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V. Das Buch als Medium - Varianten und Bezugsquellen

In diesem Kapitel stehen Angebot, Einsatz und Rezeption der Lesestoffe, die die Exponenten der von mir befragten Lesergenerationen lasen, im Mittelpunkt. Je nach Lebensalter wurden unterschiedliche Genres von Literatur gewählt, oft auch verbunden mit einer sich wandelnden Funktion und Intensität des Lesens im Lebenslauf. Auf diese Intentionen und Funktionen des Lesen gehe ich dann im letzten Kapitel (VI) näher ein. Zunächst behandle ich in einem kurzen Abriss die Entwicklung der Lesestoffe und Medien - speziell die für Kinder- und Jugendliche angebotenen, denn gerade die jungen Leser sollen in bezug auf das Lesen und seine Etablierung im Lebenslauf am intensivsten beeinflußt werden. Anschließend wird der Einsatz der Lesemedien im Leben der erwachsenen Leser angesprochen, deren Lesestoffpräferenzen - wie sich zeigen wird - eher geschlechts- als generationsspezifisch geprägt sind.[1] )

1. Lesestoffe und Medien für Kinder und Jugendliche

"Die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur beginnt damit (...), daß diese Literatur vielfach als glückliche Erfahrung der Kindheit gepriesen, im gleichen Atemzug ob ihrer Unzulänglichkeit geschmäht und zugleich gerade von denen, die das ändern könnten, den Autoren von Rang, sich selbst überlassen, im Stich gelassen wird. Erst in der Gegenwart zeigen sich Versuche, das Schreiben für Erwachsene nicht dogmatisch von dem für Kinder zu trennen. So können eines Tages vielleicht beide Literaturen gleichberechtigt nebeneinander stehen, gleichgeachtet, nicht gleich!(...)"[2] ) Dieses Plädoyer von Gerhard Haas besitzt nach wie vor Gültigkeit für die Position der Kinder- und Jugendliteratur im Rahmen der gesamten Literaturproduktion. Sie ist häufig nicht allein für Kinder als Leser geschrieben und gestaltet, sondern so, als solle sie auch das Interesse der (fast immer) erwachsenen Käufer wecken.[3] ) Auffallend an der umfangreichen Produktion für Kinder- und Jugendliche ist nicht nur, daß sich zu den meisten Bereichen der Erwachsenenliteratur mittlerweile Äquivalente finden lassen, sondern daß diese dann auch noch jeweils für die verschiedenen Altersgruppen aufbereitet werden.

Eine systemlogische Einordnung der Texte für die kindlichen Zielgruppen wird durch die Vielgestalt des Kinder- und Jugendbuches erschwert: Das Tierbuch definiert sich von der Art der handelnden Figuren aus, das Mädchenbuch von der Geschlechtsspezifik der Adressaten her, das Abenteuerbuch ist durch Art und Ort des Geschehens bestimmt, und die Phantastischen Erzählungen (um nur diese Beispiele zu nennen) grenzen sich durch eine andere Art des Realitätsbezugs von realistischen Kinderbüchern ab. Mit Ausnahme von einem Teil der Sachbuchtexte haben alle erzählerischen und dramatischen Texte der Kinder- und Jugendliteratur fiktionalen Charakter, d.h., sie bauen eine sprachliche Wirklichkeit auf, die ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Qualität hat.[4] ) In den Kinderbüchern der Gegenwart und auch im Bilderbuch findet die Einübung in die Rezeption des problemorientierten Jugendromans statt. Herrscht in den Bilderbüchern noch das visuelle Element vor, so tauchen in den Kindergeschichten bereits leicht überschaubare Handlungsstrukturen auf. Im realistischen Kinderroman dagegen werden soziale Probleme vorweggenommen (auf den Entwicklungstand des Lesealters abgestimmt), die im Jugendroman komplexer ihre Fortführung finden. Der Kinderbuchmarkt expandierte in den letzten Jahren zugunsten des Sachbuches und ist so vielfältig wie nie zuvor, er ist außerdem von sehr unterschiedlichen Faktoren geprägt: Neben einem starken Anwachsen der Produktion neuer Titel ist eine anhaltende Internationalisierung zu verzeichnen, die begleitet wird von einem Trend zu preiswerten gebundenen oder Taschenbuch-Neuausgaben für Kinder.[5] ) Beim Kauf von Kinderbüchern greifen die Erwachsenen gerne auf bereits Bekanntes zurück. So vor allem auf Tier-, Zwergen-, Pferde- und Abenteuergeschichten sowie Märchen und Bücher mit bekannten Protagonisten aus Fernsehsendungen oder Kinofilmen.[6] ) Da aber gerade künstlerisch gestaltete Bilderbücher eher hochpreisig sind, werden sie dementsprechend hauptsächlich von Erwachsenen zum Verschenken oder Sammeln gekauft.[7] )

Die Wahl von Büchern für jugendliche Leser in der Adoleszenz fällt oft schwer, da sie sich mit ihren Interessen an der Schwelle vom Teenager zum Erwachsenen befinden. Für sie gibt es seit einigen Jahren unter der Rubrik "Junge Erwachsene" Serien mit speziellen Themen, die sich auf ihre Lebensinhalte, Probleme und Interessen beziehen sollen. Derart spezifizierte Literatur, mit der Jugendliche auf die eigentliche "Erwachsenenenliteratur" vorbereitet werden sollen, wird von Gundel Mattenklott eher skeptisch betrachtet: "Unsere Gesellschaft, in der die Adoleszenz durch weit ins Erwachsenenalter hinein verlängerte Schul- und Ausbildungsphasen sich ausdehnt bis ins dritte Lebensjahrzehnt, hält eine - expandierende - Literatur für die Altersphase 'dazwischen' bereit. Buchreihen 'für junge Erwachsene' sind feste Bestandteile des Sortiments. Unter diesem Etikett können Leser bis weit übers 20. Lebensjahr hinaus im Bereich einer Spezialliteratur bleiben. Längst ist damit die Aufgabe einer 'Durchgangsliteratur' verraten, und es stellt sich die Frage, welche altersspezifischen Bücher sich an die für junge Erwachsene anschließen werden: die für mittlere, für ältere und alte (...)".[8] ) Die Problematik der Nutzung dieser Übergangsliteratur durch die jugendlichen Leser wird weiter unten noch im Zusammenhang mit der Bibliotheksnutzung aufgegriffen. Immer wieder wurde in den Erinnerungen angesprochen, daß die pubertierenden Jugendlichen der zweiten und dritten Generation nicht mehr wußten, was und aus welcher literarischen Richtung sie lesen sollten. Derartige Orientierungsprobleme wurden vom Personal in den öffentlichen Bibliotheken offenbar selten aufgefangen oder gesteuert. Die Auffassung, daß Jugendliche mit dem Zeitpunkt der Konfirmation als "erwachsen" anzusehen sind, und deshalb literarisch im Kanon für Erwachsene weiterlesen sollten, hatte für die Befragten der ersten Generation durchaus noch seine Gültigkeit. Die Belege der zweiten und dritten Generation aber zeigen, daß Jugendliche, deren latente Leseinteressen in dieser schwierigen Phase wenig Lenkung erhielten, häufiger triviale Lesestoffe wählten, weil diese überall und leicht verfügbar waren. Das Spektrum reicht von den Leseheftchen bis hin zu den "Angelique-Bänden" der Buchclubs, die sich in zahlreichen Haushalten fanden.

Neben den Kinder- und Jugendbüchern existieren heute zahlreiche spezielle Medienangebote für Kinder wie Zeitschriften, Comics, Hörfunk- und Fernsehsendungen, Videokassetten, Video-Spiele und vor allem Tonträger in Form von Musik- und Tonkassetten, CD's und CD-ROM-Versionen.[9] )

Der Markt der Kinderzeitschriften[10] ) fächert sich in verschiedene altersspezifische Produkte auf. Zum einen gibt es Publikationen, die sich mit einem redaktionellen Hauptteil an Eltern von Kindern im Kleinkind- und Grundschulalter wenden, zusätzlich aber einen Extrateil für die Kinder dieser Altersgruppe enthalten. Weitere Zeitschriften richten sich inhaltlich an Kindergarten-, Grundschul- oder ältere Kinder der Primarstufe, Schüler ab Klasse sieben, und eben "junge Erwachsene". Zeitschriften für Kinder bis ca. 12 Jahre enthalten in der Regel altersgemäße redaktionelle Teile, zu denen Sachthemen, Bastel- und Kochvorschläge, Witze, Rätsel, Leserbriefe, Anzeigenbörsen, Kurzgeschichten, Malwettbewerbe und Bildgeschichten gehören.[11] ) Werbezeitschriften, die der Einzelhandel wie Apotheken, Schuhgeschäfte und Baumärkte in hoher Auflage gratis an die Kinder abgibt, ergänzen das Angebot. Ihr Inhalt orientiert sich an den kommerziellen Kinderzeitschriften, ist nur weniger umfassend. Werbung, die speziell auf Kinder ausgerichtet ist, findet sich in beiden Typen.[12] )

Die am jeweiligen Alter der Rezipienten orientierte Sprache der Zeitschriften ist meistens kindgerecht (einfacher Satzbau, Worterklärungen), bei manchen Themen hat sich allerdings ein trivialisierender, kindertümelnder, zu Verkürzungen neigender Stil durchgesetzt.[13] ) Als Pendants zur bekanntesten und auflagenstärksten Musikzeitschrift "Bravo" gibt es heute eine Flut von Zeitschriften für Leser ab ca.13 Jahren. Sie enthalten Beiträge zu den unterschiedlichsten Themen, hauptsächlich zu Popmusik, Sexualität, Freundschaft, Mode und Kosmetik; speziell an die Mädchen richten sich außerdem Zeitschriften, die den Umgang mit Pferden thematisieren.[14] )

Ein weiteres umfangreiches und expandierendes Marktsegment der Kinder- und Jugenlektüre ist das Comicangebot für Kinder, das sich mittlerweile nicht mehr eindeutig von den Comics für Erwachsene trennen läßt. Ursprünglich für Kinder gedacht waren "Micky-Mouse", "Fix und Foxi", "Yps" und die "Bussy-Bär"- Hefte. Einen Grenzbereich stellten schon immer Serien wie "Asterix", "Lucky-Luke" oder "Tim und Struppi" dar.

Bereits während der 50er und 60er Jahre attestierten pejorisierende Stimmen im Rahmen der "Schmutz- und Schund" Debatten den Comics generell eine verdummende und demoralisierende Wirkung auf Kinder. Bibliotheken z.B. sollten Comicserien nicht in ihre Bestände aufnehmen. Während der 70er Jahre verstummte die Diskussion allerdings, und das Angebot ist seitdem - auch in den Büchereien - äußerst vielfältig.[15] ) Besonders die gebundenen Exemplare der Comics sind mittlerweile "gesellschaftsfähig" geworden und zum Sammelobjekt für Erwachsene aufgestiegen.[16] ) Für meine Befragten allerdings stellten Comics keine wichtige Lesestoffgruppe dar, sie wurden lediglich für die Kinder- und Jugendzeiten angegeben.

Auch das Angebot der Ton-Kassetten ist umfangreich und umfaßt Musik jeder Art, Märchen, Abenteuer-Serien, Sprachkurse, Sachthemen und Mit-Mach-Kassetten, deren literarische Vorlagen sowohl arrivierte Klassiker, als auch aktuelle Comicfiguren und Protagonisten aus dem Fernsehen sind. Hier wird ebenfalls jedes Alter mit einem speziellen Angebot bedacht.[17] ) Beim überwiegenden Teil der Kinderkassetten steht das Komische, neben einem umfangreichen Angebot an phantastischen Erzählungen und Abenteuern, im Vordergrund.[18] ) Eine weitere große Gruppe besteht aus Kriminal- und den speziellen Mädchengeschichten. Außerdem sind noch die klassischen Abenteuer-Erzählungen und das Angebot an speziellen Liedern und Musikproduktionen für Kinder zu

erwähnen.[19] )

Da das Kassettenhören inzwischen in vielen Familien das abendliche Vorlesen vor dem Einschlafen ersetzt, und so eine persönliche Interaktionsebene der Lesesozialisation zwischen Eltern und Kindern wegfällt, ist zu fragen, inwieweit der weitverbreitete Gebrauch von Kindertonkassetten Auswirkungen auf das Leseverhalten und das gesamte Mediennutzugsverhalten hat. Hier zeichneten sich auch generationsspezifische Mediennutzungsunterschiede im Leseverhalten der von mir Befragten ab.

Reine Rundfunksendungen für Kinder und jugendliche Hörer gab es in den 50er und 60er Jahren bis zur endgültigen Verbreitung des Fernsehens. Verdrängt durch dessen spezielle, auf die Zielgruppe der Kinder ausgerichtete Sendungen, nahmen die Radioprogramme für Kinder in den 70er Jahren rapide ab und bestehen heute hauptsächlich aus den Angeboten des Schulfunks zur Ergänzung und Erweiterung des Schulunterrichtes. Die neu hinzugekommenen Privatsender bieten vorwiegend Musik und selten themenzentrierte Wortbeiträge an.

Die Programmplaner des Kinderfernsehens blicken bereits auf eine mehr als 40jährige Geschichte zurück. Neben den Klassikern der Dritten Programme, der "Sesamstraße" und "Der Sendung mit der Maus", strahlen ZDF, ARD, SAT 1, RTL, Nickelodeon und der Kinder-Kanal regelmäßig Sendungen für Kinder aus.[20] ) Die wenigsten der speziellen Kindersendungen verfolgen lesefördernde oder pädagogische Zielsetzungen, wie z.B. die "Sendung mit der Maus". Bei zahlreichen anderen Sendungen handelt es sich um eingekaufte Serien aus dem Ausland oder um Verfilmungen der Klassiker der Kinderliteratur, Märchen[21] ), Trickfilme oder Spielstücke (Kasper) für Kinder.

Von der im Vorigen angedeuteten Entwicklung einer Vielfalt des Medienangebotes für Kinder und Jugendliche profitierten erst die Angehörigen der dritten Lesergeneration in nennenswertem Umfang. Unter ihnen verfügten einzelne Informanten über Abspielgeräte für Tonkassetten, regelmäßiges Taschengeld oder andere Möglichkeiten sich z.B. Comichefte oder Kinderzeitschriften zu kaufen. Pädagogisch intendierte Fernsehsendungen wie die "Sesamstraße" oder die "Sendung mit der Maus" wurden erst ab 1970 resp. 1972 ausgestrahlt, ein Zeitpunkt, zu dem sich nur noch die jüngeren Befragten der dritten Generation für derartige Sendungen interessierten. Bekannt waren diese Programmangebote aber ebenfalls allen jüngeren Informanten der zweiten Generation.

Aussagen der Befragten zu den Büchern ihrer Kindheit und Jugend

Anhand der Darstellung der zeitspezifischen Kontexte der drei ausgewählten Lesergenerationen wurde bereits skizziert, daß die Buchauswahl der Befragten, sowohl was die Qualität wie auch die zur Wahl stehenden Genres betrifft, bis zum Ende der 60er Jahre viel begrenzter war als in den folgenden Jahrzehnten. Sie konnte in keiner Weise mit dem derzeit vorliegenden Angebot konkurrieren, dennoch gab es bereits damals vielfältige Buchgenres für Kinder. Anhand der Lesestoffe für Kinder und Jugendliche, die zur Verfügung standen, kristallisieren sich neben geschlechtsspezifischen Lesevorlieben in den Gesprächen deutlich sowohl für die Kindheits- als auch die Jugendlektüre generationsspezifische Differenzen heraus.

Die Befragten der ersten Generation kannten und besaßen meist nur ein kleines Kontingent an Kinderbüchern ihrer Zeit, wie den "Geschichten von den Wurzelkindern", "Peterchens Mondfahrt" oder "Schellenursli", die ihnen vorgelesen wurden. Sie gaben fast alle an, in ihrer Kindheit Märchenbücher als Geschenke zu Festtagen erhalten und diese auch mehrfach gelesen zu haben, zusätzlich bekamen sie illustrierte Ausgaben der deutschen Götter- und Heldensagen geschenkt oder geliehen.

Beleg Herr M.(1929), Grafiker: "Also die Bücher, die es da gab, ausgesprochene Kinderbücher in dem Sinne habe ich in der Zeit eigentlich nicht gelesen. Ich kriegte also einen dicken Band mit Grimms Märchen, und der war auch von dem Volksverband der Bücherfreunde. Da waren sehr schöne Illustrationen drin. Und dann kriegte ich aber die Ausgabe mit den Illustrationen von Ubbelode geschenkt. (...) Und sobald ich lesen konnte, da habe ich die von hinten nach vorne und von vorne nach hinten gelesen. (...) Nachdem die Grimms-Märchen durch waren, las man dann ja die Hauffs Märchen. Wunderschöne Märchen, die sehr gut und phantasievoll geschrieben sind. (...) Während der Volksschulzeit fing ich dann an, nachdem ich dann auch die Götter- und Heldensagen durchgelesen hatte - ich habe das Buch heute noch von Tannhäuser, Parsival und den drei Nornen, und wie sie an der Zeit gewebt haben, eben all diese grausamen Geschichten - und dann kam als nächste Lektüre, die mir doch ziemliche Beschwerden machte, der 'Lederstrumpf' von Cooper. Das war dann das berühmteste Jugendbuch, das es damals gab."

Dieser Beleg verweist neben der Märchenlektüre auf die zweite große Gruppe der Lesestoffe vor allem für männliche Kinder und Jugendlichen der ersten und zweiten Generation: die Abenteuerbücher, zu denen die Werke Jules Vernes, der erwähnte "Lederstrumpf" von Cooper, Bücher von Gerstäcker und die Bände Karl Mays zählten. Letztere lasen auch die Mädchen, bevorzugten ansonsten aber die zahlreichen, in Serien angelegten "Mädchen-Bücher", die von den später Geborenen nur noch vereinzelt erwähnt werden. Die Leser der ersten Generation begannen außerdem recht früh, Bücher ihrer Eltern und somit Autoren aus der Literatur für Erwachsene zu lesen, wie Keller, Fontane, Raabe, C.F. Meyer und übersetzte Klassiker wie Dostojewski oder Dickens. Die Nennung derartiger Bände aus der Weltliteratur als Lesestoff für Jugendliche ist ein weiteres Indiz dafür, daß es kein dem heutigen äquivalentes Buchangebot für die Leser ab 14 Jahre und älter gab.

Zu den primären Lesevorlieben vor allem der Mädchen der ersten Generation zählten die oben erwähnten Buchreihen "Trotzköpfchen"und "Nesthäkchen", später "Gisel und Ursel" sowie "Pucki", die sie ihren eigenen Worten nach regelrecht "verschlangen". In der Forschungsliteratur wird immer wieder der affirmative und Geschlechtsrollen festschreibende Charakter dieser Bücher betont.[22] ) Gelesen wurden sie offenbar tatsächlich nur von Mädchen, mir gegenüber gab zumindest keiner der männlichen Befragten an, einmal in den Bänden gelesen zu haben. Sowohl Mädchen als auch Jungen lasen aber gleichermaßen spannende Abenteuerbücher, vor allem die Bücher Karl Mays, Jules Vernes und ähnliche Buch-Reihen. Hier läßt sich keine rein geschlechtsspezifische, sondern eher eine interessengesteuerte Wahl der Lesestoffe erkennen. Auf die entsprechenden Bücher und ihre Nachfolgereihen werde ich später eingehen, weil sich anhand dieser Lektüre ein generationsübergreifendes Leseverhalten herauskristallisiert, das stark geschlechtsspezifische Merkmale aufweist. Es sei hier noch angemerkt, daß die Bücher oft noch aus den Beständen der eigenen Mütter stammten.

Auch bei den Buchgeschenken für die Frühgeborenen der zweiten Generation griffen die Eltern immer wieder auf Altbekanntes zurück. Zunächst geschah dies wohl noch aufgrund eines Mangels an Angeboten, da die Auswirkungen der Erneuerung der Kinder- und Jugendbuchproduktion sich erst ab Mitte der 50er Jahre niederschlugen; später kauften sie aber offensichtlich auch aus nostalgischen Gründen weiterhin die ihnen bekannten und vertrauten Texte.

Beleg Frau G.(1948) Grundschullehrerin: "Ich kaufe viel Bilderbücher auf Flohmärkten (...) Vielleicht ist es auch von mir so ein bißchen das Bedürfnis zum Nachholen, weil ich ja Bilderbücher nie kennengelernt habe. Und ich liebe schön aufgemachte Bilderbücher. Ich hatte ja immer nur diese alten Dinger, die man nachher schon auswendig singen konnte."

Die Befragten der ersten Generation nannten insgesamt nur wenige spezielle Kinderbuchklassiker, wie die Bücher Erich Kästners, Else Uri's "Nesthäkchen" und Hugh Lofting's "Dr. Dolittle", die von den später Geborenen wiederum nur noch vereinzelt erwähnt werden. Als Jugendlektüre gaben sie die bereits genannten Abenteuerbücher an.

Die Befragten der zweiten Generation verfügten neben den Klassikern "Struwwelpeter" und "Max und Moritz" auch über weitere illustrierte Bilderbücher mit Texten (z.B. "Babar"-Bücher, Krüss: Henriette Bimmelbahn). In ihren Erinnerungen spiegelt sich zum Teil speziell an den Lesestoffen für Kinder bereits die Weiterentwicklung der Kinderbuchproduktion dieser Zeit wider. Ihre Angaben sind anschaulicher und detaillierter als die der ersten Generation. Bemerkenswert ist, daß die Erinnerungen an die Bilder und das Vorlesen oft sehr konkret und intensiv waren, das Bemühen dagegen, sich präzise an die Titel der in der Kindheit selbst gelesenen Bücher zu erinnern, schlug dagegen öfters fehl. Offensichtlich prägten sich die wiederholt betrachteten - auch in der zweiten Generation manchmal noch raren - Bilderbücher sehr stark ein, wohingegen die Texte und Titel, vielleicht ob der Menge der im späteren Leben gelesenen Bücher, in der Erinnerung eher selten präsent sind.

Die Geburtsjahrgänge ab etwa 1953 erwähnten als Lesestoffe ihrer Jugendzeit vorwiegend Bücher, vor allem die aus dem Schwedischen übersetzten Titel Astrid Lindgrens: "Pipi Langstrumpf", "Wir Kinder aus Bullerbü", "Kalle Blomquist", neben deutschen Jugendbüchern, z.B. Heinrich M. Denneborg: "Das Wildpferd Balthasar" und Prosa für Kinder von Erich Kästner und James Krüss. Vereinzelt lasen sie auch wie Herr P. klassische Abenteuerbücher:

Beleg Herr P. (1952), Polizeibeamter: "Es war eben unheimlich interessant zu lesen, wie auf Segelschiffen Kap Horn umsegelt wurde. Oder die Jules Vernes Romane, die sich ja in der Zukunft abspielen und dadurch für mich so interessant waren."

Die ersten Kinderlexika erschienen Mitte der 50er Jahre, und Titel wie "Mein erster Brockhaus", "Meyers Kinderlexikon", "Wittes Kinderlexikon", lassen erkennen, daß es sich um Nachschlagewerke und Sachbücher speziell für Kinder handelte.

Beleg Herr K. (1956), kaufmänn. Angestellter: "Also über meine Eltern habe ich neue Kinderbücher wohl kaum bekommen. Da gab es ab und zu mal ein broschiertes Buch, ein Titel hieß: 'Klick will fort', aber groß Geld haben sie dafür nicht ausgegeben. Richtige Kinder- oder Jugendbücher bekam ich von meiner Tante, so wie 'Das Wildpferd Balthasar'. Und sie hat mir auch meinen ersten Atlas geschenkt, "Meyers großer Kinderweltatlas'."

Die Kinder wurden durch diese neu geschaffenen Produktionen nicht mehr ausschließlich mit einer, in den meisten Büchern eigens für sie geschaffenen, "heilen" Welt konfrontiert, sondern erhielten die Möglichkeit sich ihrem Alter entsprechend auch über die Vorgänge in ihrer Umwelt, über Geschichte und Geographie umfassend zu informieren. Charakteristisch für die veränderten pädagogischen Bemühungen sind die ersten großformatigen farbig illustrierten Bände, wie die vom Otto Maier Verlag: "Die große Weltgeschichte" oder ein Buch über die "Geschichte der Religionen". Frau M.'s Bruder besaß zwei solche Bände, die sie sich sehr gerne immer wieder betrachtete:

Beleg Frau M.(1957), Buchhändlerin: "Also diese großen Bände mit farbigen Zeichnungen, den Band über die "Tiere dieser Erde" und den über die Geschichte, wie die Pyramiden gebaut wurden. Die habe ich mir immer wieder angesehen. Deshalb weiß ich auch heute noch, daß der Gepard das schnellste Tier der Erde ist und der Blauwal das Größte. Bei den Pyramiden waren Sklavenheere abgebildet deren Aufseher sie mit der Peitsche zur Arbeit antrieben, und sie mußten die schweren Steine auf Holzrollen vorwärtsbewegen. Also diese Bücher fand ich toll, allerdings habe ich nie ein eigenes bekommen. Ich habe mir später als Erwachsene auf dem Flohmarkt zwei dieser Bücher gekauft, den Atlas und die Weltgeschichte."

Als Teenager griffen die Leser der ersten und frühen zweiten Generation relativ früh auf die Buchbestände ihrer Eltern zurück. Je jünger die Interviewten der zweiten Generation sind, desto seltener machten sie Angaben zu Märchen, Sagen und den klassischen Abenteuerbüchern. Diese wurden offenbar in der Gunst der Jungen von den Erzählungen und Romanen Jack Londons abgelöst, so wie die "Trotzköpfchen"-Bücher bei den Mädchen durch die zahlreichen Bücher der Engländerin Enid Blyton. Mit diesen Bänden gab es für die zweite Generation eine eigene expandierende Jugendliteratur und verstärkt Übersetzungen von ausländischen Jugendbüchern, zu denen besonders die von Blyton als Serien angelegten Bücher. Speziell für Mädchen schrieb sie die Internatsgeschichten "Hanni und Nanni" und "Dolly" sowie für beide Geschlechter die Krimiserien "Die schwarze Sieben" und "Fünf Freunde".[23] ) Es gab wenig Befragte aus der zweiten und niemanden in der dritten Generation, die in ihrer Jugend nicht Kontakt mit diesen Büchern hatten und sie leidenschaftlich gerne lasen. Seit Ende der 60er Jahre konnte man die Bände auch - offenbar ein Zugeständnis an den Publikumsgeschmack - in den Beständen der Öffentlichen Bücherhallen finden. Unter den Mädchen galten sie als begehrtes Tauschobjekt.

Beleg Frau G.(1959) Museumspädagogin: Ich kann mich daran erinnern, (...) daß in der Grundschulzeit unter den Mädchen ein reger Leihbetrieb dieser Mädchenbücher herrschte. So 'Hanni und Nanni', 'Fünf Freunde' und was es sonst so gibt. Ich kann mich daran so genau erinnern, weil ich die eine Serie 'Fünf Freunde' eine Zeitlang geradezu verschlungen habe. Und dann war das Mädchen, bei dem ich den Nachschub ausleihen konnte über die Sommerferien verreist, und ich konnte an die Bücher 'nicht rankommen' - sozusagen."

Eine derartige Erweiterung des Angebotes an Jugendliteratur drängte die traditionellen Märchen- und Sagenbücher endgültig ins Abseits. Dagegen nahmen die, heute bereits als "Klassiker" geltenden Bücher von Erich Kästner, James Krüss, Astrid Lindgren, Otfried Preußler und Michael Ende einen festen Platz im Lektürekanon der Jugendlichen ein.

Eine kleine Revolution stellten für die jüngeren Leser der zweiten Generation die Anfänge der ersten Kinder- und Jugendtaschenbücher dar, die um das Jahr 1960 herum erschienen. Diese Taschenbücher waren finanziell erschwinglich und wurden oft verschenkt. Durch die eigens für ihre Altersgruppen konzipierte Literatur, lasen die Teenager bei weitem nicht mehr so früh und häufig Bücher aus den Beständen ihrer Eltern und lernten deutsche klassische Literatur in der Regel erst in den höheren Klassen kennen. Die Nutzung des erweiterten Spektrums der Kinder- und Jugendliteratur wurde mir vor allem von den Befragten der zweiten und dritten Generation genannt. Das Angebot an Kinder- und Jugendbüchern, das für sie theoretisch verfügbar war, präsentierte sich sehr umfangreich, denn neue inhaltliche und gestalterische Schwerpunkte belebten weiterhin die Buchproduktion.

Eine schnelle Akzeptanz - sowohl bei den knapp wirtschaftenden Müttern als auch bei ihren buchbegierigen Kindern - erfuhren die ersten Exemplare der "Pixi-Buchserien".[24] )

Beleg Frau P.(1936) Erzieherin: Meine Kinder haben es alle sehr leicht gelernt und haben auch gerne gelesen. Sie hatten allerdings sehr viele Pixi-Bücher, die konnte ich mir immer leisten. Beim wöchentlichen Einkauf gab es immer ein Pixi-Buch für 50 Pfennig, die konnte ich mir leisten. Und die Bücher durften sie quer lesen, bis sie die über hatten

Beleg Frau R.(1953) Grundschullehrerin: "Und als es dann die ersten 'Pixi-Bücher' gab, die habe ich wie einen Schatz gehütet."

Beleg Frau B.(1953) Gesamtschullehrerin: "Ich hatte damals sehr viele Pixi-Bücher und die habe ich auch mal selber gelesen. Die wurden mir dann auch noch vorgelesen, das war so die frühe Kindheit. Das waren auch meistens Geschichten, die mich ansprachen."

Die "Pixi"-Bücher stellten für viele Kinder der zweiten Generation den Übergang vom Bilderbuch zum Textbuch bzw. zur illustrierten Geschichte dar. Waren die Eltern oder andere Schenkende daran interessiert, und konnten sie das Geld dafür erübrigen, standen den jüngeren Lesern der zweiten Generation auch die ersten Exemplare einer oft künstlerisch gestalteten Bilder- und Kinderbuchproduktion zur Verfügung. Die Retrospektive versagte hier allerdings in bezug auf Titelangaben. Eine Tatsache, die für alle Generationen gilt. Bei den wenigen, konkret benannten Büchern, wie den Bildbänden Ali Mitgutschs oder den Bilderbüchern nach Erzählungen von Astrid Lindgren, handelte es sich um neue Titel der 70er Jahre. Erinnert und erwähnt wurden aber auch von den Angehörigen der dritten Generation die Klassiker "Max und Moritz" und "Struwwelpeter". Diese werden offensichtlich aus Nostalgie heraus immer wieder verschenkt, allerdings mit dem Unterschied, daß sie dann nicht mehr die einzigen Bilderbücher darstellten, sondern neben anderen Titeln zur Verfügung standen.

Die größeren Kinder und Jugendlichen der dritten Generation lasen weder Karl-May-Titel noch "Trotzköpfchen" o.ä., sondern statt dessen die Bücher Enid Blytons, abenteuerliche Erzählungen und die ersten Kinderkrimis von Hitchcock beziehungsweise die "TKKG"-Bände. Ihnen war der Umgang mit der eigens für sie geschaffenen Literatur bereits selbstverständlich geworden. Trotz dieser neuen Literaturangebote wurden von den meisten Befragten auch noch die heute als "Klassiker" der Kinderliteratur geltenden Bücher genannt, die oft in Übersetzungen aus dem skandinavischen und englischen Sprachraum erschienen. Daneben lasen sie Bücher wie "Jim Knopf" oder die Abenteuer des "Räuber Hotzenplotz" und sprachen von "...den damals üblichen Kinderbüchern...". [25] ) Die Kinderliteratur fand so offensichtlich eine immer stärkere Verbreitung, und Bücher von neuen Autoren hielten - mit bis dahin weitgehend aus der Kinder- und Jugendliteratur ausgeklammerten Themen - Einzug in die Bücherregale der Buchhandlungen und Bibliotheken.[26] )

Speziell die Mädchen rezipierten außerdem die zahlreichen Titel des seit den 70er Jahren immer populärer gewordenen Genres der Pferdebücher.[27] ) Unter den Befragten der dritten Generation ist ebenfalls ganz deutlich eine geschlechtsspezifische Orientierung der Leseinteressen der Kinder zu erkennen, eine Tatsache die auch für die Haupt-Motivation des Lesens in der Jugend, die Unterhaltung gilt. Besonders Jungen lesen bevorzugt in der Kombination von Unterhaltung und Information. Sie wählten als Lesestoffe weniger die Erzählungen und Abenteuerbände Karl Mays, sondern Serien wie TKKG, die Krimireihen Blytons, liehen sich diese auch in den öffentlichen Bibliotheken aus oder tauschten sie untereinander. Nahezu unisono gaben sie an, bereits als Grundschüler eher sachbezogene Bücher bevorzugt zu haben. Serien wie "Was ist Was?" waren für sie konzipiert, daneben wurden von ihnen häufig Sachbücher zu den Themen "Cowboys und Indianer" erwähnt, sowie Biographien von Forschern und Entdeckern oder "Tierbücher".[28] )

Beleg Herr B.(1970) Redakteur/ kaufm. Angestellter: "Also, da gab es nicht ein Buch, das wichtig war, sondern es gab verschiedene Bücher zu verschiedenen Zeiten. Also eben das 'Regenauto', und dann natürlich 'Was ist Was?'. (...) Ich habe alles Mögliche gelesen, von 'Huckleberry Finn und Tom Saywer' über alle möglichen Krimigeschichten wie 'TKKG' und so etwas bis hin zu den 'Was ist Was?' Büchern. Die habe ich auch viel gelesen und habe dann auch angefangen Eskimo-Dossiers zu schreiben. Also das was ich im 'Was ist Was?' gelesen hatte, habe ich dann über das Aufschreiben noch einmal verarbeitet."

Auch die männlichen Befragten der dritten Generation folgten den Anregungen, auch literarisch anspruchsvolle Bücher aus dem Kanon der Erwachsenenlektüre zu lesen, häufig erst in den höheren Schulklassen. Vor allem meine Informantinnen ähnlich wie Frau L., erinnerten sich daran, während ihrer Orientierungsphase von den Mädchen- und Jugendbüchern zur Erwachsenenliteratur zunächst auch in den Buchbeständen der Eltern - vor allem der Mutter - gestöbert und aus diesem Fundus alle sie interessierenden Bände gelesen zu haben. Dabei handelte es sich dann meistens um populäre Romane, die sogenannten Bestseller aus dem jeweils aktuellen Bellestristik- oder Buchklubangebot.

Beleg Frau L.(1964) Architektin: "Danach habe ich angefangen, alles was im Bücherschrank meiner Mutter sonst noch so stand, zu lesen. Also, das war alles mögliche. Von Simmel über die Bände von Angelique. Die habe ich alle gelesen so mit dreizehn und vierzehn. Einiges hatte sie auch noch, was so Klassiker anbetrifft. Das habe ich einfach alles gelesen."

Weiterführende Anregungen erhielten Frau L. und und ihre Altersgenossinnen von Freunden und Lehrern. In den Erinnerungen der Befragten der dritten Generation fällt auf, daß sie wesentlich seltener als die Leser der ersten und zweiten Generation zur Lektüre sogenannter literarischer Klassiker angehalten wurden.

1.1 Jugendbuch-Reihen

Immer wieder berichteten mir speziell die Frauen von der Lektüre der 1885 zum ersten Mal veröffentlichten "Trotzköpfchen"-Bände.[29] ) Bei ihnen und den später publizierten "Nesthäkchen"-Büchern[30] ) handelt es sich um Episoden aus dem Leben im wohlhabenden bürgerlichen Milieu aufwachsender Protagonistinnen im Alter von etwa 15 Jahren. Erzählt wird von ihrem ansatzweisen Aufbegehren gegen bürgerliche Beschränkungen, Lebensweisen und Regeln. Die Figuren der Hauptpersonen "oszillieren zwischen Anpassung und Verweigerung"[31] ) und haben so Leserinnen von der Kaiserzeit bis heute fasziniert. Sie sind in ihrem kindlichen und jugendlichen Verhalten sehr ambivalent zwischen Gehorsam und Widerstand angesiedelt. Letztendlich enden aber alle Episoden in einer "heilen Welt", in der bürgerliche Ideale immer noch Gültigkeit besitzen.

Die Inhalte dieser Reihen, zu denen auch die "Pucki"-Bände zählen, gelten als Hinführung der Mädchen auf ihre späteren Rollen als Ehefrauen, Hausfrauen und Mütter. Die Protagonistinnen sind in der Jugend noch wild und teilweise aufbegehrend, erlangen aber im Laufe der Pubertät allmähliche die notwendige Reife und schlagen als junge Frauen doch noch den für sie vorgesehen, bürgerlichen Weg ein.

Ergänzt wurden diese Bücher in den 30er Jahren durch die Erlebnisse von "Gisel und Ursel", zwei sehr praktisch und sportlich veranlagten Schwestern, die die unterschiedlichsten Vorkommnisse und Erlebnisse meistern, weil sie das "Herz auf dem rechten Fleck" haben.[32] ) Sie verkörperten damals einen Kontrast zur eher ruhigen und braven Bürgertochter: als sportlich skizzierte junge Frauen, die radeln, paddeln und laufen, verwiesen sie bereits auf das aktive "deutsche Mädchen".

Beleg Frau J.(1964), Goldschmiedin/technische Sachbearbeiterin: "Ja also ich habe zuerst mal von meiner Mutter alle Bücher die von ihr noch waren gelesen. Das waren hauptsächlich so Gisel- und Ursel-Bücher. Geschichten, so ähnlich wie Hanni und Nanni. Und dann habe ich viel von Astrid Lindgren wie Pipi Langstrumpf gelesen. Und so."

Die Quellen für den Kauf dieser Bücher waren nicht immer der herkömmliche Buchandel oder Büchereien, oft waren die Bände wiederum "ererbt" und in einem Falle erstand ein Vater für seine Tochter (Jahrgang 1953) auf einer Auktion einen Stapel alter "Gisel und Ursel"-Bände. Für sie verkörperten diese Bücher den ganzen Stolz eigenen Buchbesitzes, auch wenn es sich dabei bereits in den 60er Jahren um eigentlich antiquierten Lesestoff handelte.

Beleg Frau R.(1953), Lehrerin: "Vorgelesen wurde mir von meiner Mutter. Aber ich hatte keine neuen eigenen Bücher, sondern ihre alten Kinderbücher. Und einmal habe ich auch einen Schwung Bücher bekommen, die hat mir mein Vater von einer Versteigerung mitgebracht. Das war ein Stapel Gisel und Ursel Bände. Eigentlich war mein Vater wegen etwas ganz anderem da hin geschickt worden. Und das waren dann meine ersten ganz eigenen Bücher. Sechs Schneiderbücher. Das war auch lange Zeit mein einziger Buchbesitz. Diese anderen Bücher, die ich Dir gezeigt habe, die habe ich ja erst sehr viel später bekommen."

Ebenfalls in diesen Jahren fanden die umfangreichen Buchreihen der Engländerin Enid Blyton eine rasche Verbreitung.[33] ) Zum einen waren dies Reihen wie "Hanni und Nanni", die fast ausschließlich von Mädchen gelesen wurden. Ihre Kinder-Detektivserien "Die schwarze Sieben" und "Fünf Freunde" allerdings, deren Aktualität erst heutzutage abflaut, hatten unter Jungen und Mädchen gleichermaßen begeisterte Leser. Die "Hanni und Nanni" - Bände knüpften dabei an den Reihen-Kult der oben vorgestellten Vorläufer der Mädchenliteratur an.

Beleg Frau E. (1954), Sozialpädagogin: "(...) und dann hatten wir die ganzen 'Nesthäkchen' Bücher. Und dann ging es auch los, daß wir zum Teil Neue geschenkt bekamen, und zum anderen Teil meine Großmutter uns ihre alten 'Nesthäkchen' Bücher vermacht hatte. Und wir waren gerade auf die Bücher von meiner Großmutter besonders stolz, weil die eben richtig alt waren. Meine Schwester hat die auch heute noch. (...) Und dann ging das dann später los. Da war ich wohl neun. Diese 'Fünf-Freunde'-Bücher und 'Rätsel um ein Dingsbums' und all diese. Ja, all die habe ich verschlungen. Und dann habe ich aber auch Lederstrumpf und diese Sachen und die Karl May Bücher, die habe ich auch alle verschlungen. Und zwar bis zehn Jahre, da hatte ich die alle durch und zwar in der Schule unter der Bank. Während des Unterrichtes habe ich gelesen. (lacht)"

Den Mittelpunkt der Serien "Dolly" und "Hanni und Nanni" sind ebenfalls weibliche Protagonistinnen, die in englischen Internaten leben und agieren.[34] ) Auch hier werden Probleme dargestellt, die mit einem didaktisch gewollt und aufgesetzt wirkenden Verständnis für soziale Mißstände gelöst werden. Letztendlich verbleiben die Schülerinnen doch immer in ihren intakten bürgerlichen Lebenswelten, deren Höhepunkte heimliche Mitternachtspartys am Swimmingpool oder Sportfeste darstellen.[35] ) Wie auch immer diese Serien heißen oder in welchem Umfeld sie spielen, die Mädchen jeder Generation "verschlangen" sie geradezu. Gerade der Reihencharakter und die völlige Austauschbarkeit dieser Bände, die Beliebigkeit ihrer Inhalte übten den Reiz aus und führten außerdem zu einem regen Tauschhandel der Leserinnen untereinander. Dies belegen auch die drei folgenden Zitate:

Beleg Frau P.(1936) Erzieherin: "In unserer Familie gab es eigentlich nicht so viele Bücher, aber weil meine Schwestern das so toll fanden, gab es diese Fortsetzungsbücher, wie Trotzkopf zum Beispiel. Die gab es noch und nöcher. Die wünschte man sich zum Geburtstag, die lieh man sich aus und verschlang sie. Das war zwar immer das brave Kind, aber man mochte es einfach lesen."

Beleg Frau P.(1956), Lehrerin: "Erlebnisse und Erfahrungen im Zusammenhang mit Büchern, da fällt mir ein: Suchterscheinungen bei den Büchern von Enid Blyton: Fünf Freunde, Hanni und Nanni, Abenteuer... etc. Daß ich als Schülerin, kaum hatte ich eines ausgelesen, unbedingt das nächste und das dritte und vierte und fünfte haben wollte."

Beleg Frau K.(1936), Schmuckverkäuferin: "Als wir halbwüchsig waren, wurden Bücher im Freundinnenkreis ausgetauscht. Zum Beispiel Trotzköpfchen und Goldköpfchen. Also ich habe diese Bücher verschlungen."

Ein derart "suchtähnliches" Lesen bestimmter Buchreihen spielte in der pubertären und zugleich literarischen Übergangsphase vom Jugendlichen zum Erwachsenen für fast alle befragten Frauen eine Rolle. Unter den Leserinnen einzelner Reihen entstanden regelrechte Gruppenkulte. Selbst Befragte, die sonst überhaupt nicht gerne lasen, räumten ein, diese Serien rezipiert zu haben, um wenigstens mit ihren Freundinnen und Klassenkameradinnen mitreden zu können.

Beleg Frau A. (1957), Arzthelferin/Hausfrau: "Als Kind habe ich Hanni und Nanni gelesen, eben das, was man gelesen haben mußte, um mitzureden."[36] )

Nicht unerwähnt bleiben darf als Lesestoff speziell für die Mädchen in der dritten Generation das Genre der Pferdebücher. In der Herausgabe dieser Bände war ebenfalls der Schneider Verlag führend und erreichte imposante Verkaufszahlen mit unterschiedlichen Serien, die stets von Mädchen und Pferden handeln, wie die "Britta-Bücher" oder die Bände um "Bille und Zottel".

Beleg Frau B.(1968), Redakteurin:"Ich habe dann also, sobald ich selber lesen konnte, da habe ich immer gelesen. Das ging dann los mit diesen Schneiderbüchern und so Titeln wie 'Brittas Herz gehört den Pferden' oder 'Bille und Zottel', die sind ja nun auch ziemlich groß gedruckt und haben ziemlich viel Text auf einer Seite. Die habe ich viel gelesen und als ich größer wurde, auch viel Erich Kästner und auch alle Lindgren Bücher. Wir haben ja fast alles zur Verfügung gestellt bekommen. Wie hieß der noch? Ach ja, Krüss- und Preußler Bücher. Und von Hans Jürgen Press."

Auch die etwa 14 Bände "Blitz, der schwarze Hengst", in denen ein Junge gemeinsam mit seinem Hengst Gefahren, Abenteuer und Probleme meistert, wurden im Zuge des Pferdefiebers hauptsächlich von Mädchen gelesen.

Beleg Frau A.(1964), technische Zeichnerin: "Ja, die Pferdebücher dienten mir zum Träumen. Meistens las ich ganze Bücherreihen: Pferdebücher wie Blitz. Bücher die von Mädchen in Internaten handelten, wie Dolly. Ansonsten Märchenbücher und früher einige Kinderbücher."

Speziell für die Jungen waren Abenteuerbücher konzipiert, deren Inhalte sich zum Teil an den Büchern von Karl May orientierten. Zunächst galten die Bände Karl Mays ebenso wie die Abenteurgeschichten Jules Vernes oder Coopers berühmter "Lederstrumpf" für die Knaben der ersten und zweiten Generation als Pendant zu den Mädchenbüchern. Unter den Jungen der dritten Generation fanden auch die Erzählungen und Romane von Jack London und die Krimiserien von Enid Blyton eine große Verbreitung. Auch die Abenteuer von Tom Saywer und Huckleberry Finn wurden mir genannt. In den 60er Jahren avancierten Comic-Serien wie "Bessie" und zeitweise die Western- und Landserhefte zum favorisierten Lesestoff der männlichen Jugendlichen.[37] ) Aber ein derart üppiges Angebot an rein belletristischer, erzählender Unterhaltung wie für die Mädchen gab es für Knaben nicht. Nicht nur der Franz Schneider Verlag versuchte ebenfalls verschiedene Reihen ins Leben zu rufen, für deren Inhalte sich vorrangig Jungen interessieren sollten.[38] ) Diesen wurden offensichtlich wesentlich häufiger als den Mädchen sachbezogene Bücher geschenkt und nahegelegt. Es wirkte dementsprechend fast selbstverständlich, daß sie viel häufiger von der Lektüre in Geschichts- und Sachbüchern berichteten und ihre Leseerinnerungen nicht an die Erlebnisse einzelner Protagonisten knüpften.[39] )

Bei den Detektivserien für Jugendliche ist keine deutliche Abgrenzung zwischen Mädchen und Jungen als Leser zu ziehen, da sie weitgehend geschlechtsneutral gelesen wurden. Bis heute findet das Aufklären von Verbrechen durch gleichaltrige Protagonisten bei den jugendlichen Lesern einen großen Widerhall und das Angebotsspektrum ist entsprechend umfangreich.

Karl May

Vor allem von den Lesern der ersten Generation und den Frühgeborenen der zweiten Generation wurde die Lektüre zahlreicher Bände von Karl May thematisiert, die sich gleichsam wie ein roter Faden durch die erinnerten Jugendlesestoffe dieser Generationen zog. Die Inhalte der Bände arrivierten zu einer Art kulturellem Gemeinschaftswissen, das besonders in den 50er bis späten 60er Jahren unter den Kindern und Jugendlichen kursierte. Der Name "Karl May" steht als Synonym für eine ganze Gattung von Lesestoff, aber auch für Gesprächs- und Spielanregungen. Es bedurfte keiner weiteren Erklärungen unter Eingeweihten, die Inhalte, Personen und Handlungsorte waren bekannt.[40] ) Die Vielzahl der Bände veranlaßte zahlreiche Jugendliche, sich dem "Reihenfieber" hinzugeben und, wie z.B. Herr M., die Sommerferien schwerpunktmäßig dieser Lektüre zu widmen.

Beleg Herr M.(1928), Grafiker: "Meine großen Leseperioden waren dann in den Schulferien. Da war mein großer Ehrgeiz, pro Tag einen Karl May zu lesen. Und dann stand ich morgens extra früh auf, meistens schon um sieben, denn schließlich waren das bei Karl May fast 600 Seiten. Die Bücher wie Kapitän Keymann, Durchs wilde Kurdistan, die gefielen mir viel besser als Winnetou, die fand ich hochinteressant. Da hatte ich dann also meine Ferienlesestoffe an Karl May."

Im folgenden Beleg wird außerdem deutlich, daß die Karl-May-Bücher zugleich eine Literatur für Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter repräsentierten. In der nachfolgend erwähnten Sanatoriumsbibliothek dienten die Bände ursprünglich als Literaturangebot an die erwachsenen Patienten.

Beleg Frau F.(1933), Lehrerin: "Mein 14. Lebensjahr verbrachte ich in einer Lungenheilstätte wo es eine Bücherei nur für Erwachsene gab. Ich habe dort Karl May - alle Bände - und andere Abenteuerbücher gelesen, da mir Frauen- und Liebesromane noch nicht gefielen."

Einige Informanten berichteten auch, daß sich ihre Väter bei ihnen die Karl-May-Bände ausliehen und lasen.

Beleg Frau L. (1950), Gymnasiallehrerin/Yogalehrerin: "Einmal lag mein Vater auf dem Sofa, und ich denke, jetzt liest der mal was anderes als nur immer seine Zeitung. Und als ich nachsehe, da ist es mein Buch von "Winnetou".

Im Gegensatz zu den Serien wie "Nesthäkchen", die nahezu ausschließlich von den Mädchen gelesen wurden, setzte sich die Leserschaft Karl Mays aus beiden Geschlechtern zusammen, von denen einige die Bände auch im Rückblick noch als anregende und die Phantasie beflügelnde Lektüre beurteilen.

Beleg Frau L.(1930), Schneiderin/Hausfrau: "Dann.. Also ja. Was hat man währenddessen gelesen? Ich hatte eine Periode, da habe ich unheimlich viel Karl May gelesen. Angeregt durch eine Mitschülerin, die in ihrer Familie so einen Karl-May-Kult hatte. Also erstens hatte sie sämtliche Karl May Bände gelesen, und die konnte die Kapitelüberschriften von einzelnen Bänden auswendig. Also das war ganz verblüffend. Und die hat meine Freundin und mich angeregt, uns die Bände aus der Bücherei zu holen. Ganz in der Nähe unsere Schule war eine Leihbücherei und die haben wir dann viel frequentiert. Da haben wir dann viel Karl May gelesen. Das war ja eine Lektüre, die fesselte einen ja sehr. Ich weiß noch, als ich gerade beim dritten Band 'Winnetou' war, und er ans Sterben kam, da flossen mir die Tränen und meine Mutter rief nach mir 'I., I. komm mal her'!, und da bin ich noch im Gehen lesend und unter Tränen zu ihr gegangen. Ach, das war so traurig. Doch das war... also an Karl May habe ich eigentlich sehr schöne Erinnerungen. Bald entführte er einen in den Orient und dann wieder spielte es im Wilden Westen. Also das war auch alles sehr überzeugend geschrieben. Wir wußten ja auch schon damals, daß Karl May da gar nicht überall gewesen war. Aber er hat ja auch so einen Band zu seiner Rechtfertigung geschrieben, in dem er kräftig lügt. Da erzählt er, wie er mit seiner Frau später selbst nach Amerika gefahren ist und sich herausstellte, daß alles, was er sich aus Büchern angelesen hatte, über Landschaften, Über Flüsse, Gebirge und über Gewohnheiten der Indianer, eben bis aufs Haar stimmte."

Interessanterweise betonten viele Karl-May-Fans, wie im obigen Zitat, daß ihnen damals bereits bekannt war, daß Karl May selbst nie die Stätten und Länder seiner Erzählungen bereist hatte, eine fehlende Authentizität, die das Lesevergnügen keinesfalls schmälerte. Aufgrund des Umfangs der einzelnen Bände war ich erstaunt zu hören, daß die wenigsten sich mit den bekannten Büchern wie Winnetou oder Old Shatterhand begnügten, sondern vielmehr ein Ehrgeiz beim Lesen gerade dieses Autoren darin bestand, alle verfügbaren Bände in möglichst kurzer Zeit zu lesen. Solange diese Lesephase anhielt, waren alle Leser in einen regen Tauschhandel unter Freunden eingebunden.

Beleg Herr K.(1934), Bäcker/Zollbeamter: (...) "Und dann sind wir im Mai 1945 wieder zurück nach Breslau. Und da hatte ich dann keine eigenen Bücher mehr. Aber in der Zeit von Mai 1945 und Mai 1946, da hatte ein Bekannter von uns alle Karl May Bücher, die habe ich dann gelesen. Das war in Breslau in der Russenzeit. Und da habe ich, da es weder Radio, noch Zeitungen oder Zeitschriften gab, da habe ich so ziemlich alle Karl May Bücher bei dem Bekannten ausgeliehen und gelesen. Es gab ja auch keinen elektrischen Strom, und ich weiß, daß ich abends bis zum Dunkelwerden gelesen hab, und daß ich dann morgens um vier schon wieder weitergelesen habe. Die Spannung des Inhalts hat mich aufgeweckt."

Herrn H.s' größter Wunsch war es als Jugendlicher, die Karl May Bände komplett zu besitzen, ein Traum, den er sich erst als Erwachsener erfüllen konnte. Die Bände hat er dann allerdings nie wieder gelesen.

Beleg Herr Z.(1936), Kraftfahrzeugmechaniker/Gewerbelehrer: "Also Karl May, das weiß ich noch, habe ich mir damals immer wieder ausgeliehen, weil man ja damals keinen kaufen konnte, und das war, als ich jetzt mit dem Studium fertig war, und auch etwas Geld verdient habe, das war immer mein Traum, Karl May Bücher zu besitzen und auch zu lesen. Ich habe also oben so eine Reihe (zeigt auf die Bände) von diesen klassischen Karl May Bänden stehen. Ich muß aber auch sagen. Ich habe versucht, sie zu lesen, aber ich habe mich nicht durch alle durch gelesen. Ich habe dann später auch noch mal wieder reingesehen, aber ich kann für mich sagen, ich fasse keinen einzigen Karl May wieder an, um ihn zu lesen, ich kann es nicht mehr. Ich habe sie damals gern gelesen, aber ich könnte sie heute nicht mehr lesen."

Gelesen wurden diese Bücher, wie bereits erwähnt, allerdings fast ausschließlich von meinen Informanten der ersten und zweiten Generation. Für die dritte war Karl May weitgehend bedeutungslos, die nach 1960 Geborenen führten die Bände nicht mehr als einschneidende Leseerlebnisse an. Zuviele ähnliche Stoffe waren mittlerweile auf dem Markt, zudem fanden andere Serien speziell für jugendliche Leser ab etwa 12 Jahren immer größere Verbreitung. Zum Teil nahmen auch die Erzählungen und Romane von Jack London den Platz ein, der unter den Lesevorlieben früherer Generationen Karl May und anderen Abenteuerautoren (Jules Vernes, Mark Twain) reserviert war. Mit der Verbreitung neuer Serien, und damit auch neuer Helden als Protagonisten, entstanden unter den jugendlichen Lesern der dritten Generation neue Lesevorlieben. Die grundsätzliche literarische Beschaffenheit der Lesestoffe in der Jugend, die von einer Tendenz zur Trivialität geprägt war, wandelte sich dadurch allerdings nicht gravierend.

Selten besaß ein Mädchen die gesamten Bände von "Trotzköpfchen", "Pucki" oder "Hanni und Nanni" oder ein Junge alle Karl May Bände. Die Bücher wurden ausgeliehen und selbst weitergegeben. Über die Detektivserien waren in Einzelfällen auch Jungen der dritten Generation in den Tauschhandel involviert. Ihre Leseinteressen scheinen sich jedoch früher als bei den Mädchen den Comicheften zugewandt zu haben, in denen sie oft für längere Zeit 'ihre' Lesestoffe fanden.

Die geschlechtsspezifischen Leseneigungen und Leseinteressen die sich bereits in den Aussagen der Befragten abzeichnen, wurden natürlich durch die Wahl der Buchgeschenke für Kinder forciert. Den Aussagen nach erhielten Kinder in der Regel Bücher, die bereits von den Herausgebern für Jungen oder Mädchen vorgesehen waren.

Mädchen gelten - im Gegensatz zu Jungen - schon lange als potentielle Vielleser, so daß es nahezu selbstverständlich erscheint, daß auch die der dritten Generation ergänzend zu den sozusagen geschlechtsneutralen Krimireihen spezielle "Mädchenserien" lasen.[41] )

Eine Erweiterung des jeweils individuellen Literaturkanons auf die neue Kinderliteratur bedeutete nicht zwangsläufig, daß literarische Qualitätsunterschiede auch wahrgenommen wurden. Wenn doch, so geschah dies in der Regel nicht wertend, solange es sich generell um "Lesefutter" handelte.

Als Geschenke erhielten Jungen eher Tier- und Sach- bzw. Abenteuerbücher, die keine so intensive Identifikation, wie sie den Mädchen offensichtlich über die Lesestoffe nahegelegt wurde, intendieren, sondern vielmehr sachbezogene Information und Wissensvermittlung leisten sollten. Da die Berufswelt der Väter in der Kinder- und Jugendliteratur jahrzehntelang nicht oder nur ganz am Rande thematisiert wurde, konnte sie auch nicht als Vorbild zur Identifikation mit männlichen Geschlechtsrollen- Klischees dienen. Höchstens im Bereich der Tugenden und Eigenschaften, die einem "guten" Jungen zugeschrieben wurden, wie Ehrlichkeit, Mut, Gerechtigkeitssinn und Treue versuchten manche zur Nachahmung anzuregen.[42] ) Ein kritisches Bewußtsein für die geschlechtsspezifischen Ausrichtung der Kinder- und Jugendliteratur ließ sich in den Aussagen der Befragten nur selten nachweisen. Das geschlechtsspezifische Lesen wurde von meinen Informanten nicht negiert und fand sich auch in den Kreisen der anspruchsvolleren Leser. Die ensprechenden Lesestoffe dienten den jugendlichen Lesern zur Unterhaltung im weitesten Sinne, was auch das Lesen als Fluchtmöglichkeit in fremde Welten beinhaltete. Gerade die Lektüre der Abenteuerbücher stellte für viele Jungen der ersten und zweiten Generation eine Art Einstieg in die spätere Lektüre historischer Reiseberichte dar.

Leseverhalten, das sich in der Jugend etabliert, findet somit nicht selten im Erwachsenenalter seine Fortsetzung. Dementsprechend ist zu fragen, ob sich auch hier eine geschlechtsspezifische Wahl der Lesestoffe feststellen läßt, oder ob sich bei erwachsenen Lesern eher generationsspezifische Merkmale finden. Auf die Geschlechtsspezifik gehe ich auch im Abschnit zu den Romanheften noch einmal kurz ein.

Wie die Zitate weiter oben zeigten, verbanden Lektüren wie die Karl-May- oder "Nesthäkchen"-Bände die Jugendlichen auch mit der Elterngeneration, weil diese zum Teil ebenfalls gerne in den Büchern lasen. Im Zusammenhang mit den neuen Serien, die besonders in der dritten Generation gelesen wurden, fanden sich keine Hinweise auf einen derartigen Austausch der Lesestoffe zwischen Kindern und Eltern. Welche Kriterien und Motive deren Leseverhalten beeinflußten und prägten, soll im nächsten Abschnitt vorgestellt werden.

2. Bücher und Medien für erwachsene Leser

Auch für die erwachsenen Leser gibt es spezielle Serien und Buchgenres, auf die sie immer wieder zurückgreifen. Die sehr unterschiedlichen Leseinteressen der befragten Frauen und Männer scheinen offenbar auch der bereits wiederholt erwähnten Geschlechtspezifik im Leseverhalten der Befragten zu folgen. Allerdings weniger in den Lesezeiten und Funktionen als in der Auswahl der Buchgenres.[43] ) Diese sind in der ersten Generation zudem als generationsspezifisch zu bezeichnen. Für die zweite und dritte Generation läßt es sich nicht mehr in dieser Eindeutig feststellen.

Beleg Frau P.(1936), Verkäuferin/ Erzieherin: "Mein Mann (...) liest auch ganz andere Sachen wie ich, z.B. Hamburger Bücher wie die Hamburg-Chronik. Und eher so Familienchroniken aus Dithmarschen woher seine Familie stammt, oder auch überhaupt Geschichtswerke zur Deutschen Geschichte, Publikationen von Politikern, eben sachbezogene Bücher."

Die befragten Frauen präferieren häufig Lesestoffe, die einen Bezug zu ihrer eigenen realen Welt aufweisen, oder deren Handlungstränge wie in umfassenden Familienepen, in historische Kontexte eingebunden sind und in denen oft Frauen im Mittelpunkt stehen. Die weiblichen Angehörigen aller drei Lesergenerationen interessieren sich außerdem für die Lebensweisen fremder Kulturen unter der besonderen Berücksichtigung der Rolle der Frauen. Viele Informantinnen erwähnten auch das in den letzten Jahren stark expandierte Angebot an humorvollen "Frauenbüchern", die die spezielle Situation gut ausgebildeter Frauen und Mütter und ihr Dilemma zwischen Kindern, Karriere und Küche thematisieren. Unter den Frauen fanden sich auch zahlreiche Krimi-Leserinnen; Science-fiction Literatur wurde dagegen von ihnen fast gar nicht gelesen.

Besonders im Bewußtsein der Frauen der ersten Generation ist das Lesen klassischer Literatur zu Bildungszwecken nach wie vor stark verankert; sie berichteten wesentlich häufiger von entsprechender Lektüre als die Jüngeren. Die passionierten LeserInnen der zweiten und drittten Generation legen zwar ebenfalls Wert auf sprachlich anspruchsvolle Texte, finden diese aber gleichermaßen in der modernen Gegenwartsliteratur wie unter den älteren Texten der modernen Klassiker.

Zur gezielten Information über bestimmte Themengebieten (wie Gesundheit, Hobbies, persönliche Interessen) ziehen die Informantinnen zwar selbstverständlich Bücher heran, aber die Bedingung, daß beim Lesen grundsätzlich ein gewisses Informationsbedürfnis befriedigt werden müsse, formulieren sie eher selten. Es läßt sich konstatieren, daß das Lesen zu Weiterbildungszwecken für die Mehrzahl der von mir befragten Frauen aller drei Generationen eine untergeordnete Rolle spielt, ohne daß ihnen generell ein historisch- oder weiterbildungsbezogenes Desinteresse unterstellt werden soll.

Beleg Frau L.(1930), Schneiderin/Hausfrau: "Nein, also zur Fortbildung habe ich wohl nie irgendetwas gelesen." Und zur Information? Ja, zur Information, das spielt eine Rolle. Auch Geschichtliches habe ich gerne aus Interesse an geschichtlichen Abläufen gelesen. Diese Bücher unterhalten einen aber auch über die Information, weil man sich eben für andere Kulturen interessiert."

Frauen verlangen von den jeweiligen Lesestoffen selten den "Doppelnutzen" von Information und Unterhaltung der, wie noch zu zeigen ist, in den Aussagen der Männer wiederum häufig formuliert wurde. Eine Befragte legte allerdings auch Wert darauf, daß es in ihrer Lektüre einen sachbezogenen "roten Faden" geben müsse, der ihre Aufmerksamkeit fesselt. Sie gehören aber unter meinen Informantinnen zur Minderheit. Frau M., die im folgenden zitiert wird, befindet sich mit ihrem Leseverhalten sozusagen im Grenzbereich zwischen weiblichen und männlichen Lesevorlieben. Einerseits bevorzugt sie Bücher mit einem auf sachthemen bezogenen roten Faden, andererseits aber liest sie zu typischen Frauenthemen, wie Kindererziehung und Partnerschaft.

Beleg Frau M.(1959), ausgebildete Gymnasiallehrerin/Hausfrau: "Komischerweise kann ich mich überhaupt nicht erwärmen, mich daran zu setzen und nur ein Buch, was ein reiner Roman ist mit Anfang, Mitte, Ende, zu lesen. Das interessiert mich nicht, sondern ich brauche einen Aufhänger für ein Buch. Wobei das nicht sture Fach- oder Sachbücher sein müssen. Aber z.B. über Sprache, Kommunikation. Eines habe ich mal gefunden über Patente die von Frauen entdeckt worden sind. Diese Mischung, daß ich ein Interesse daran habe an dem Gebiet worum es geht, und das es dann irgendwie Menschen betrifft. Das können auch Themen sein wie Kindererziehung oder religiöse Themen über die ich dann nachdenke."

Die Mehrzahl meiner Informantinnen lasen vor allem zur Unterhaltung oder aus Freude an der Sprache von Texten. Sie wählen wesentlicher häufiger Texte die einen Bezug zu ihrem Lebenszusammenhang herstellten.

Dagegen formulierten die Männer aller Altersgruppen generell ein stärkeres Interesse an Sachbüchern, historischen und politischen Büchern als die Frauen. Viele der befragten Männer lasen ebenfalls, um sich zu unterhalten und zu entspannen, wobei sie aber eindeutige Ansprüche stellen: Auch zur Unterhaltung und Ablenkung sollen die Inhalte der Bücher fesselnd sein. Im Falle eines historischen Bezugs ist der Eindruck von Authentizität erwünscht, Schicksalsschilderungen sollen in einen politischen oder gesellschaftlichen (historischen) Kontext eingebunden sein. Die Lektüre von Science Fiction Romanen, nannten mir fast ausschließlich Männer. Das Spektrum dieser Texte reicht von Stanislav Lem (Herr G., 1946) über Wolfgang Hohlbein ( Herr L., 1953) bis zu "Perry Rhodan" (Herr P., 1952)

Präferiert wurden Texte, in denen aktuelle oder brisante Themen aus Politik, Geschichte und Wirtschaft mit Spannung kombiniert werden; entsprechend Tatsachenberichte, Spionage- und Wirtschaftskrimis, weil diese "Action" und realitätsbezogene gesellschaftskritische bzw. politische Aspekte miteinander verknüpfen. Mehrere Befragte, die eigentlich von sich sagten, daß sie nicht gerne und nicht viel lesen, gaben an, sich doch immer wieder einmal von politischen Biographien und heimatkundlichen Bücher fesseln zu lassen.

In der ersten und zweiten Generation wiesen die Männer eindeutig profilierte Lesevorlieben auf, für die sich in der dritten Generation nicht immer ein Pendant finden ließ. Einerseits wurden gerade aus der ersten Generation und auch aus der zweiten literarisch anspruchsvolle Texte, aber auch Bücher aus den bereits oben erwähnten Bereichen Wirtschaft und Politik genannt. Daneben lasen sie auch zu historischen und geographischen Themen. Die Männer der dritten Generation lasen weniger unter Bildungsaspekten, sie wollten eher gut unterhalten werden bei ihrer Lektüre. Dafür wählten sie aber häufig ähnliche Lesestoffe, so daß durchaus generell von männlichen Präferenzen bei der Lektüreauswahl gesprochen werden kann.

Beleg Herr B.(1970), Redakteur/kaufm. Angestellter: "Ich will für meine Lesezeit gut geschriebene spannende Bücher. Ich lese auch mal einen Klassiker, aber die sind mir nicht so wichtig. Das haben wir in der Schule zur Genüge gemacht. Mir ist wichtig, daß ein Buch spannend ist, daß der Plot stimmt, und daß der Inhalt nicht völlig aus der Luft gegriffen ist.

2.1 Heftchenromane

Vor allem aus der ersten und zweiten Generation gaben Frauen wie Männer zu Protokoll, daß sie Phasen intensiver Heftroman-Lektüre durchlebt hatten. Begründet wurden diese oft mit einem regen Interesse an einer etwas anrüchigen Literaturgattung, denn einigen Befragten waren diese Hefte - auch "Lore-Romane" oder "Schund-Romane" genannt - in ihrer Jugend verboten oder als minderwertig verpönt worden, was sie als Leser regelrecht anlockte.

Beleg Herr Z.(1936), Gewerbelehrer: "Also während der Lehre habe ich auch noch gelesen und auch nebenbei während des Studiums. Da hatte ich sogar eine Phase - ich wohnte bei Verwandten hier in Hamburg - da haben mein Vetter und ich uns dann um die Ecke bei einem Laden, der Lore-Romane und all so etwas, auch die sogenannten "Lustigen Romane", eben alles so etwas als Groschenromane führte, da haben wir uns diese Groschenromane geholt. Ich hatte so etwas vorher noch nie gelesen. Und da habe ich dann also ganz intensiv diese Groschenhefte gelesen."

Bei der Erwähnung dieser Art von Lesestoff wurde häufig gleichzeitig eine rechtfertigende Erklärung abgegeben, wie im folgenden von Frau P., die die Lektüre mit der Euphorie des beginnenden Urlaubs entschuldigt:

Beleg Frau P.(1936), Erzieherin: "In den Urlaub nehme ich mir immer gerne ein schönes Buch mit und leiste mir aber auch gelegentlich, wenn wir einen Flug gebucht haben, dann leiste ich mir auch so einen ganz einfachen leichten Roman, so einen Schundroman. Ich bin dann immer wieder ganz entsetzt über das Schema, was da abläuft: Sie haben sich, sie verlieren sich, sie kriegen sich. Und dann ärgere ich mich direkt, daß ich meine Zeit dafür hergegeben habe, aber das ist dann so die erste Urlaubslaune gewesen.

Für einige meiner Informanten stellte das Lesen dieser Texte eine der Lesephasen ihrer Jugend dar. Sie waren sich stets der Stigmatisierung und Pejorisierung dieser Lesestoffe bewußt, denn diese Phasen wurden jeweils als in sich abgeschlossen geschildert, gleichsam als ob der Verdacht, daß solche Hefte heute noch gelesen würden, im Keim erstickt werden sollte. Meistens verweisen die Befragten auf Dritte, die ihre Aufmerksamkeit auf diese Lesestoffe lenkten.

Beleg Frau N.(1929), Apothekenhelferin/Hausfrau: "Ach, ich habe soviel gelesen in meinem Leben. Eine Zeitlang habe ich auch Kelter-Romane gelesen. Ach ja, als ich zehn war, da hatte ich einen Nachbarsjungen, der brachte mir so Bücher aus dem Wilden Westen. Da ist mir ein Satz in Erinnerung: "Und tief zog er den grauen Sombrero". Der Satz hat mich schwer beeindruckt, das weiß ich bis heute noch. Also so ein bißchen schlechtere Literatur, so wie die Kelter-Romane. Handelte es sich dabei um Heft-Romane? "Ja, so Liebesromane, die spielten meistens im bäuerlichen oder Arztmillieu. Ja, die habe ich auch eine Weile gelesen. Man kommt ja auch im Laufe der Jugend mit unterschiedlichsten Freunden und Freundinnen zusammen, und jeder empfiehlt einem was anderes und beeinflußt einen damit eine Weile."

Einige Männer lasen Heftromane während freier Zeiten, die sie in größeren Gruppen verbringen mußten, und in denen ihnen die Konzentration auf umfangreichere, anspruchsvollere Texte schwer fiel.

Beleg Herr G.(1946), Geophysiker: Hast du auch mal Groschenromane gelesen? "Ja, habe ich auch, allerdings in Zeiten, wo ich nicht viel anderes zu lesen hatte. Nicht, daß ich es nun so schlecht gefunden hatte, aber eben auch nicht so toll. Als wir mit der Geophysik viel unterwegs waren, da hatten wir so Hefte, und da habe ich dann auch welche gelesen."

Beleg Herr K. (1956), kaufm. Angestellter: "Während der Bundeswehrzeit habe ich mir auch vor den Manövern möglichst dicke Taschenbücher gekauft. Da wußte ich, es wird langweilig und die Taschenbücher paßten gut in die Hosentaschen. Ich habe damals auch viele von diesen Wild-West Romanen gelesen. Die hatte ich immer von meiner Oma, die hat die auch intensiv gelesen. Das ließ sich da gut in den Leerlaufzeiten lesen. Lasso-Western und Lassiter, da gab es Verschiedenene. Ein Heft reichte gerade für eine Wache von 24 Stunden. Das war alles keine hochgestochene Literatur."

Immer wieder wurden kürzere oder längere Wartezeiten mit der Lektüre von Heftromanen überbrückt. Der vorhergehende und auch der folgende Beleg beinhalten außerdem Verweise auf die typisch männlichen Leseinteressen innerhalb dieses Genres: Wildwestromane, Science-Fiction- oder Landser-Hefte.

Beleg Herr S.(1949), Starkstromelektriker/Techniker: "Und morgens, wenn er (der Vater) auf den Hochsitz ging - oder abends, um die Tiere zu beobachten - er liest nämlich Western-Hefte und ich auch, da hat er die Western mitgenommen. Das habe ich von ihm. Und wenn wir zusammen rausgingen in den Wald, dann haben wir beide Hefte mitgenommen. Er hat mich dann erst bei dem einen Hochsitz abgesetzt und ist dann zu dem anderen gefahren. Ich habe auch noch Horrorgeschichten gelesen aber keine Krimis. Heute lese ich allerdings andere Sachen als diese Hefte. Nur Science Fiction, die lese ich heute noch gerne."

Berichtet wurde mir auch vom Austausch dieser Hefte unter Freundinnen als Form einer geselligen unterhaltenden Lektüre ohne jeglichen literarischen Anspruch. Jede las dieselben Inhalte wie die andere, und so konnte man sich anschließend darüber unterhalten. Das Lesen der Heftromanen beinhaltete durchaus mehrere kommunikative Aspekte. Da sich die Inhalte wiederholten und stets nach dem gleichen Schema aufgebaut waren, brauchte keine Leserin zu fürchten, eine ganz persönliche Vorliebe für Lesestoff preiszugeben. Die Heftromane faszinierten aufgrund der Wiederholung ihrer Effekte und der Anspruchslosigkeit ihrer Inhalte, die auch in Situationen mit stärkerer Ablenkung konsumierbar waren.

Beleg Frau P.(1954), Sachbearbeiterin: "Und dann, ja als ich dann älter wurde, da wurden auch viele Romane gelesen (lacht). Die waren nicht immer so dick gewesen, daran kann ich mich noch erinnern, da waren leider auch ein paar Schandromane dabei, oder nein, 'Schundromane' heißt das ja, die man dann auch untereinander ausgetauscht und darüber geredet hat. Das sind die Sachen, die man dann ins Schwimmbad mitgenommen hat. Ja, und auch mal unter der Bettdecke gelesen hat. Das weiß ich noch, weil meine Eltern doch ab und zu reinkamen und doch geguckt haben, ob wir denn auch unser Licht ausgemacht hatten. Und mit der Taschenlampe konnte man doch die dünnen Hefte besser lesen, als die dicken Bücher".

Nicht immer blieben die Inhalte dieser Hefte ohne Wirkung auf die Leser, und die dort geschilderten Traumwelten prägten eine Zeitlang sicherlich nicht nur Frau L.'s Verständnis von der Rollenverteilung zwischen Frau und Mann.

Beleg Frau L.(1950), ausgeb. Gymnasiallehrerin/Yogalehrerin: "Und dann eine Zeitlang, wie alt ich da war, weiß ich überhaupt nicht mehr, da war ich im Urlaub bei einer meiner Tanten, und die hatte einen riesigen Stapel an diesen billigen Lore-Romanen. Und da habe ich den Urlaub damit verbracht, diese Lore-Romane zu lesen. Die fand ich ganz toll. Und ich denke, das ist auch nicht ganz spurlos an mir vorüber gegangen. Das Bild der Frau und das Bild des Mannes, so einen Märchenprinzen, der sich aus was für Gründen auch immer für einen entscheidet; so etwas habe ich mir dann auch lange gewünscht. Bis ich dieses Bild wieder losgeworden bin und die Realität akzeptierte.., das merkte ich so , daß das lange immer wieder ein Hirngespinnst war (...) das dauerte lange, bis ich davon los kam."

Eine derartig intensive Identifizierung mit den Inhalten von Heft-Romanen wurde von keinem der männlichen Informanten formuliert. Es ist davon auszugehen, daß sich hier wieder die Geschlechtspezifik des Leseverhaltens zeigt, der entsprechend Frauen eher emotional und stark romantisierend lesen.[44] ) Die männlichen Leser reflektieren insgesamt wesentlich weniger über derartige Empfindungen beim Lesen. Das im folgende geschilderte Leseverhalten scheint entsprechend ein entschieden männlich geprägtes zu sein. Es spiegelt das sach- und informationsbezogene Interesse der männlichen Befragten. Herr P.las eine spezielle Version der Hefte, nämlich die - mittlerweile klassische - Science Fiction Serie "Perry Rhodan", die in seinen Augen mit den üblichen Heftromanen außer dem Vertrieb über den Zeitschriftenhandel nichts gemein hat. Er berichtete, daß über diese Texte u. a. sein Interesse an der Gentechnik geweckt wurde und er anschließend begann, wissenschaftliche Bücher über diese Themenbereiche zu lesen. Nach eigener Aussage hat er, über Jahre hinweg, etwa 1.000 dieser Hefte gelesen.

Beleg Herr P.(1952), Polizeibeamter: "Also, es gab diese Serie Perry Rhodan damals nur in Heftform, inzwischen gibt es die ja auch als Bücher. Und von diesen Heften habe ich bestimmt weit über 1.000 gelesen. Und wenn man bedenkt, daß 52 Hefte pro Jahr erscheinen, dann kann man sich ausrechnen, wieviele Hefte ich davon pro Jahr gelesen habe. Ja, und wie ich vorhin schon erwähnt habe, habe ich die gelesen, weil man mit diesen Romanen der Realität entfliehen konnte. Diese Romane haben bei mir das Interesse geweckt, mich mit Fach- oder Sachbüchern zu den Themen Mutation oder paranormale Fähigkeiten zu beschäftigen. Ich habe Bücher über Versuche in Rußland gelesen, in denen es darum ging, Telepathie oder Telekinese nachzuweisen."

Selten erinnerten sich die Informanten daran, neue Heftromane gekauft zu haben. Speziell für dieses Literaturgenre gab und gibt es einen regen Handel für gebrauchte Ware. Zum Teil gingen die Befragten, wie im nächsten Zitat Herr K., zu Ständen auf Wochenmärkten. Diese Händler verkaufen neue und gebrauchte Lesestoffe. Die im folgenden erwähnten Stände befinden sich noch heute auf den beiden, von Herrn K. damals besuchten Märkten.

Beleg Herr K.(1956) kaufm. Angestellter: "Ich war ja damals oft bei meiner Oma. Und da bin ich mit meinem Opa zum Goldbekmarkt gegangen. Er hat da seine alten Hefte hingebracht, das waren auch zum Teil neue, und hat sich dann am Stand andere ausgesucht. Ich durft mir dann auch mal was aussuchen. Zuerst habe ich 'Bessy' und 'Lassiter' genommen und später auch von diesen Western-Heften. Bei meinen Eltern auf dem Markt gab es auch so einen Stand und da bin ich dann auch alleine hin, da war ich so etwa 12 Jahre. Western und Kriegshefte hatten die auch. Das habe ich dann eine Weile gelesen. Wir haben die aber auch mit Freunden getauscht. Neue hatte eigentlich keiner."

Was das Lesequantum betrifft, so werden Heftromane von Frauen und von Männern gleichermaßen rezipiert. Die Angebotsvielfalt sorgt dafür, daß auch mit diesem Literaturgenre unterschiedliche und geschlechtsspezifische Leseinteressen, zumindest für eine Weile, befriedigt werden können. Die Verbote und Stigmatisierungen der Heftromane sorgten zusätzlich für eine gewisse Anziehungskraft, die den Reiz des Austausches untereinander noch erhöhte.

Keiner meiner Befragten der dritten Generation konnte sich daran erinnern, diese Hefte regelmäßig oder in nennenswerter Menge gelesen zu haben. Dies ist meiner Meinung nach auch ein Indiz dafür, daß Heft-Romane im Zeitalter der Medienvielfalt, vor allem der Audiovisuellen, für viele jungendliche Leser nicht attraktiv genug sind, wenn nahezu identische Inhalte auch in Form diverser Fernsehserien konsumiert werden können.

2.2 Lesemappen und Zeitschriften

Im Laufe der Interviews wurden als Lesestoffe und Lesemedien nicht allein Bücher und Tageszeitungen, sondern auch immer wieder Zeitschriften genannt. Zum einen gab es in fast allen Haushalten mit einem Fernsehgerät auch eine Fernsehzeitschrift - meistens die "Hör Zu!" -, zum anderen hielten mehrere Familien von Befragten der ersten Generation zusätzlich dazu Lesezirkelmappen, die je nach Abonnementsform wöchentlich oder vierzehntägig gewechselt wurden. In zwei Familien waren die Mappen bereits in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg abonniert worden.

Beleg Frau L.(1944): Schneiderin/Hausfrau: "Und dann wären da noch die Lesemappen. Wir hatten zu Hause eine Lesemappe "Daheim" von Richard Ganske, so hieß die damals schon. Die hatte sich meine Mutter an der Haustür aufschwätzen lassen. Die ließ keinen Hausierer gehen, ohne daß sie ihm irgend etwas abnahm. (...) Wie gesagt, sie konnte da nicht widerstehen und so sind wir auch zu der Lesemappe gekommen. Ich habe die sehr gerne gelesen: eine Illustrierte, in der habe ich z.B. sehr gerne die Karikaturen angesehen. Da gab es ganze Seiten und ich konnte nach einiger Zeit auch die Stile der Karikaturisten sehr gut erkennen und auseinanderhalten. Die waren mir dann völlig geläufig (...). Da gab es Koralle, Lustige Blätter, Berliner Illustrierte..."

Die genannten Titel fanden sich bis auf die "Koralle" nach 1945 nicht mehr im Angebot der Mappen, deren Inhalte nach der Aktualität des Zeitschriftenmarktes ausgerichtet wurden. Der Vertrieb der Abonnements bot verschiedene Bezugsmöglichkeiten an, die Hefte wurden mehrmals verliehen und verblieben zuletzt häufig in den Familien der "Werber" (Vertreter) bzw. Verteiler.

Beleg Frau P.(1936), Verkäuferin/Erzieherin: "Mein Vater war zu meiner Kleinstkinderzeit Werber bei der 'Grünen Mappe', daß heißt, ein großer Büchermappenverlag. Infolgedessen, so wurde mir erzählt, habe ich als Kleinstkind von 10 Monaten diese Hefte in die Hand genommen und dazu 'Rille, rille, rille' gesagt. (...) Diese aktuellen Illustrierten, die gebunden sind in einen festen Umschlag, und ja auch heute noch bei Ärzten, Friseuren und so weiter zu finden sind. Sie waren zusammengestellt in verschiedenen Mappen. Je nach Aktualität der höhere Preis. Diese Mappen wurden bis zu sechs Malen verliehen. Daß heißt, es hatte keine aktuelle Bedeutung mehr, bedeutete aber Lektüre, Fortsetzungsromane, Rätsel, Rezepte je nachdem, was einen interessierte. Da mein Vater Angestellter dieser Firma war, bekam er die Mappen, die nicht mehr verliehen wurden. Die durfte er mitnehmen, und infolgedessen durfte ich die auch 'zerlesen'."

Frau F. berichtete, daß die Familie über ihre Brüder die nicht mehr ganz aktuellen Mappen ebenfalls gratis ins Haus bekam:

Beleg Frau F.(1957), Krankenschwester: Und Zeitschriften, gab es die in der Familie regelmäßig? "Ja, das sind die Stichworte. Wir hatten zur der Zeit immer regelmäßig eine Illustrierte - ich weiß aber nicht mehr, welche das war - und auch eine Fernsehzeitung natürlich sowieso. Und ganz früher haben meine älteren Brüder sich Geld dazu verdient, indem sie so Mappen ausgetragen haben." Lesemappen? "Ja, Lesemappen mit verschiedenen Zeitschriften, und dadurch bekamen sie (die Brüder) natürlich auch immer günstig welche oder umsonst dazu. Und darin haben wir und sie (die Eltern) auch viel gelesen und reingeguckt. Davon haben sie jedenfalls auch oft erzählt. 'Zirkel' oder 'Lesezirkelmappen'hießen die wohl. Die liegen ja heute auch noch in den Arztpraxen. Die habe ich mir auch angesehen und auch Artikel, die mich interessierten gelesen."

Die Lesezirkelhefte stießen demnach bereits bei den Kindern und Jugendlichen auf Interesse und wurden in ihrer Vielfalt - zumindest in Teilen - von allen Familienmitgliedern auf unterschiedliche Weise rezipiert.

Beleg Herr S.(1949), Starkstrom-Elektriker/Techniker: "Wir hatten ein Lesezirkel-Abo und da war der Stern dabei und der Spiegel und Hör Zu und die 'Schweinkramhefte', wie mein Vater sagte, die hatte meine Mutter schon immer raussortiert. Das haben wir bis in die sechziger Jahre gehabt."

Die jüngste Befragte, die sich noch an ein Lesemappen-Abonnement der Familie in den frühen 70er Jahren erinnerte, ist Frau K:

Beleg Frau K.(1959), Hausfrau: "Meine Großeltern und meine Uroma haben eigentlich sehr viel gelesen. Meine Eltern auch. In der Familie wurden regelmäßig Zeitungen und Zeitschriften gelesen. Wir hatten die Lesezirkel Mappen jahrelang gehabt. Die hat hauptsächlich meine Mutter gelesen. Diese Hefte der Regenbogenpresse. Aber meine Oma hatte die abonniert, nach ihrem Tod haben wir die nicht weiter behalten."

Heute findet man diese Mappen eigentlich nur noch in Arztpraxen, Altersheimen, Krankenhäusern oder beim Friseur. Selbst die ständige Erweiterung des Lesezirkelangebotes, das im Laufe der Zeit auch Nachrichtenmagazine einschloß, konnte den Trend, sich im Zuge steigenden Wohlstandes eigene aktuelle Zeitschriften zu kaufen, nicht aufhalten. In ähnlicher Weise wie die Zeitschriftenmappen stellen auch die Vorschlagsbände der Buchklubs oder die "Readers-Digest-Hefte"[45] ) vorselektierte Lesestoffe dar, wodurch den Lesern die Entscheidung innerhalb des Angebotes abgenommen wird. Die auf diese Weise für die Massen produzierten Lesestoffe und Lesemedien boten ihren Lesern Gesprächsstoff für den Alltag in der Familie, mit Freunden oder auch Bekannten. Lesern, die sich bei der Selektion von Lektüren unsicher fühlten oder sich nur schwer entscheiden konnten, wurde so auf bequeme Weise Lesestoff dargereicht. Die Regelmäßigkeit des Erscheinens garantierte laufend neue Informationen und Anregungen, so daß es nicht als Mangel empfunden wurde, wenn die Auswahl von Fall zu Fall nicht zusagte. Es ist sicherlich nicht spekulativ, anzunehmen, daß diese Art der Lektüre aber andererseits zur Folge hatte, daß die ohnehin eher ungeübten Leser so relativ schwer oder selten eigene Lesevorlieben entwickeln konnten, da sie es nicht gewohnt waren, ihren Lesestoff selbst auszuwählen, und sich selten oder nie mit ihren persönlichen Leseinteressen auseinandersetzten. Inwieweit unregelmäßige oder sporadische Leser andererseits über diese Lektüren tatsächlich zu einem selbständigen Leseverhalten gelangten, ist noch nicht genauer zu belegen. Es ist aber davon auszugehen, daß diese Konsumenten sich selbst nicht unbedingt turnusmäßig Zeitschriften oder entsprechende Lektüre in dieser Zahl gekauft hätten.

Der Bezug der Lesezirkelmappen hatte, ebenso wie die Abonnements der "Readers-Digest"-Hefte, in den Familien meiner Informanten seinen Schwerpunkt in den 40er bis 70er Jahren - sie wurden vorwiegend von den Angehörigen der ersten und zweiten Generation erwähnt. In den Aufbaujahren, die von Nachholbedürfnissen, wirtschaftlichen Aufschwungphasen und neuer gesellschaftlicher Etablierung geprägt waren, kam ein solcherart vorselektiertes Lesestoffangebot vielen Menschen, die zunächst unsicher waren, wie sie sich einen neuen Bücherbestand und damit nicht zuletzt auch Wissensspeicher aufbauen sollten, entgegen. Das erweiterte Buchangebot und die vielfältigen Vertriebswege entsprach den Bedürfnissen der Menschen nicht nur ihre materiellen Verhältnisse zu stabilisieren, sondern sich auch geistig weiterzubilden. Daneben stand hinter diesem starken Lesedrang und dem Verlangen nach Lesestoffen ganz einfach das Bedürfnis nach Unterhaltung und Ablenkung.

Im Gegensatz dazu zeigen die Aussagen der jüngeren Befragten, daß sie sich in der Regel ihre Zeitschriften und Bücher gezielt oder spontan selbst aussuchten und sich nicht mehr uneingeschränkt auf Fremdauswahl verlassen mochten. Zeitschriften wurden und werden von den Befragten und ihren Familien natürlich auch ohne Bindung an Lesezirkelmappen oder feste Abonnements gelesen und untereinander ausgetauscht. Die nahezu als "obligatorisch" zu bezeichnende Fernsehzeitung wurde mir von den meisten Informanten

genannt.[46] ) Außerdem wurden Nachrichtenmagazine und speziell Frauen- oder Hobby-Zeitschriften erwähnt. Die Männer der ersten und zweiten Generation kauften oft über Jahre hinweg das gleiche Nachrichtenmagazin, den "Spiegel", während unter den jüngeren Frauen und Männern der dritten Generation mehrere Befragte aussagten, sie seien zum neueren Magazin "Focus" übergewechselt. Einige lesen seit Jahren regelmäßig den "Stern". Andere Zeitschriften, soweit man sie nicht gezielt im Abonnement bezog, wurden sporadisch und je nach aktuellen Interessen gekauft. Unter den Frauen hatten z.B. drei die "Brigitte" abonniert (zweite und dritte Generation), alle anderen gaben an, nicht auf eine Zeitschrift fixiert zu sein und beim Kauf die Titel zu variieren. Immer häufiger werden Zeitschriften vor dem Kauf durchgeblättert, um zu klären, ob "es sich lohnt". Die feste Bindung an Zeitschriften über Abonnements ergab sich am häufigsten für eine Tageszeitung und für Fach- und Vereinszeitschriften, wohingegen populäre Zeitschriften sporadisch bzw. mit einer "unregelmäßigen Regelmäßigkeit" gekauft werden.[47] )

Beleg Frau K.(1958), ehem. Sekretärin/Hausfrau: "Wir haben das Abendblatt abonniert. Und dann kauft K. mir beim Samstagseinkauf auch mal eine Zeitschrift, die ich ihm aufgeschrieben habe. Wir kaufen Zeitschriften nicht regelmäßig, sonst türmt sich das hier und ich habe das alles noch nicht gelesen."

Vor allem die Frauen der ersten Generation gaben nur selten an, sich selbst einzelne Zeitschriftenexemplare über eine Fernsehzeitung hinaus gekauft oder gar abonniert zu haben. Die Abneigung gegenüber Abonnements ist zum einen als Abwehr gegen ein verpflichtendes Lesequantum zu verstehen, denn die wenigsten möchten sich vorschreiben lassen, wann und wieviel sie lesen sollen. Zum anderen spielen auch die Ausgaben für den Lesestoff eine Rolle, denn diese rentieren sich nur, wenn das jeweilige Heft auch gelesen und damit genutzt wird. Da Nachrichtenmagazine und Zeitschriften relativ schnell, bereits vom nächsten Heft inhaltlich überholt sind, gilt für sie nicht die Zeitlosigkeit des Lesestoffes, die gemeinhin für Bücher existiert.

Ergänzend zu den Lesezirkel- und "Readers-Digest-Heften" setzten auch die Buchklubs auf die Lese-Ambitionen zahlreicher Menschen in den Nachkriegs- und Aufbaujahren der Bundesrepublik. Mit ihrem Angebot trugen sie der Tatsache Rechnung, daß gerade unter den Befragten der ersten Generation ein enormes Nachholbedürfnis nach Lesestoffen, Bildungsaneignung und auch Unterhaltung bestand, wie der anschließende Abschnitt unter anderem zeigen wird.

3. Buchkauf, Buchgeschenke und Mitgliedschaften im Buchklub

Buchkauf und Buchgeschenke

Die bisherigen Ausführungen ließen deutlich werden, daß Lesen und der Gebrauch von Büchern grundsätzlich als etwas sehr Persönliches empfunden werden. Die Vielfalt des Buchangebotes ist nahezu synonym mit der Vielfalt der Lesevorlieben. Ähnlich individuell gestaltet sich auch das Verschenken von Büchern. Diejenigen unter den Befragten, die viel und bevorzugt Bücher lesen, stöbern auch gerne in Buchhandlungen. Sie kaufen Bücher ebenso gerne für sich, wie für ihre Angehörigen oder als Geschenk für Freunde. Passionierte Leser bevorzugen Buchpräsente, allerdings nur für Menschen, von denen sie glauben, daß das Geschenk auch gewürdigt wird. Buchgeschenke, die "ungelesen herumliegen", werden von Buchliebhabern als vergeudete Gabe empfunden. Frau K. spricht stellvertretend für einige andere aus, nach welchen Kriterien sie selbst Bücher verschenkt:

Beleg Frau K.(1958), ehem. Fremdsprachensekretärin/Hausfrau: "Ich suche Bücher als Geschenke aber nur noch für Leute aus, von denen ich weiß, daß sie gerne Bücher lesen und daß sie auch gerade die Art von Buch mögen. Wer nichts liest oder bei wem das ewig rumliegt, dem schenke ich nichts. Jedenfalls kein Buch".

Mehrere Informanten besitzen dementsprechend feste Vorstellungen davon, wem sie Bücher schenken:

Beleg Frau K. (1935), Schmuckverkäuferin: Verschenken Sie auch Bücher? "Ja gerne. Besonders an meine Schulfreundin, die ich seit 46 Jahren kenne." (...) Und wenn man so Krankenhausbesuche macht, dann nehme ich auch gerne ein passendes Buch mit. Doch, ich verschenke gerne Bücher, aber nur an Menschen, die auch wirklich gerne lesen, und die das dann zu würdigen wissen. Nicht an Leute die dann sagen: Ach, ach und es dann doch nie lesen oder weiterverschenken. Da wird es dann weggepackt, und man hört nie wieder was davon. Ich habe eine Bekannte die wollte unbedingt ein Buch, und dann habe ich nach Empfehlung des Buchhändlers die "Muschelsucher" (von R. Pilcher) geschenkt. Und als ich sie dann mal fragte und immer wieder fragte, wie es ihr gefällt, da sagte sie dann eines Tages 'Ich muß dir was gestehen, ich komme mit dem Buch nicht voran, das ist alles so schwer.' Also da weiß ich, dieser Bekannten würde ich nicht wieder ein Buch schenken, die hat einfach keinen Draht dazu."

In den beiden letztgenannten Belegen klingt auch an, wie wichtig habitualisierte Buchleser ihr Medium, das Buch, nehmen. Die Buchpräsente werden nicht allein um des Sachgegenstandes Buch willen überreicht, sondern mit der Absicht, auch ein Stück der eigenen Empfindungen und der eigenen Begeisterung beim Lesen weiterzugeben. Es werden dann auch von den Schenkenden Gespräche über die Inhalte der Bücher gesucht. Das Bekenntnis zu Emotionen, die ein Text im Leser ausgelöst hat, wird bevorzugt vertrauten Personen mitgeteilt.

Beleg Frau A. (1965), technische Zeichnerin: "Für Freundinnen als Geschenk, um sie an meiner Begeisterung Anteil haben zu lassen, sie zu animieren, um uns später auszutauschen."

Anders scheint es sich mit dem obligatorischen Buch fürs Krankenhaus zu verhalten. Zu derartigen Besuchsanlässen werden andere Lesestoffe, z.B. Zeitschriften, Anekdotensammlungen, leichte oder lustige Texte gewählt. Für diese und andere Gelegenheiten dienen Taschenbücher auch als Ersatz für Blumensträuße. Manchmal kommt es zu gezielten Absprachen, wie im folgenden Fall:

Beleg Frau F.(1957), Krankenschwester: "Ich verschenke Bücher aber auch im Bekanntenkreis. Ich habe da ein paar Mütter, die ich über den Kindergarten kennengelernt habe und wir schenken uns eigentlich im Dreier- oder Vierer- Kreis Bücher zum Geburtstag und haben auch keine Hemmungen, uns die gegenseitig zum Urlaub auszuleihen. Statt Blumen bringen wir uns Bücher mit."

Besonders bei den Müttern unter den Befragten, die - traditionellerweise - die Geschenke für Festtage besorgen, gehören Bücher für ihre Kinder immer selbstverständlicher auf die Gabentische. Ebenso gerne, wie sie selber Bücher verschenken, lassen sie sich auch beschenken. Bevorzugt als Präsent werden ausdrücklich gewünschte Bücher oder solche, die aufgrund eigener Lektüre bekannt sind.

In den Intentionen des Verschenkens von Büchern ließ sich keine Generationsspezifik aufspüren, vielmehr gilt generationsübergreifend, daß jemand, der selbst begeistert liest, Leser im Bekannten- und Freundeskreis gern mit Lesestoff beschenkt. Das Schenken erfolgt nach emotionaler Ausrichtung. Eine grundlgende Geschlechtsspezifik läßt sich beim Verschenken von Büchern allerdings ausmachen: Frauen kaufen häufiger als Männer Bücher zum Verschenken. Die Männer unter den Befragten gaben allerdings öfter als die Frauen an, Bücher für den eigenen Lesebedarf zu kaufen. Niemand nannte eine "missionarische" oder lesefördernde Absicht beim Verschenken von Büchern an andere Erwachsene. Ausschlaggebend war vielmehr die Überzeugung, daß der Beschenkte das Buch zu würdigen weiß. Der Grund für diesen Anspruch gerade an Buchgeschenke ist zum einen in der emotionalen Bindung des Schenkenden an den Text - wenn damit zugleich ein Stück der Persönlichkeit offenbart wird - aber zum anderen sicherlich in der traditionellen Konnotation des Buches als Bildungs- und Kulturgut zu suchen. Dieses Stereotyp kommt offenbar weniger beim Lesen von Büchern zum Tragen, als vielmehr im Umgang mit ihnen, der Aufbewahrung, der Wertschätzung als Geschenk und Kulturgegenstand und dem Kauf.[48] )

Mitgliedschaften im Buchklub

Die Buchgemeinschaften und ihre Vorläufer sind in den von mir befragten Lesergenerationen ein Phänomen der 40er bis 70er Jahre. Für die Befragten der ersten und zweiten Generation stellte eine Mitgliedschaft im Buchclub die Möglichkeit dar, sich relativ bequem und anonym einen Buchgrundstock zu schaffen, ohne selbst besonders aktiv werden zu müssen. Hinzu kam häufig auch eine gewisse Schwellenangst vor dem herkömmlichen Sortimentsbuchhandel, besonders in der Orientierungsphase der Lesevorlieben im Erwachsenenalter.

Beleg Frau P.(1936), Verkäuferin/Erzieherin: "Als junges Mädchen, nachdem ich meine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmanns abgeschlosen hatte, bin ich einem Buchwerber untergekommen. Und ich glaubte damals, es wäre eine gute Kapitalanlage, sich regelmäßig Bücher anzuschaffen, war aber, wie es vielen anderen auch geht, nicht so intensiv mit der Auswahl der Bücher befaßt. Und so bekam ich oft den Auswahlband zugeschickt. Die waren aber auch sehr schön gebunden, und ich habe die Bücher auch alle sehr intensiv gelesen. Das war der "Hamburger Bücherbund". Ich hoffte damals, diese Lektüre auch meinen Kindern zur Verfügung stellen zu können, was aber nicht gelungen ist. Die fingen sehr schnell an, sich ihre Lektüren selbst zu wählen. Und eben viel gezielter und unter ganz anderen Gesichtspunkten". Können Sie sich noch an Titel erinnern? "Steinbeck, Früchte des Zorns; von Jung-Knittel,.. mir fallen die Titel im Moment gar nicht so recht ein. Es waren alles Bestseller jener Zeit, alle sehr schön mit Leineneinband und Goldprägung."

Die neue Kaufkraft der frühen Wirtschaftswunderjahre und das Verlangen nach einem Neuanfang werden von den klassischen Buchklubausgaben dieser Zeit repräsentiert, die häufig noch in Halbleinen gebunden, mit Golddruck auf dem Buchrücken und Lesebändchen rein optisch wie Luxusausgaben wirkten.[49] ) Sie sind leicht zu identifizieren und finden sich bis heute in den Haushalten der älteren Befragten. Einige meiner Informanten hatten sie bereits als "Erbe" übernommen.

Beleg Herr R.(1960), Betriebsprüfer: "Ja, meine Eltern waren auch im Buchklub und auch bei denen stehen noch diese Bücher. Das geht mir als Betriebsprüfer überhaupt so, wenn ich in Wohnungen von Menschen dieses Alters komme, dann fallen mir immer diese klassischen Buchrücken der Buchklub-Bücher in den Regalen auf."

Die Buchgemeinschaften eroberten große Anteile des Marktes für gehobene Unterhaltungsliteratur, und durch die Verbreitung der Buchgemeinschaften und ihre Angebote veränderte sich auch das Verhalten des Publikums "(...) vom statusträchtigen Ausleihen hin zum ambitionierten Bucherwerb, abseits vom kulturell besetzten Sortimentsbuchhan-del".[50] )

Die Eltern meiner Informanten der ersten und zweiten Generation traten, bis auf wenige Ausnahmen, zumindest vorübergehend einem Buchklub bei. Den Befragten war das Aussehen der "Buchklubausgaben" durchaus vertraut, und sie profitierten als Kinder oft von diesen Mitgliedschaften, da sie aus den Angeboten Buchgeschenke erhielten oder sich im Katalog oder sogar im Ladengeschäft selbst etwas aussuchen durften.

Beleg Frau K.(1959), Hausfrau: "Ja, meine Eltern waren im Buchklub. Die Bücher habe ich auch zum Teil gelesen. Da waren manchmal ganz interessante Dinge drin. Ja die waren im Bertelsmann Buchklub. Ab und zu sind wir da auch mal hin zur Filiale und durften uns was aussuchen, oder die haben auch Bücher geschickt. Als Jugendliche habe ich von daher mein Lexikon bekommen."

Beleg Frau M.(1959), ausgeb. Gymnasiallehrerin/Hausfrau: " Ja, meine Mutter war eine Zeitlang Mitglied im Bertelsmann Buchklub. Zuerst haben wir da immer mal über meine Tante was geschenkt bekommen, aber dann war sie ja selber Mitglied, und dann haben wir die Bücher direkt gekauft. Da haben wir Kinder auch welche her bekommen."

Den Buchgemeinschaften kam damals so etwas wie eine Pionieraufgabe zu, da sie über ihr Angebot halfen, den neuen Buchbestand der Haushalte in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten aufzubauen. Ihr Angebot richtete sich an den Massengeschmack, wobei allerdings immer noch "Literatur" angeboten werden sollte. Deshalb waren die Buchgemeinschaften natürlich daran interessiert neue "Bestseller" möglichst rasch in ihr Programm aufnehmen zu können, um sich darüber Marktanteile am Verkauf zu sichern.[51] )

Nicht nur die Eltern der Befragten ließen sich für eine Buchklubmitgliedschaft werben, auch die Informanten selber traten bis in die 70er Jahre hinein fast alle zumindest zeitweise einem Buchklub bei.[52] )

Beleg Herr K.(1955), Polizeibeamter: "Über den Bücherklub, das waren ja auch nur etwa 3 Bücher pro Jahr. Und es hat dann irgendwann auch wieder stagniert. Wir sind dann auch wieder aus dem Bücherklub ausgetreten, sind mittlerweile wieder drin und kaufen aber überwiegend CD's statt Bücher. Ich mache es jetzt eigentlich seit einigen Jahren, daß ich mir die Bücher nach eigenem Gusto kaufe. Auch mal etwas, was auf der Spiegel-Bestseller-Liste steht."

Im letzten Zitat wurde bereits angesprochen, daß sich die Angebotspalette der Buchclubs in den letzten Jahren sehr verändert hat, und Bücher sind nicht mehr der einzige Teil des Sortiments. Es handelt sich dabei um eine Diversifikation, die offensichtlich den Kundenwünschen entgegen kommt:

Beleg Frau Sch.(1958), beurl. Kriminalbeamtin: "Ich bin auch Mitglied im Bertelsmann Buchklub, und da lese ich dann den Katalog und schaue nach den Neuerscheinungen. Die Bücher kaufe ich dort nicht mehr, weil es immer Gebundene sind. Mehr CD's und Musikkassetten. Für mich Romane und Unterhaltungslektüre kaufe ich dort nicht. Ich bin da ja Mitglied seit ich 20 bin, also seit fast 17 Jahren. Und da gibt es Einzelnes dann auch mal günstig, und ich nehme das eben zur Information. Sachbücher und was zum Nachschlagen kaufe ich auch mal dort."

Generell ist die Tendenz zur Mitgliedschaft in einem Buchklub unter meinen Informanten rückläufig. In der dritten Generation fand sich nur ein Mitglied, Herr L.(1965). Auf meine Nachfrage hin wurde mir gesagt, daß man sich über die Mitgliedschaft einfach nicht festlegen wollte, bestimmte Bücher einkaufen zu müssen. Unter dem Einfluß eines ständig expandierenden Buchangebotes und der Konzentration desselben in den großen Buchkaufhäusern der Metropolen, ist das Buch zu einer überall leicht zugänglichen Ware geworden und der Kauf nahezu überall gewährleistet.[53] )

4. Die Aufbewahrung von Büchern

Bücher dienen nicht nur der Lektüre, sie werden auch aufgehoben und verwahrt in einem extra - oftmals abschließbaren - Bücherschrank mit verglasten Türen oder in einem offenen Regal. In den eher als "buchfern" zu bezeichnenden Familien gab es für den ohnehin kleinen Buchbestand nicht unbedingt ein extra Möbelstück und die Bücher kamen in einem auch anderweitig genutzten Schrank hinter geschlossene Türen. In einigen Fällen standen auch die bescheidenen Buchbestände der Kinder mit bei denen der Eltern.

Beleg Frau B.(1958), ausgebildete Lehrerin/Hausfrau: "Die Bücher meiner Eltern standen im geschlossenen Wohnzimmerschrank und waren somit aus meinem Blickfeld völlig verschwunden. Ich wurde auch nicht dazu angeregt, in den Schrank zu schauen oder mir eines der Bücher herauszuholen. Die Bücher wären zwar zu einem ganz kleinen Teil interessant für mich gewesen. So z.B. Wilhelm Busch in zwei Bänden. Die festgebundenen Ausgaben, Lederrücken mit Goldschrift sprachen mich auch nicht an. Das waren "Erwachsenenbücher", bei denen die dummen Seiten auch so leicht einrissen. Das waren wohl Dünndruckbände. Das einzige Buch meiner Mutter, welches mich als Teenager ansprach, war ein Ratgeber in Sachen Gesundheit und 'Schönheit von Lilo Arden': "Schön sein, schön bleiben", aus den 50er Jahren."

In Frau L.'s Schilderung klingt an, was mehrere Informanten ebenfalls zur Sprache brachten: In eher buchfernen Familien wurde dem existenten Buchbestand keine besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht und wurde damit auch den Kindern weitgehend vorenthalten. Die Anschaffung eines Extra-Möbelstückes für Bücher war aber auch in buchfreundlichen Familien keine Selbstverständlichkeit und in vielen kleinen Wohnungen in den 50er und 60er Jahren schlichtweg eine Platzfrage.

Beleg Frau P.(1944), Pfarramtssekretärin: " Ich weiß noch, Ende '58 oder '59 da kriegten wir eine größere Wohnung und meine Mutter hatte auch etwas Geld zurückgelegt. Da war sie dann unheimlich froh, daß sie sich eine Anrichte mit Buchfach kaufen konnten."

Die Erwähnung von Bücherschränken mit abschließbaren Glastüren ist ein Phänomen der ersten und frühen zweiten Generation. Die später Geborenen erinnerten sich nur noch an Regale oder Borde, die meist in einer sogenannten "Schrankwand" integriert waren.[54] ) Zumindest in den Familien der von mir Befragten gab es nach 1945 kaum mehr nennenswerte alte Buchbestände, die einen besonderen Aufbewahrungsort brauchten.[55] ) Nur eine einzige Aussage ließ darauf schließen, daß sich eventuell kostbare Bände im Besitz der Familie befanden:

Beleg Frau F.(1933), Lehrerin: "Bücher wurden als sehr wertvoll dargestellt, und auch Zeitungen - Zeitschriften gab es im Hause meiner Eltern nicht - durften nicht zerrissen oder durcheinander gebracht werden. (...) Es gab in unserem Haus überall Bücher, die frei zugänglich waren, zum Teil hinter Glas. Allerdings durften wir die Wertvollsten nur unter Aufsicht meines Vaters nur mit sauberen Händen anfassen."

Der obige Beleg dokumentiert nocheinmal anschaulich, daß den Kindern in buchnahen Familien bereits früh eine ideelle Wertschätzung gegenüber gedruckten Medien vermittelt wurde, die beinhaltete, daß man Bücher nicht zerreißt oder beschmiert, nicht in sie hineinschreibt oder sie mit schmutzigen Händen anfaßt. Alte Ausgaben oder Bildbände durften von Kindern häufig nur unter der Aufsicht eines Erwachsenen betrachtet werden. Die Anleitung zu einer entsprechenden Behandlung von Büchern findet sich nicht nur in den Aussagen der älteren Informanten, sondern wurde mir auch von den jüngeren berichtet. Die Vermittlung der Regeln zum sachgerechten, werterhaltenden Umgang mit Büchern korreliert offensichtlich mit einer buchfreundlichen Atmosphäre im elterlichen Haushalt.

Beleg Herr B.(1970), Redakteur, kauf. Angestellter : "Meine Mutter hielt uns dazu an, die Bücher gut zu behandeln und keine Fettflecken dran kommen zu lassen. Sie hatte ihre Bücher von unseren klar getrennt, aber wir sollten auch schon die Kinderbücher ordentlich behandeln."

Der geforderte "ordentliche" Umgang mit Büchern manifestierte sich für Kinder somit bereits in der Art und Weise, wie Bücher behandelt wurden. Die Notwendigkeit zur Werterhaltung der Bestände wurde über die Verwahrung in extra für diesen Zweck angeschafften Möbelstücken eher vermittelt, als wenn diese unsichtbar und damit nahezu nicht nutzbar, weggeschlossen wurden. Die Präsentation von eigenen Büchern impliziert weiterhin eine Selbstdarstellung des Besitzers über die "ausgestellten" Buchbestände. Dieses scheint zusätzlich mit der Konnotation verbunden zu sein, daß der Eigentümer - zu recht oder auch nicht - als belesen angesehen wird.

Ein Bedürfnis nach dieser Art der "Selbstdarstellung" über die Präsentation ihres Buchbestandes hatte Frau R. senior, die mit neuen Bücherregalen und neuen Büchern zweierlei dokumentierte: einerseits den Wohlstand sich etwas Neues leisten zu können, und andererseits ein literarisches Interesse an guten Büchern. Sie, die sich jahrelang gemeinsam mit ihrer Schwester Bücher im Buchklub gekauft hatte, war so bemüht, anläßlich einer Neueinrichtung des Wohnzimmers alle Altbestände zu entfernen. Nicht nur bei Frau R., auch in anderen Familien wurden solcherart augesonderte Bücher nicht einfach weggeworfen, sondern in Kisten oder Kartons verpackt auf den Dachboden gebracht, wo sie meist nicht wieder hervorgeholt wurden. Von ihrer Tochter ließ sie sich Bücher auswählen und mitbringen, die in die neuen Regale und zu ihrem Lesegeschmack passen sollten. Da ihr Mann sich erst später im Rentenalter die Zeit für das Lesen nahm, hatte sie bei der Buchauswahl freie Hand. Frau R. junior, ihre Tochter, erinnert sich:

Beleg Frau R.(1953), Grundschullehrerin: "Mein Vater hat erst später gelesen. An Früher kann ich mich nicht daran erinnern. Erst als ich auch schon älter war, da kann ich mich daran erinnern, daß er Bücher zu Sachthemen gelesen hat, zu Ausgrabungen, Geschichte und so etwas. Vorher kann ich mich nur erinnern, daß meine Mutter gelesen hat. Sie hat dann irgendwann mal ihr Wohnzimmer neugestaltet und da flog auch der alte Wohnzimmerschrank raus, und da holte sie auch die ganzen alten Bücher raus. Auch diese Buchklubausgaben, die nach nichts aussahen. Und zu der Zeit war ich 15 und arbeitete während der Sommerferien in einem Buchladen. Und da hat meine Mutter mich angesprochen, sie wollte jetzt in eine Ecke ein neues Bücherregal stellen und sie bräuchte Bücher dafür, um sie da rein zu stellen. Und ich sollte da mal was mitbringen, es sollte aber auch was sein, was sie auch gerne lesen würde. Und ich hatte ja wahnsinnig viel gelesen und da habe ich ihr dann welche zusammengestellt. Und sie hatte dann die ersten für das Bücherregal und hat sich dann später selber welche noch dazu gekauft."

Dieses Zitat und auch meine Beobachtungen und Notizen während der Interviews lassen den Schluß zu, daß nicht selten Bücherbestände als Repräsentanten des eigenen Lebensgefühls und als Abbild der persönlichen Bildung dienen sollen und dementsprechend "ausgemustert" werden, wenn Selbstbild und Buchbestand anscheinend nicht mehr zusammen zu passen scheinen.[56] ) Mehrere Informanten berichteten mir auch davon, daß sie anläßlich alljährlicher Sammelaktionen für Basare in Kirchen und Schulen immer wieder ihre Buchbestände durchforsten und einzelne Titel aussortieren.

Zugleich offenbarten sich anhand des Buchbesitzes auch bestimmte Lebensphasen, in denen die Neuanschaffung von Büchern und das Lesen eine wichtige Rolle spielen.[57] ) Die zahlreich erwähnten Buchklubausgaben aus den 50er bis frühen 70er Jahren sind z.B. Zeugen dieser Zeit, in der "man sich wieder eine kleine Bibliothek aufbauen wollte".[58] ) Daß viele Bände heute weitgehend als überholt gelten, belegt ihr zahlreiches Vorhandensein in den Regalen der Trödelläden und auf Flohmärkten.

Im Verlauf meiner ersten Überlegungen zur vorliegenden Arbeit hatte ich erwartet, daß die Aufbewahrung von Büchern als gleichzeitige Präsentation des Besitzes den befragten Lesern ein wichtiges Anliegen wäre. Überhaupt war ich davon ausgegangen, daß die Leseerinnerung sich häufiger an einer Leitlinie des Buchbesitzes entlang entwickeln würde, was aber nicht oder nur selten der Fall war. Für die Informanten waren diese Dinge eher nebensächlich. Dies werte ich als Beleg dafür, daß Lesen im Lebenslauf zahlreiche Lebenspunkte berührt, die weit über den bloßen Besitz von Büchern hinausgehen. Nach wie vor ist es nicht wissenschaftlich gesichert, ob sich z.B., aus dem Buchbesitz zugleich Anregungen und Impulse für die Lesemotivationen ableiten lassen. Für die Jugend und Kindheit der Befragten sind hierzu eher Anhaltspunkte finden, weil Buchgeschenke von Verwandten und Freunden durchaus positiv erwähnt wurden. Für die erwachsene Leser dagegen scheint dies weniger Gültigkeit zu haben. Ein Grund dafür mag sein, daß auch "von einer beträchtlichen Rate gekaufter, aber nie zu lesender Bücher" auszugehen ist.[59] )

Mehr denn je gibt es Bücher - häufig die sogenannten Bestseller - die in hohen Auflagenzahlen als Geschenke oder zum Eigenbedarf gekauft werden, um dann anschließend im Regal zu stehen. Bücher wie Umbertos Ecco's "Name der Rose" und Jostein Gaarder's "Sophies Welt" gehören heute dazu. Fällt der Blick des Betrachters auf eben diese Bände, dann heißt es zumeist: "Ach ja, das wollte ich jetzt auch endlich lesen" oder "Ic

h bin ewig nicht zum Lesen gekommen". Diese Bücher haben in der Regel gute Chancen noch weiterhin ungelesen zu bleiben, nicht aus Desinteresse der Leser, sondern aus einem vermeintlichen Zeitmangel heraus, der das Lesen - gerade von längeren Texten - eindeutig behindert.

 

Fußnoten:

[1])Auf einen Exkurs zur Vielfalt und Entwicklung des Buchangebotes für erwachsene Leser muß im Rahmen dieser Untersuchung verzichtet werden, nicht zuletzt auch um Paraphrasierungen zu vermeiden. Dort, wo es der Erläuterung zeitkontextbezogener Zusammenhänge und Sachverhalte bzw. der Analyse der Interviews dienlich scheint, gehe ich entsprechend darauf ein.

[2])Haas, Gerhard (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Handbuch. Stuttgart 1984. Hier S.8.

[3])Das Angebot der Kinder- und Jugendbuchproduktion umfaßt derzeit unter anderem: realistische Bücher, Sachbücher zu zeitgeschichtlichen, politischen oder historischen Themen, spezielle Mädchenliteratur, Detektiv- und Kriminalgeschichten, Tiererzählungen, Märchen, kindgerecht aufbereitet Sagenstoffe, Phantastische Literatur, Bilderbücher für alle Altersgruppen, Lyrik, Theaterstücke ebenso wie spezielle Lexika und Nachschlagewerke.

[4])Ausführliche Untersuchungen zu den Genres der Juvenil-Literatur finden sich bei Haas, wie Anm. 2, vgl. S.8ff. Sehr umfangreiche Darstellungen sind in Wild, Reiner (Hrsg.): Geschichte der Deutschen Kinder- und Jugendlitertatur. Stuttgart 1990, zu finden.

[5])Die folgenden Zahlen sollen in etwa den Umfang der Kinderbuchproduktion veranschaulichen. Von 1951 bis 1988 wurden ca. 75.000 Kinder- und Jugendbücher publiziert. Allein 1988 erschienen 4.859 Titel, was einem Anteil an der Gesamtproduktion von 7% entspricht. Vgl. BBL 26, 30.3.1990. Die Öffnung der Grenzen zu den östlichen Nachbarländern und die Wiedervereinigung Deutschlands schufen neue Perspektiven. Heute teilen sich etwa 80 Verlage die Kinderliteratur-Produktion, 60 von ihnen sind in der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlegern" (AvJ) zusammengeschlossen.

[6])Vgl. auch BBL 41, 24.5.1991, S.1820/21. Einige Produktionsbereiche werden fast ausschließlich über die Kaufhäuser und den Spielwarenhandel vertrieben, wie Pappbilderbücher von Pestalozzi und die berühmten "Pixi"-Bücher aus dem Carlsen Verlag. Als Verkaufsstätte für Kinder- und Jugendbücher liegt der Buchhandel mit 55% am Umsatz an der Spitze, gefolgt vom Kaufhaus mit 10% und dem Spielwarenhandel mit 6%.

[7])Die in kleineren Auflagen meistens über den Buchhandel vertriebenen Kinder- und Bilderbücher spiegeln das Schaffen international bekannter zeitgenössischer Künstler wider.

[8])Mattenklott, Gundel: Zauberkreide. Kinderliteratur seit 1945. Stuttgart 1989. Hier S.11.

[9])Der Markt, der sich jetzt fast völlig auf Tonkassetten für Kinder konzentrierte, stellt inzwischen ein umfangreiches Spektrum an CD's, Videos und interaktiven CD-ROM-Angeboten für Kinder her. Tonträger für Kinder haben Tradition, aber ihre Vorläufer, die seit 1929/39 produzierten Schallplatten, sind mittlerweile museumsreif. Germann, Heide: Wenn Hören "in" ist, muß Lesen nicht "out" sein. In: BBL 44/1997. S.16-20: Die Produzenten für diesen Bereich versuchen Mediensparten zu verknüpfen. So erscheinen inzwischen viele Bücher auch als CD-ROM, fließen Buchstoffe in Spiele und Filme ein, werden als Lesungen oder Hörspiel auf Kassetten oder CD's angeboten. Tonträger und Bücher werden, einander ergänzend, als Medienpaket angeboten.

[10])Vgl. hierzu auch Vogel, Andreas: Die Leserschaft der populären Jugendpresse. Markt- und Leseranalyse. In: Media Perspektiven 1/1996. S. 18-21.

[11])Die einzige auf dem Markt befindliche literarisch ausgerichtete Zeitschrift für Kinder ab ca. 8 Jahre, ist der "Bunte Hund". Dieser erscheint quartalsweise und richtet sich an bereits geübte und mit der Kinderliteratur vertraute junge Leser.

[12])Eine Ausnahme stellt hier die Kinder-Zeitschrift der Firma "Salamander" dar. Seit mehr als 50 Jahren erscheinen die Abenteuer des Salamanders "Lurchi" als Heftchen im Comic-Stil, ohne weitere redaktionelle Teile oder Werbung von Fremdfirmen.

[13]) Vgl. auch Jensen, Klaus; Rogge, Jan-Uwe: Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik. Tübingen 1980. Über das Ausmaß der Rezeption dieser Texte liegen keine systematischen Auswertungen vor. Es ist allerdings anzunehmen, daß jedes Heft von mehreren Kindern angesehen wird, und der Verbreitungsgrad so sehr hoch ist.

[14])Dazu zählen Zeitschriften wie "Jenny", "Wendy", "Mädchen", "Bravo-Girl", Popcorn usw.

[15])Einige, wie die Abenteuer der Gallier Asterix und Obelix, wurden in zahlreichen Übersetzungen veröffentlicht und auch im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts eingesetzt. Die ersten US-amerikanischen Comics, wie "Little Nemo" oder die "Katzenjammer-Kids" gelten heute als Kunstwerke. Auch öffentlichen Büchereien führen inzwischen ein großes Sortiment der broschiert veröffentlichten Serien, und es gibt immer seltener Eltern, die das Lesen von Comics als gefährdend für ihre Kinder ansehen. Allerdings wird die Lektüre von Comics immer wieder dann problematisiert, wenn die Kinder ausschließlich diese lesen.

[16])Ulrike Winter hat in ihrer Untersuchung "Comics" festgestellt, daß erwachsenen Leser von Comics sich durch diese Lektüre von der Durchschnittlichkeit ("Spießigkeit") der Gesellschaft abgrenzen möchten. Dies.: Man erhält sich so eine gewisse Subjektivität...!". Volkskundliche Aspekte der Comic Rezeption. Hamburg 1995. Unveröff. Magisterarbeit. Für eine derart interessierte Klientel gibt es inzwischen auf Comics, ihre Protagonisten und Leser spezialisierte Geschäfte und Messen, z.B. den regelmäßig abgehaltenen "Comic-Salon". Das Angebot an Comics ist für Laien mittlerweile unüberschaubar. Ein wesentliches Merkmal der Comics ist die Tatsache, daß eine Folge von Bildern eine Aussageeinheit darstellt. Wie im Film lösen Comics eine Handlung in eine Folge von Einzelbildern auf. Seelische Vorgänge und Zustände werden durch immer gleichbleibende Zeichen ausgedrückt, die zu allgemeinverständlichen Symbolen geworden sind. Vgl. zum Phänomen der Comics auch Fuchs, Wolfgang J.; Reitberger, Reinhold C.: Comics. Anatomie eines Massenmediums. Reinbek 1973.

[17])Eine Art "Verkaufsgarantie" ist die Sogwirkung von Serien, auf die sich die Hersteller gerne verlassen. So gibt es von den Abenteuern des sprechenden Elefanten "Benjamin Blümchen" mehr als 50 verschiedene Kassetten. Die Produzenten kalkulieren mit einem Erstverkauf von 40.000 Exemplaren pro Kassettentitel und nehmen aus dem Programm, was jährlich weniger als 5.000 mal verkauft wird. Vgl. hierzu Heidtmann, Horst: Von den "Bremer Stadtmusikanten" zu "Benjamin Blümchen". Der Tonträgermarkt für Kinder. In: JuLit 1/1989. S. 4-15. Ders: Kindermedien. Stuttgart 1992.

[18])In der Wochenendausgabe vom 22./23.4. 1989 notierte man im "Hamburger Abendblatt", daß die Kassette zur "Unendlichen Geschichte" von Michael Ende, mehr als 750.000 fach verkauft wurde. Da Kinder eine Kassette bis zu 100 mal hören und auch untereinander austauschen, ist der Multiplikationsfaktor einer gekauften Kassette entsprechend hoch.

[19])Kinderkassetten werden wenig über den Buchhandel vertrieben, 60 Prozent der Kassetten im Niedrigpreisbereich werden über Verbraucher- und Selbstbedienungsläden verkauft, 20 Prozent über Warenhäuser, 15 Prozent über den Spiel- und Schreibwarenhandel und die restlichen fünf Prozent teilen sich Marktstände, Tonträgerfach- und Buchhandel. Heidtmann, wie Anm. 17.

[20])Die Satellitensender zeigen bereits ab sechs Uhr morgens Comicserien und andere Unterhaltungssendungen. Die beiden öffentlich-rechtlichen Sender sind mit dem Programmangebot etwas zurückhaltender. Am Wochenende aber bieten auch sie ab sieben Uhr Kinderunterhaltung und in der Woche ein regelmäßiges Programm von Serien, Quiz- und Sachsendungen. Zur Geschichte des Kinderfernsehens vgl. Erlinger, Hans-Dieter; Stötzel, Dirk Ulf (Hrsg.): Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungsprozesse und Trends. Berlin 1991.

[21])Über die Verfilmungen von Märchen im Fernsehen hat sehr ausführlich gearbeitet: Schmitt, Christoph: Adaptionen klassischer Märchen im Kinder- und Familienfernsehen. Eine volkskundlich-filmwissenschaftliche Dokumentation und genrespe-zifische Analyse der in den achtziger Jahren von den westdeutschen Fernsehanstalten gesendeten Märchenadaptionen. Frankfurt/M. 1993.

[22])Vgl. Dahrendorf, Malte: Das Mädchenbuch und seine Leserin. Weinheim und Basel 1978; und verschiedene Aufsätze, auf die noch eingangen wird, in: Hurrelmann, Bettina(Hrsg): Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Frankfurt/M. 1995.

[23])Näheres zu diesen Serien vgl. den nächsten Abschnitt "Lesestoff Reihen". Trotz vielfacher Konkurrenz erfreuen sich die Bücher der Engländerin Enid Blyton nach wie vor großer Beliebtheit bei den jugendlichen Lesern und erreichen hohe Verkaufszahlen. BBL 5/1997. S.9: "Von ihren 700 Büchern sind weltweit über eine halbe Milliarde Exemplare verkauft worden, und ihre Bücher sind in mehr als 30 Sprachen erhältlich". Die Geschichten der Zwillinge 'Hanni und Nanni' und anderer Serien sind längst auch auf Tonkassetten vermarktet.

[24])Pixi-Bücher sind kleine broschierte Bücher im Format 10x10cm. Sie werden als amerikanische Lizenz seit 1953 in Deutschland vertrieben und erreichten gleich im ersten Erscheinungsjahr eine Auflage von 100.000 Stück. Seitdem verkauft der Verlag sie in millionenfachen Auflagen in vielen Sprachen. Nach wie vor erfreuen sich die kleinen Bände großer Beliebtheit. Das Inhaltsspektrum umfaßt Märchen, Reime, kurze Geschichten und Sachthemen.

[25])Die Publizität zahlreicher Kinderbücher der 60er Jahre steigerte sich enorm infolge der Adaptionen als Marionettenspiel-Produktionen (Augsburger Puppenkiste) für das Fernsehen. Auch die Bücher Astrid Lindgrens wurden in den 60er und 70er Jahren als Kinofilme, die dann später als Teilfolgen im Fernsehen gesendet wurden, produziert.

[26])Titel, wie der von Anna-Cathrin Vestly: Aurora aus dem Hochhaus. Hamburg 1972, spiegeln das Bemühen wider, die Ansätze neuer Rollenbilder und soziale Differenzierungen in die Kinderliteratur aufzunehmen. Die Handlung des erwähnten Buches ist Anfang der 70er Jahre in einer Familie, die in einem Hochhaus lebt, angelegt. Der Familienvater schreibt an seiner Dissertation und versorgt außerdem die Kinder und den Haushalt, seine Frau ernährt über ihre Berufstätigkeit die Familie. Thematisiert wurden in den neuen Büchern außerdem die Themen Trauer, Tod, Scheidung der Eltern und auch die Integration ausländischer und behinderter Kinder.

[27])Marktführer in der Publikation dieser Bände, der Pferdebücher ebenso wie der Serien Enid Blytons, ist der Franz Schneider Verlag, der auch die Gisel und Ursel- Reihe veröffentlichte. Die Bücher waren von Anfang an recht günstig, und einzelne Titel wurden von meinen Informantinnen der dritten Generation durchaus auch einmal vom Taschengeld gekauft und waren beliebt als Geburtstagsgeschenke unter Freundinnen.

[28])Unter dem Begriff "Tierbuch" subsumierten die Befragten ein recht diffuses Angebot an Büchern. Inhaltlich gesehen handelt es sich dabei sowohl um Sachbücher über Tiere, als auch um Erzählungen, in denen Tiere die Protagonisten der Handlung sind, um Tiermärchen und die ersten Fotobände über Natur und Tiere.

[29])Die von Emmy von Rhoden geschriebenen Bücher waren sehr erfolgreich und entwickelten sich innerhalb kurzer Zeit als Verkaufsschlager: Im Jahre 1900 erschien die 25. Auflage, im Jahr 1907 die 50. und im Jahr 1928 die 90. Auflage. Sie gelten als Vorläufer für die später publizierten Serien "Nesthäkchen" von Else Ury und Magda Trotts "Pucki". Vgl. Barth, Susanne: Töchterleben seit über 100 Jahren. Emmy von Rhodens "Trotzkopf". in: Hurrelmann, wie Anm. 22, S. 270-292, hier S.271.

[30])Das Jahr der Erstveröffentlichung des ersten Nesthäkchenbandes ist nicht genau zu bestimmen. Während man bislang annahm, daß die Reihe erstmalig in den 20er Jahren publiziert wurde, hat Pech ermittelt, daß sie entweder gleich nach Entstehen, also in den Jahren 1913 bis 1916, oder infolge Papierknappheit oder anderer Schwierigkeiten erst nach Kriegsende, also 1918 und 1919 publiziert wurden. Diese Reihe war in Deutschland sehr erfolgreich. Von jedem Band wurden bis 1933 mehrere hunderttausend Exemplare verkauft; bis heute beträgt die Gesamtauflage, inklusive Originalausgaben und Bearbeitungen über 7 Millionen Exemplare. Vgl. Pech, Klaus-Ulrich: Ein Nesthäkchen als Klassiker. In: Hurrelmann, wie Anm. 22, S.339-357, hier S.341. Vgl. zu diesem Genre der frühen Mädchenliteratur auch Wilkending, Gisela: Mädchenliteratur von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg. In: Wild, wie Anm. 4, S.220-250.

[31])Ebda., S.270.

[32])Der erste Band "Gisel und Ursel" von Margarete Haller erschien 1932.

[33])Vgl. zu der Konstruktion und den Inhalten der Serien von Blyton: Brunken, Otto: Das Rätsel Blyton und die Lust an der Trivialität. In: Hurrelmann, wie Anm. 22, S.401-418.

[34])In der Serie "Dolly" geht der affirmative Charakter dieser Texte soweit, daß die Hauptfigur ihre eigene Hochzeit auf dem einst von ihr geliebten Internat feiert. Im Gegensatz zu den Müttern, die stets als Hausfrauen präsentiert werden, emanzipiert Doly sich und kehrt nach ihrer Ausbildung als Lehrerin zur "Burg Felsenstein" zurück. Zur Unterstüzung geschlechtsspezifischer Sozialisation durch Kinderliteratur vgl. auch Dahrendorf, wie Anm. 22.

[35])Hilde E. Menzel verweist auf zahlreiche Ungereimtheiten die sich in den Blyton Büchern nachweisen lassen. "Einerseits erfreuen sich die Kinder erstaunlicher Freiheiten und dürfen wunderbare Abenteuer erleben, andererseits haben die Erfahrungen der Kinder offenbar keinerlei Konsequenzen für die Zukunft, denn die geschilderten Erwachsenen sind bei Blyton ebenso wie ihre deutschen Kolleginnen weiterhin dem traditionellen Rollenklischee verhaftet." Dies.: Kein Kuß (mehr) für Mutter? Vom Wandel eines Rollenbildes im Kinderbuch In: Raecke, Renate; Baumann, Ute D. (Hrsg.): Zwischen Büllerbü und Schewenborn. München 1995. S.127-133, hier S.128.

[36])Dieses Lesen um mit den Bekannten, Freundinnen und Freunden mithalten zu können, um informiert zu sein, fand sich auch im Leseverhalten der Erwachsenen wieder. Ich gehe an gegebener Stelle noch einmal darauf ein. Der Anttrieb, zu lesen um den Anschluß an Gespräche innerhalb des eigenen Aktionsfeldes nicht zu verlieren ist sehr stark. Einige Jugendliche lasen deshalb um sich nicht auszugrenzen auch die Zeitschrift "Bravo".

[37])Vgl. hierzu auch die Inhaltsanalyse von Klaus F. Geiger: "Kriegsromanhefte in der BRD". Tübingen 1974; Nutz, Walter: Thema Heftromane. In: Faulstich, Werner (Hrsg.): Medien und Kultur. Göttingen 1991. S.109-115.

[38])Zu nennen wäre z.B. die Serie von Rolf Ulrici um "Tom", einen Jungen, der mit seinem indianischen Freund zahlreiche Abenteuer erlebt.

[39])Cornelia Rosebrock verweist auf die Problematik für Kinder sich in die Rolle des anderen Geschlechts hineinzufinden. Gerade in der Kinderliteratur, liegen Chancen der Vermittlung des jeweils anderen Rollenbildes. Allerdings ist Lesesozialisation auch heute immer noch geschlechtsspezifisch ausgerichtet. Vgl. dies.: Literarische Sozialisation im Medienzeitalter; dies.: Phantasie und Schullektüre. Beides in: Dies.: Lesen im Medienzeitalter. Weinheim und München 1995. S.9-30 und S. 195-210.

[40])Die Inhalte seiner Bücher stehen bis heute im Mittelpunkt verschiedener Festspielbühnen, die sich speziell der Aufführung der Texte Karl Mays verschrieben haben, wie die Freilichtbühne in Bad Segeberg in der Nähe Hamburgs. Vgl. auch Brunken, Otto: Der rote Edelmensch. Karl Mays "Winnetou". In: Hurrelmann, wie Anm. 22, S.293-318.

[41])In der Literatur zur Kinder- und Jungleserforschung wird immer wieder auf den affirmativen Charakter der Geschlechtsspezifik einzelner Jugendliteraturgenres hingewiesen, die augenfällig in den Aussagen und Inhaltskonstruktionen der erwähnten Buchreihen zum Ausdruck kommt. So heiratet beispielsweise Trotzköpfchen in einem der Bände und dokumentiert damit die erfolgreich abgeschlossene Sozialisation vom kleinen Mädchen, das über Umwegen zur vernünftigen (fügsamen) Frau wird. Mädchenfiguren, die durch die skandinavische Literatur (Lindgren) unter den deutschen Kindern Verbreitung fanden, entsprachen zwar auch oft den klassischen Rollenbildern, waren aber nie brav bis zur Langeweile. Herausragend ist natürlich die Figur "Pipi Langstrumpf", die völlig entgegengesetzt zu den herkömmlichen Auffassungen über die Sozialisation von Mädchen lebt.

[42])Erich Kästner greift dies in seinen Büchern auf. In "Pünktchen und Anton" sowie in "Emil und die Detektive". Stark autobiographisch thematisiert er eben solche guten hilfsbereiten Jungen, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter in ärmlichen Verhältnissen leben.

[43])In Kapitel VI.3 gehe ich auf diese Funktionen und Motive noch näher ein, und möchte mich deshalb zunächst auf die Skizzierung der sich während der Interviews herauskristallisierten geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Wahl der Lesestoffe beschränken.

[44])Vgl. auch Nutz, wie Anm. 37. Er hat sieben Lesertypen von Heftromanen herausgearbeitet: S.109: "Immerhin sind auch Heftroman-Konsumenten Leser und damit keine Analphabeten. Angesichts eines befürchteten und als Menetekel an den Kulturhorizont gezeichneten Neo-Analphabetismus, ausgedrückt durch eine totale "Videotisierung" aller medialen Angebote, werden Heftromane plötzlich verstärkt der Lesekultur zugeschlagen - Lesen schon als solches erscheint von Wert. Man muß sich dabei vor Augen halten, daß das Lesebedürfnis einer weitgefaßten Subkultur, die wir mit Popularkultur umschreiben, durch 100 Millionen jährlich erscheinender unterhaltender Zeitschriften (...) sowie 300 Millionen Hefte befriedigt wird: Jeder bundesdeutsche Heftleser liest demnach pro Tag ein Heft." Die sieben Typen (Leserprofile) der Heftromanleser verweisen ebenfalls auf die geschlechtspezifische Auswahl von Lesestoffen. Gerade die Heftromane werden in augenfälliger Weise allein von Grafik und optischer Aufmachung her so präsentiert, daß eindeutig ist, an welches Geschlecht sie sich wenden.

[45])Bei den mir mehrfach genannten "Readers-Digest-Ausgaben" handelt es sich um monatlich erscheinende, broschierte Bände. Sie enthalten jeweils in der Art einer Anthologie Auszüge aus Büchern, Artikel, Berichte, Humorseiten und auch Leserbriefe. Zahlreiche Beiträge ranken sich um "Schicksale" im weitesten Sinne. Sie erscheinen im Taschenbuchformat und das Inhaltsverzeichnis befindet sich seit Jahrzehnten bereits auf der Titelseite, was einen raschen Überblick gewährt. Der Bezug dieser Ausgaben erfolgt über Abonnements, für die in den Anfängen sehr aggressiv, in ähnlicher Weise wie für die Buchklubs, auf der Straße und an den Wohnungstüren geworben wurde. Zusätzlich bietet der Verlag den Lesern den Bezug sogenannter Sammelbände an, in denen mehrere Romane in Auszügen zusammengefaßt sind.

[46])Wie bereits erwähnt, handelt es sich dabei mehrheitlich um die "Hör Zu!", einem Blatt, das zunächst als Radioprogrammzeitschrift erschien und erst allmählich zur auflagenstärksten Fernsehzeitschrift avancierte. Mittlerweile ist der Markt mit mehreren Fernseh-Zeitschriften nahezu übersättigt und die "Hör Zu!" mußte ihren ersten Rangplatz abgeben.

[47])Feste Kaufgewohnheiten scheint es nach wie vor für Fernsehzeitungen, Wohn- und Frauenzeitschriften zu geben. Die regelmäßigen Leser dieser "Blätter" besorgen sich die gewünschten Exemplare auch ohne Bindung an ein Abonnemenmt; im freien Handel. Relevanz besitzt dieses sich wiederholende Kaufverhalten besonders für die Fernsehzeitschrift, weil sie dazu dient, "sich möglichst schnell einen Überblick zu verschaffen, was an dem Tag läuft" (Frau K., 1958). Eine oft erwähnte Zeitschrift in den Haushalten ist außerdem die ADAC-Mitgliedszeitung, deren Bezug mit dem Jahresbeitrag bezahlt wird.

[48])Auf weitere stereotype Vorstellungen im Hinblick auf den Umgang mit, und den Einsatz von Büchern wurde bereits im Abschnitt über das Vorlesen in Kapitel IV und in Kapitel II hingewiesen.

[49])Luger, Kurt: Jugendkultur und Kulturindustrien in Österreich der 50er Jahre. In: Schildt, Axel; Sywottek, Arnold (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1993. S.493-512, hier S. 501: Die Buchklubs hatten mit ihren Konzepten Erfolg, denn "das gute Buch galt in jenen Tagen als Schlüssel zur geistigen Erneuerung, und vor allem dem Jugendbuch wurde eine Sonderstellung als dritte Großmacht der Erziehung eingeräumt. Ohne das Feindbild 'Schmutz und Schund' vor Augen hätte es die Buchgemeinschaft allerdings viel schwerer gehabt, Fuß zu fassen".

[50])Fischer, Ludwig: Zur Sozialgeschichte der westdeutschen Literatur. In: Sywottek/Schildt (Hrsg.), wie Anm. 49, S.554.

[51])Ebda., S.554/555.

[52])Bis auf Frau J. waren alle Befragten der ersten Generation zeitweise Mitglied in einer Buchgemeinschaft. Zum Zeitpunkt der Interviews waren nur noch fünf Befragte Mitglieder: Herr G.(1946); Frau P.(1954); Herr K.(1956); Frau Sch.(1958) und Frau G.(1959).

[53])Intern erhobene Statistiken des Hauses Bertelsmann ergaben 1992, daß die Buchklub-Kataloge nahezu 80% der Kunden als Informationsquelle auch für Buchneuerscheinungen dienen. Dies auch dann, wenn nicht alle Bücher im Buchklub gekauft werden.

[54])Die mir genannten Erinnerungen an die Büchermöbel entsprechen auch der Entwicklung der Wohnzimmermöbel in dieser Zeitspanne. Nach der "Nierentischphase" der 50er und frühen 60er Jahre setzte ein Trend zum kompletten Einbauschrank im Wohnzimmer ein: der sogenannten "Schrankwand". Zu dieser gehörten häufig ein aufklappbares "Barfach" sowie ein zu beleuchtender Vitrinenteil, der dann nicht mehr Bücher, sondern vielmehr Kristall und Gläser beherbergte. Der alte Bücherschrank wurde bei der "Modernisierung" oft weggegeben oder fand im Keller ein neus Dasein als Vorratsschrank.

[55])Die Familien einiger Informanten, wie von Herrn K., Frau K., Frau Z. und Herrn Z. mußten im Krieg fliehen bzw. wurden evakuiert, die von Frau L., Frau P., Herrn M., Frau und Herr N. wurden ausgebombt und dadurch in allen Fällen die persönlichen Besitztümer stark reduziert.

[56])Zur Darstellung der individuellen Bildung und Hervorhebung des eigenen Wissens über Buchbestände schreibt Rudolf Schenda in: Ders.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1710-1910. Frankfurt/M.1970. Hier S. 443: "Das Buch gehört zu den Prestige Requisiten des Bildungsbürgertums. Kein Autobiograph vom Minister bis zum Handwerker läßt die Episode seines jugendlichen Leseeifers aus, und immer wieder genießt das Buch eine Verehrung, als sei es ein Paradiesvogel oder der Heilige Gral selbst."

[57])Läßt man z.B. den Blick über die Regale der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen Akademiker schweifen, dann fallen in der Regel zumindest einige Bände der berühmten Suhrkamp "Regenbogenreihe" auf, ebenso wie die feministischen Texte aus den 70er Jahren, neben politischen und anderen Schriften, die damals in "intellektuellen" Kreisen nahezu ein "muß" darstellten. In Mittelschichtsfamilien dagegen stehen oft die 25 Bände des Brockhaus und eine Reihe klassischer Buchklubausgaben, wie Margret Mitchel, Pearl S. Buck, Anne Golon und Jung-Knittel.

[58])Frau K., (1935).

[59])Vgl. Schön, Erich: In: Rosebrock: Lesen im Medienzeitalter. Weinheim und München 1995. S. 137-167 . Hier S. 160/161.