn beide phis und beide thetas gleich sind, oder wenn theta bei beiden Punkten 90° ist (Nordpol), oder wenn theta bei beiden Punkten -90° ist (Südpol). Der Abstand zwischen zwei Punkten (phi1, theta1) und (phi2, theta2) ist der Winkel alpha, der zwischen 0° und 180° liegt und für den gilt cos(alpha) = cos(theta1)*cos(theta2) + sin(theta1)*sin(theta2) * (cos(phi1)*cos(phi2)+sin(phi1)*sin(phi2)).

Die Rechnung müssen Sie dabei nicht nachvollziehen. Wichtig ist nur, dass damit alles über die Struktur OK gesagt ist, nämlich welche Punkte dazu gehören und wie die Abstände zwischen den Punkten sind. Und wir haben bei der Definition von OK diesmal weder einen dreidimensionalen Raum noch eine 3D-Kugel gebraucht. (Natürlich ist die Definition ziemlich grauenhaft, weil sie sehr wenig anschaulich ist. Das ändert aber nichts an unserem Argument.)

 

Die gleichmäßigen Abstände zwischen den Punkten eines Rechenpapiers kann man in gekrümmten Räumen nicht realisieren.

Der Raum OK unterscheidet sich in verschiedenen Eigenschaften von der zweidimensionalen Ebene. Erstens hat er nur eine endliche Fläche. Dann gibt es "gerade" Linien, die geschlossen sind. (Wie schon Kolumbus erkannte: wenn man auf einer Kugel immer geradeaus geht, kommt man wieder am Ursprungsort an.) In OK gibt es auch z.B. kein (unverzerrtes) Rechenpapier, sehr zur Freude der dort lebenden Schulkinder. Sehr zum Leidwesen der Fliesenleger kann man in OK quadratische Fliesen nicht lückenlos aneinander legen.

Man kann sich einen ungekrümmten n-dimensionalen Raum (auch "euklidisch" genannt) vorstellen als einen Raum, den man mit n-dimensionalen quadratischen Fliesen ohne Lücken auslegen kann. In drei Dimensionen wären das Würfel. In euklidischen Räumen gilt außerdem: Die Summe der inneren Winkel in einem Dreieck ist immer 180°.

 

Die Winkelsumme eines Dreiecks auf der Oberfläche einer Kugel ist größer als 180°.

Und was ist ein Dreieck in einem allgemeinen Raum, der vielleicht nicht euklidisch ist? Ganz einfach: Man nimmt drei Punkte und verbindet sie durch gerade Linien, d.h. durch kürzeste Verbindungen. Also z.B. bei der Kugeloberfläche OK (nehmen wir die Erde als Kugel) die drei Punkte Paris, Nairobi und Tokyo, verbunden durch die direkten Flugverbindungen. Und was ist mit der Winkelsumme? Die ist jetzt größer als 180° geworden! (Davon überzeugt man sich z.B. mit einem Globus. Oder man nimmt statt der drei Städte den Nordpol und zwei Punkte auf dem Äquator, die z.B. 10.000km voneinander entfernt sind. Dann hat man drei 90° Winkel, also eine Winkelsumme von 270°.)

Nun kann man natürlich einwenden, dass es kein Wunder ist, wenn wir (im wörtlichen Sinne) auf Biegen und Brechen ein Dreieck auf der Kugeloberfläche definieren, wenn dann merkwürdige Dinge mit der Winkelsumme passieren. O.k., zugestanden, jetzt aber überlegen wir uns folgende hypothetische Universen.

Zuerst gehen wir wieder in die unendliche Ebene. In der Ebene leben zweidimensionale intelligente Wesen, die Dreiecke konstruieren und feststellen, dass die Winkelsumme 180° beträgt. Wenn sie zwischen zwei Punkten die kürzeste Verbindung suchen, bedienen sie sich ihrer 2D-Laserpointer und der Tatsache, dass Lichtstrahlen immer den kürzesten Weg nehmen.

Jetzt gehen wir in ein Universum, das der Oberfläche einer Kugel mit einem Durchmesser von - sagen wir - 1000 Lichtjahren entspricht. Das Universum hat also die Struktur von OK, ist wieder zweidimensional, es gibt dort eine Sonne (eine Scheibe auf der Kugeloberfläche), eine Erde und auf der Erde wieder intelligente 2D-Wesen. Auch sie haben wieder Laserpointer und auch in ihrem Raum nehmen Lichtstrahlen immer den kürzesten Weg. Auch sie definieren sich wieder ein Dreieck in ihrer OK-Welt und messen die Winkelsumme. Und was kommt heraus? Das hängt davon ab, wie genau sie messen können. Da ihr Universum so groß ist, müssen sie schon sehr große Dreiecke supergenau vermessen, um einen Unterschied zu 180° festzustellen. Aber im Prinzip könnten sie feststellen, dass sie nicht in einer Ebene sondern in einem "gekrümmten Raum" leben.

Hier ist noch einmal die Warnung von oben angebracht. Wir sprechen davon, dass das Universum die Struktur von OK hat. Es gibt aber in diesem Gedankenmodell kein dreidimensionales Universum, in dem eine Kugel existiert, auf deren Oberfläche sich die 2D-Sterne, Wesen, etc. tummeln. Sondern es gibt nur diesen zweidimensionalen Raum OK und nichts sonst. Nur seine Eigenschaften (Winkel, Entfernungen, etc.) sind so, wie die der Oberfläche einer gedachten, riesigen Kugel im gedachten 3D-Raum.

Jetzt endlich gehen wir den letzten Schritt. Man kann auch im vierdimensionalen Raum eine Kugel definieren. Diese 4D-Kugel kann man sich zwar nicht vorstellen im Sinne von "vor das geistige Auge stellen", mathematisch ist die Verallgemeinerung aber unproblematisch. Die 4D-Kugel hat eine dreidimensionale "Oberfläche". Nehmen wir jetzt an, es gibt ein dreidimensionales Universum, das der "Oberfläche" einer 4D-Kugel mit einem Durchmesser von - nochmal - 1000 Lichtjahren entspricht. In diesem Universum leben 3D-Wesen auf einer 3D-Erde, usw. Wenn diese Wesen ein großes Dreieck extrem genau ausmessen, dann stellen sie fest, dass die Winkelsumme größer als 180° ist. Und wenn sie nicht messen, bzw. nicht genau genug? Dann merken sie normalerweise gar nichts davon, dass ihr Raum gekrümmt ist.

 

Gauß' Idee und Messung

Es könnte also sein, dass wir diese Wesen im zuletzt definierten Universum sind und nur deshalb nichts davon merken, da das Universum so groß und die Krümmung so schwach ist. (Tatsächlich ist unser Universum noch viel größer als die genannten 1000 Lichtjahre.) Es könnte auch sein, dass wir in einem Universum leben, dessen Raum weder unendlich, euklidisch dreidimensional (so wie wir es uns meistens vorstellen) ist, noch die Struktur von OK hat. Wir könnten sogar in einem Raum leben, der an unterschiedlichen Stellen unterschiedlich stark gekrümmt ist. Genau das ist übrigens der Fall.

Gauß hat erkannt, dass unser Universum gekrümmt sein könnte. Das heißt er hat erkannt, dass die Frage, ob der Raum gekrümmt ist, nicht mathematisch also nur durch logische Überlegungen beantwortet werden kann, so wie man etwa beweisen kann, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Die Frage muss physikalisch beantwortet werden: Wir müssen uns den Raum, in dem wir leben, anschauen und sehen, ob er gekrümmt ist oder nicht. Ähnlich wie wir nur durch Beobachtung feststellen können, dass die Erde der dritte große Planet von der Sonne aus gesehen ist und nicht der vierte. Für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Raumkrümmung eine ungeheuer gewagte Idee. Sie zeigt, dass Gauß nicht nur in der Lage war, vom menschlichen Erfahrungsbereich zu abstrahieren. Er war auch bereit, außerhalb dieses Erfahrungsbereichs konstruierte Gedankengebäude als Erklärungsmodelle der realen Welt zu akzeptieren.

Gauß hat selbstverständlich auch geprüft, ob er eine schwache Raumkrümmung messen kann. Bei der Landvermessung führte er hochpräzise Winkelmessungen von großen Dreiecken zwischen den Vermessungspunkten durch. Die Messungen kombinierte er über das gesamte Königreich Hannover. Nach Berücksichtigung der Erdkrümmung konnte er die Winkelsumme von Dreiecken mit mehreren hundert Kilometern Seitenlänge berechnen. Das Ergebnis war: Wenn der Raum gekrümmt sein sollte, dann nur so schwach, dass es seiner Messung entging. Da Gauß seine Messfehler immer genau bestimmte, konnte er auch angeben, wie stark der Raum höchstens gekrümmt sein kann, weil er es sonst gemessen hätte.

Bei den einzelnen Messungen peilte Gauß zuerst Kirchtürme und andere markante Punkte an. Später erfand er den Heliometer (das Original, das auf dem 10DM-Schein abgebildet war, liegt in Göttingen). Damit konnte er das Sonnenlicht so umleiten, dass ein künstlicher Stern, d.h. ein über viele Kilometer sichtbarer Lichtpunkt entstand. Wir wollen damit nicht in erster Linie auf die bewundernswerte Vielseitigkeit von C. F. Gauß hinweisen, sondern hervorheben, dass er mit Licht gemessen hat, also auch er schon (richtig) davon ausgegangen ist, dass das Licht den kürzesten Weg nimmt und deshalb die richtige Referenz darstellt.

Was Gauß nicht wissen konnte

Genau 50 Jahre nach Gauß' Tod veröffentlichte Albert Einstein die "spezielle Relativitätstheorie". Darin ging es um den Zusammenhang zwischen Raum und Zeit bei sehr hohen Geschwindigkeiten ("sehr hoch" heißt vergleichbar mit der Lichtgeschwindigkeit). Die Motivation kam von einem Experiment, mit dem Michelson und Morley nachgewiesen hatten, dass die Lichtgeschwindigkeit unabhängig von der Bewegung der Lichtquelle ist.

Ausgehend von der speziellen Relativitätstheorie entwickelte Einstein später die "allgemeine Relativitätstheorie", die zur Grundlage unseres Verständnisses der Gravitation, der anziehenden Kraft zwischen zwei Massen, geworden ist. Einstein geht in seiner Theorie davon aus, dass jede Masse den Raum in ihrer Umgebung krümmt. Diese Krümmung kann man am besten messen, indem man einen Lichtstrahl dicht neben einer großen Masse vorbeilenkt. Es gab auch einen Vorschlag, wie dies praktisch angestellt werden kann. Bei einer totalen Sonnenfinsternis sollte man die Position von Sternen bestimmen, die von der Erde aus gesehen dicht neben der Sonne stehen. Ein Lichtstrahl vom Stern passiert neben der Sonne den leicht gekrümmten Raum und erscheint an einer leicht verschobenen Position. Genau dieser Effekt wurde bei einer Sonnenfinsternis im Jahr 1919 nach mehreren erfolglosen Versuchen gemessen. Dass es einen Zusammenhang zwischen Masse und Raumkrümmung gibt, konnte Gauß nicht wissen.

Ebenso konnte er die Größe des Universums nicht abschätzen. Heute würde man annehmen, dass das Universum gut 1.000.000.000.000.000.000 Mal so groß ist wie das Königreich Hannover. Warum spielt das eine Rolle? Nehmen wir einmal an, dass das Universum insgesamt gekrümmt ist, weil es z.B. die Struktur der Oberfläche einer 4D-Kugel hat. Dann weicht die Winkelsumme in einem Dreieck von 180° leicht ab. Die Stärke der Abweichung hängt davon ab, wie das Größenverhätnis zwischen Dreieck und 4D-Kugel ist. Wie genau hätte Gauß also messen müssen? So genau, wie wenn man auf einer perfekten Kugel von der Größe der Erde ein Dreieck mit einer Größe von einem hundertstel Nanometer ausmisst (ein Bruchteil eines Atomdurchmessers), und an Hand der Winkelsumme versucht herauszufinden, dass das Dreieck nicht auf einer Ebene sondern auf einer Kugel liegt. Mit anderen Worten: Gauß hatte keine Chance. Umso mehr bewundern wir seine kühne Idee.

Kurioserweise ist Einsteins Todesjahr (1955) genau 100 Jahre nach Gauß' Todesjahr (und wie erwähnt liegt die spezielle Relativität genau dazwischen). Damit sind die beiden Pioniere des Raums noch zusätzlich durch das gemeinsame Jubiläum verbunden.