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VI. Zeiten, Motivationen und Funktionen des Lesens

1. Lesezeiten

Nachdem in den vorigen Kapiteln die familiäre und schulische Lesesozialisation anhand lebensgeschichtlicher Aussagen unter dem Blickwinkel ihrer Beeinflussung des Lesens im Lebenslauf betrachtet wurde sowie das Buch als Medium Berücksichtigung fand, soll im folgenden auf die Entwicklung des Lesens in den einzelnen Lebensphasen und den damit einhergehenden modifizierten persönlichen Zeitstrukturen eingegangen werden. Im Zusammenhang damit sind unter anderem die folgenden Fragen von Bedeutung: Welches sind die am häufigsten genutzten Lesezeiten und welche Erwartungen und Ansprüche stellt der Leser an diese? Verändert sich das Leseverhalten, wenn es nicht mehr von lesesozialisierenden Instanzen unterstützt bzw. gelenkt wird? Wenn ja, wie geschieht es und wann? Während der Ausbildungszeiten bzw. später im Berufsleben oder nach der Familiengründung mit Kindern? Welche Funktionen soll das Lesen von Büchern erfüllen und wo hat das Lesen seinen "Sitz im Leben" der erwachsenen Befragten?

Unter "Lesezeiten" sind freie Zeiten zu verstehen, in denen sich die Leser mit Lektüre beschäftigen können. Infolge einer Veränderung der Freizeitgestaltung sind auch die verfügbaren Zeiträume Wandlungen unterworfen, die das Leseverhalten beeinflussen (Vgl. Kapitel I.2.2). Als Folge der Entwicklung des Medienmarktes stellt die stetig zunehmende Zahl von Fernsehsendern, Videoaufnahmen, Filmangeboten der Kinos und die steigende Verbreitung von Personalcomputern ein sich permanent erweiterndes Freizeit- und Medienangebot auch für Leser dar. So müssen für das Lesen, vor allem für die Rezeption anspruchsvoller Texte, bewußt Zeiten ausgewählt und bestimmt werden.

Im Alltag und am Wochenende haben Arbeiten im Haushalt, Geselligkeit, Einladungen, Verabredungen sowie sportive und kulturelle Aktivitäten den Vorrang bei der Nutzung der individuellen zeitlichen Ressourcen. Ihnen wird die gesamte Mediennutzung untergeordnet, so daß längere Lektüre auf möglichst ungestörte ablenkungsfreie Zeitspannen verlagert wird.

Beleg Frau Sch. (1958), Pharmazeutisch-Technische-Assistentin: "Es ist mir sehr wichtig. Wenn auch im Augenblick das Lesen nur als Informationsquelle dient - weniger als entspannte Freizeitgestaltung - ist es doch ein sehr wichtiger Faktor für meine Lebensqualität. Während des Alltags gehört es weniger zu meiner geplanten Freizeitgestaltung, eigentlich nur die Tageszeitung vor dem Frühstück, eventuell eine halbe Stunde abends, aber im Urlaub genieße ich die Abendstunden, um zu lesen."

Da zunächst alle anderen Anforderungen und Tätigkeiten Priorität vor dem Lesen haben, wird im Alltag oft dann gelesen, wenn es Lücken im Zeitkontingent erlauben. Die im Alltäglich fest eingeplanten Lesezeiten dienen überwiegend der Informationsaufnahme, z. B. dem Lesen der Tageszeitung. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Zeitungsleser darum bemüht sind, einen gewissen Status Quo an Informiertheit zu wahren. Dieser läßt sich nicht näher bestimmen oder definieren, weil er ganz von der persönlichen Prioritätensetzung der Befragten abhängt. Diese Entwicklung der Lesefreiräume wird von einigen Befragten zwar bedauert, aber dennoch den persönlichen Verpflichtungen untergeordnet.

Es zeichnete sich ab, daß die in ihrer Kindheit und Jugend früh habitualisierten Leser aller drei Generationen als Erwachsene ihren Lesegewohnheiten und damit ihren Medien (Büchern und Zeitschriften) am häufigsten treu blieben, soweit dies im Rahmen ihres persönlichen Lebensumfeldes praktikabel ist. Als passionierte Leser lesen sie am Wochenende und, soweit möglich, auch unter der Woche in Büchern.

Beleg Frau G.(1948), Grundschullehrerin: "Ich lese, wenn ich ein bißchen Zeit habe und in den Ferien. Und ich lese in der laufenden Woche eigentlich weniger, dann wieder am Wochenende. Wenn ich ein Buch gerne zu Ende lesen will, dann lese ich auch mal in der Woche, aber da schaue ich eben auch in die Zeitung und den 'Spiegel'. Und neben der Unterrichtsvorbereitung und den Kindern bleibt auch nicht immer Zeit. Abends im Bett, da bin ich zu müde, da schlafe ich dann ein und kann mich auch nicht mehr gut konzentrieren. Meine Bücher sind meistens dergestalt, daß man sie nicht nebenher lesen kann. Die Zeitung lese ich jeden Tag."

Diejenigen, die zwar gerne mehr lesen würden, wenn ihnen mehr Zeit zur Verfügung stünde, aber das Lesen im Alltag häufig anderen Tätigkeiten unterordnen müssen, führten, ähnlich wie Frau G., vor allem einzelne Abende und den Urlaub als Lesezeiten an. Die Lektüre umfangreicher Bücher wird auf diese freien Zeitblöcke verschoben. Die verbleibenden vakanten Zeitkontingente im Alltag und am Wochenende stehen dann für andere Aktivitäten zur Verfügung. Bei der Interpretation der Aussagen der Informanten der zweiten und dritten Generation ist ferner zu berücksichtigen, daß viele von ihnen mit dem Fernsehen als begleitendem Medium aufwuchsen, und sie bereits dadurch andere Mediennutzungsgepflogenheiten entwickelten als die älteren Jahrgänge.

Das Lesens im Bett, das je nach Müdigkeit von sehr unterschiedlicher Dauer ist, bedeutet für viele Menschen eine Art Ritual[1] ), das dazu verhilft die Sorgen und Gedanken aus dem Tagesgeschehen zu verscheuchen und entspannt einschlafen zu können.

Beleg Herr N.(1930), ehem. selbst. Kaufmann: "Nach dem Zubettgehen lesen wir eigentlich beide noch. Manchmal gibt es Streit weil meine Frau dann noch mit der Zeitung raschelt und ich wache wieder auf. Aber ich lese jeden Abend noch etwa eine Viertelstunde und dann wird es auch Zeit zum Schlafen. Ich stehe ja um halb sechs auf."

Das abendliche Lesen als Abschluß des Tages sowie die Lektüre am Morgen oder Mittag in der Tageszeitung zeichnen sich als die Haupt-Lesegewohnheiten im Alltag ab. Diese Kombination von Lesestoff und Lesezeit ist durchaus als habitualisiertes Verhalten zu bezeichnen. Nicht nur zugunsten des Wunsches, über aktuelle Geschehnisse informiert zu sein, hat das Lesen einer Tageszeitung Vorrang vor dem Weiterlesen in Büchern, sondern auch deshalb, weil kurze Meldungen und einzelne Artikel leichter und eher zu bewältigen sind.

Beleg Frau H.(1962), Buchhalterin: "Ich versuche mittags eine Stunde Mittagsruhe einzuhalten, in der die Kinder dann in ihren Zimmern bleiben. Und dann versuche ich das Abendblatt zu lesen und möglichst auch noch in einem Buch zu lesen. Und ich lese gerne abends wenn ich ins Bett gehe nochmal eine oder auch nur eine halbe

Stunde."[2] )

Nicht immer wird das Lesens im Alltag zugunsten anderer Aktivitäten verschoben, sondern oft auch, weil die Betreffenden in der jeweiligen Zeitspanne für sich nicht die äußeren und inneren Voraussetzungen als gegeben sehen, die sie zum Lesen brauchen.

Beleg Frau R. (1953), beurl. Grundschullehrerin: "Bei mir ist es jetzt schon so, wenn ich viel zu tun habe, dann muß ich jede Seite dreimal lesen und dann macht es keinen Spaß mehr. Ich habe dann einfach keine Kraft mehr das in meinem Kopf zu sortieren

Beleg Herr L.(1965), Architekt: "Aber es gab immer wieder Phasen, wo ich durch sehr starke Arbeitsbelastungen im Studium oder am Anfang der Berufstätigkeit keinerlei freie Zeiten oder Muße zum Lesen hatte. Heute habe ich wieder immer ein bis zwei Bücher liegen, die ich gerade lese (...) Ich bin bis heute jemand, den man leicht ablenken kann und der auch bei Geräuschen nicht abschalten kann. Also lesen kann ich besser alleine und in Ruhe."

Von grundsätzlicher Bedeutung für die hier angesprochenen Lesezeiten ist die Tatsache, daß die Leser - auch die oben zitierten - bestimmte Ansprüche an die Kontexte, in denen sie lesen möchten stellen: Ruhe, vor allem die "innere Ruhe", Wachheit, Muße um sich zu entspannen sowie das Gefühl, frei von zeitlichen Limits zu sein und nicht sofort wieder gestört zu werden, sind nahezu unabdingbare Voraussetzungen.[3] )

Die alltäglich zur Verfügung stehenden freien Zeiten besitzen in der Regel eben nicht diese Qualitäten, sie sind zu kurz, nicht vorhersehbar oder werden von Müdigkeit oder Anspannung begleitet. Deshalb eignen sie sich nicht nur für passionierte Leser schlecht zur Lektüre umfangreicher Texte. Die Beschaffenheit der Lesezeit ist also ein entscheidender Faktor, der bestimmt, welche Art von Lektüre oder Beschäftigung überhaupt gewählt wird. Gerade Leser, die erst spät ein Interesse am Lesen entwickelten, brauchen das Gefühl längere freie Zeiten zur Verfügung zu haben. Diese sehen sie eigentlich nur noch im Urlaub als gesichert an, in dem sie sich dann weitgehend ungestört und frei von zeitlichen Limits auf ein Buch einlassen können.

Beleg Herr K.(1952), Büromaschinenmechaniker: "Und heute lese ich ja recht gerne, aber nicht nach Feierabend, das ist mir auch zu anstrengend, aber doch wenn man ein bißchen Zeit hat und im Urlaub immer zum Leidwesen der Kinder. Denn wenn ich ein Buch angefangen habe, dann lege ich es auch nicht mehr weg."

Beleg Frau M.(1959), ausgeb. Lehrerin/Hausfrau: "Ich denke, daß sind irgendwie beide Seiten, die ich gut finde an Büchern. Und da ich nicht so dahin plätschernde Romane lese, ist es manchmal ein bißchen schwer, diese Bücher als Entspannung zu bezeichnen. Ich habe schon manchmal gemerkt, wenn ich jeden Tag nur zu zwei oder drei Seiten komme, dann merke ich in der Mitte des Buches, daß ich den roten Faden nicht immer habe nachvollziehen können. Und deshalb lese ich dann auch, wenn ich zu müde bin, nicht mehr weiter, weil ich dann den Sinn nicht mehr nachvollziehe. Da sind dann kleine lustige Geschichten so das Richtige, von denen man dann immer mal so zwei oder drei lesen kann."

Die obigen Zitate lassen deutlich werden, daß Ansprüche an die literarische Qualität und den Umfang der Lektüren der jeweiligen Quantität und Qualität verfügbarer Zeitkontingente angepaßt werden müssen. So nimmt das Lesen literarisch anspruchsvoller Bücher und Texte z.B. gerade im Leben von Müttern mit kleinen Kindern eher selten den Rang einer regelmäßigen Freizeitbeschäftigung ein.

Beleg Frau A.(1965), technische Zeichnerin: "Nein, es ist kein fester Bestandteil, da meine Lesefreizeit vom Wetter (Garten), vom Kind, vom Haushaltsaufkommen abhängt. All das kommt vor der Freizeit und dem Lesen. Wenn ich tagsüber lesen kann, dann mittags, wenn die Tochter schläft oder abends, wenn sie im Bett ist. Selten aber länger als zwei Stunden am Stück."

Dieser Beleg zeigt deutlich, daß Leser durch Ruhe und Entspanntheit geprägte Lesezeiten benötigen, um sich mit Freude auf ihr Medium einzulassen, eine Prämisse, von der das Leseverhalten im Erwachsenenalter offensichtlich weitgehend abhängt. Niemand beschrieb dagegen eine Abhängigkeit seines Leseverhalten in Kindheit und Jugend von diesen Voraussetzungen, denn bis zum Ende der Schulzeit wurde von Zeitnöten relativ unbehelligt gelesen, wann immer es sich ergab, wann immer freie Zeit genutzt werden konnte oder sollte.

Lesezeiten für erwachsene Leser müssen demnach nicht nur verfügbar und abrufbar sein, sondern sie unterliegen auch bestimmten Anforderungen, um als solche akzepiert und genutzt zu werden. In den bestimmten Lebensphasen ist eine kontinuierliche Verfügbarkeit dieser Zeiten nicht gesichert. Welchen Veränderungen die Lesezeiten unterliegen und welche Konstellationen sie prägen, wird im nächsten Abschnitt dargestellt und vertieft.

2. Biographische Zeiten des Lesens

2.1 Der Eintritt in das Berufsleben

Die persönliche Zeitstrukturierung verändert sich das erste Mal im Leben gravierend durch die Einschulung. Eine Entwicklung, die sich noch einschneidender nach dem Ende der Schulzeit fortsetzt. Mit den Zeitkontingenten wandelt sich nicht selten die Art und Weise des Lesens. Auch wenn von habitualisierten Lesern weiterhin gelesen wird, so handelt es sich dabei häufig um berufsbezogene Fachlektüre. In den Interviews wurde deutlich, daß der "Faden" der privaten Lektüre nach der Berufsausbildung oder den ersten Berufsjahren häufig erst wieder aufgenommen werden mußte, bzw. die Notwendigkeit bestand, entsprechende Freiräume fürs Lesen erneut zu kreieren.

Ein Teil meiner Informanten der ersten Generation begann bereits nach acht bzw. neun Pflichtschuljahren mit der Berufsausbildung in Form einer Lehre in Industrie oder Handwerk. Im Zusammenhang hiermit mußten sie lernen völlig neue Zeitstrukturen für ihren Tagesablauf zu akzeptieren und zu berücksichtigen. Diese veränderte Tageseinteilung brachte ebenfalls häufig Einbrüche in das bis dahin praktizierte Leseverhalten mit sich. Wer, wie Herr K., ein Handwerk mit langen Arbeitszeiten erlernte, hatte verständlicherweise in dieser Phase, selbst als eigentlich interessierter Leser, weder Muße noch Lust zum Lesen und schränkte sein Leseverhalten daher zeitweilig stark ein.

Beleg Herr K.(1934), Bäcker/Zollbeamter: "Dann kam ich in die Lehre. Ich habe Bäcker gelernt mit einer Wochenarbeitszeit bis zu 100 Stunden, und dann war mein Lesedurst erstmal gestillt, so daß ich mich eigentlich nur noch ausgeruht habe, wenn ich mal frei hatte."

Je nach Berufszweig begann der Arbeitstag mit einem Schichtdienst besonders früh oder er war sehr lang, wie z.B. im Einzelhandel. Für die Bundeswehrsoldaten und auch Bewerber im Polizeidienst gehörte eine zeitweilige Kasernierung zum Ausbildungsbeginn. Diese zum Teil völlig neuen Lebensumstände beeinflussten das Freizeitverhalten respektive die Möglichkeiten der freien Zeiteinteilung erheblich.

Beleg Herr D.(1955), Polizeibeamter: "Damals bin ich dann nach dem Verlassen der Handelsschule zur Polizei gegangen. Da kamen viele Dinge zusammen: mit 17 Jahren bereits kaserniert zu sein, fern von der Familie und doch schon ziemlich selbständig sein zu müssen. Wir mußten selber einkaufen und uns selber verpflegen. Das alles im Zusammenhang mit der Pubertät hat wohl auch dazu geführt, daß ich in der Zeit kaum gelesen habe und mich mehr auf die Berufsspezifika konzentriert habe. Die Freizeit habe ich dann mehr mit Kollegen und Freundinnen verbracht. Das war eine Zeit, in der ich sehr wenig gelesen habe."

Neben der Arbeitszeit in den Betrieben mußte die Berufsfachschule besucht sowie Fachliteratur gelesen werden. Trotz der im Laufe der Jahrzehnte veränderten Arbeitsbedingungen sind diese Einschnitte in die Lesezeiten durch den Berufseinstieg generationsübergreifend zu verzeichnen. Nicht immer wurde das Lesepensum bereits während der Ausbildung reduziert, in einigen Fällen ergaben sich auch in den Ausbildungsjahren die Gelegenheiten zu lesen. Frau Z.lebte z.B. während ihrer Lehre zur Handweberin in einer kleinen Wohnung über der Werkstatt des Meisters. Da diese einsam lag, hatte sie abends Zeit und las viel:

Beleg Frau Z.(1940), Weberin/Hausfrau: "Mit 16 bin ich dann wegen der Ausbildung nach Hannover gegangen und habe alleine gelebt, 1956. Und ich habe dann auch in dem Haus gelebt, in dem die Werkstatt war. Da war ich abends ganz alleine und hatte nur die Bücher. Die Werkstatt lag auch ziemlich einsam, fast im Wald in Isernhagen, das war ziemlich weit draußen - damals jedenfalls war das wirklich weit draußen. Gefährlich nahe an der Autobahn. Ein Truppenübungsplatz in der Nähe; man konnte also nicht einfach abends irgendwo hingehen, und so war ich in der Woche ziemlich angebunden und habe gelesen."

Frau Sch. brach ein Mathematikstudium im zweiten Semester ab und bewarb sich dann im gehobenen Polizeidienst um eine Ausbildung. Sie gehört zu den Lesern, die auch ausbildungsbegleitend viel lasen. Ihre sehr intensive Leseleidenschaft konnte sie eigentlich erst während der Ausbildungszeit richtig ausleben[4] ):

Beleg Frau Sch.(1958), beurlaubte Kripobeamtin: "Ich habe so gerne gelesen, ich habe mir extra dicke Bücher geholt, damit die nicht so schnell zu Ende sind. Gerade auch später, als ich schon mit der Schule fertig war und hatte meinen Job, da habe ich mir für verregnete Wochenenden extra dicke Schmöker besorgt und es mir gemütlich gemacht. Da bin ich morgens gar nicht aufgestanden, habe die Augen aufgeschlagen und nach meinem Buch gegriffen. Da habe ich morgens auch erst mal nichts gegessen, erst nach einer Weile, wenn ich Hunger kriegte und dann zwangsläufig mal was essen mußte, bin ich aufgestanden. Ich hatte erst meine Ruhe, wenn ich das Buch durch hatte. Und wenn ich dann was hatte mit 600 Seiten, da habe ich bis in die Nacht gelesen bis mir die Augen zufielen und dann am nächsten Morgen ging es dann gleich weiter."

Spätestens mit dem Eintritt in das weiterführende Berufsleben waren die schier unbegrenzten Lesezeiten der Jugend- und Schulzeit für die Mehrzahl der Befragten beendet. Einige erhielten sich ihre Vorliebe für das Lesen und akzeptierten die reduzierten Lesemöglichkeiten indem sie die Lesezeiten auf freie Zeitblöcke wie das Wochenende oder den Urlaub verschoben.

Beleg Frau F.(1949), Referatsleiterin: Hat sich dein Leseverhalten durch den Berufseinstieg verändert? "Ja, es hat sich verändert. Ich lese heute viel weniger als früher. Einmal, weil ich den Zugang zu neuer Literatur nicht so richtig gefunden habe, und auch weil ich nicht mehr so viel Zeit habe wie früher. Ich habe eine ganze Weile Krimis gelesen. Jetzt schaffe ich es gerade noch, die "Zeit" zu lesen und täglich die Tageszeitung. Und ich lese immer mal wieder ein Buch das ich früher schon gelesen habe, denn ich finde es spannend zu erfahren, wie ich ein Buch heute erlebe, das ich als 16 oder 17jährige gelesen habe."

Von den Befragten der zweiten und dritten Generation mußten einige Männer im Anschluß an die Schule oder die Ausbildung zunächst ihren Wehr- oder Zivildienst absolvieren. Dies war eine Zeitspanne, in der eher wenig oder gar nicht gelesen wurde.

Beleg Herr B.(1970), Redakteur/kaufmänn. Angestellter: "Und dann kam die Bundeswehrzeit, da würde ich mal behaupten, da habe ich gar nicht gelesen. Und dann kam das Studium und da habe ich nur Fachliteratur gelesen. Also da war sonst keine Zeit. Höchstens mal irgendwelche Kurzgeschichten. Heute im Beruf ist es ähnlich. Zum Lesen komme ich eigentlich nicht. Zumindest nicht so, daß man irgendwelche längeren Bücher durchlesen könnte."

Wer ein Studium absolvierte, betonte, genau wie Herr L. im folgenden die umfassende Pflichtlektüre, die dafür gelesen werden mußte. Zum Teil entwickelten sich daraus auch private Interessen, meistens aber handelte es sich um reine Fachschriften, die nichts mit den privaten Lektürevorlieben gemein hatten. Besonders die Prüfungs- und Abschlußphasen wurden mir als Zeiten geschildert, in denen in der Regel nichts anderes als Fachspezifisches gelesen wurde. Das Lesequantum wurde in diesen Fällen nicht reduziert, sondern vielmehr inhaltlich verlagert. Im Hinblick allerdings auf die angestrebten, eher positiven und selbst bestimmten Funktionen des Lesens im Leben, kam dieser Art des Lesens dann der Status der leidigen Pflichtlektüre zu, die als Voraussetzung für den erfolgreichen Abschluß der jeweiligen Ausbildung notgedrungen akzeptiert wurde.

Beleg Herr L.(1965), Architekt: "(...) Während der extremen Arbeitsphasen im Studium gab es soviel Fachliteratur und aktuelle Zeitschriften, um auf dem Laufenden zu bleiben und zugleich Wissen anzueignen, da war kein Raum für belletristische oder andere Texte."

Der Beginn eines regelmäßigen Berufslebens bedeutete für manche der habitualisierten Leser aber auch den Beginn neuer, regelmäßiger Zeitstrukturen und damit Lesezeiten. In diesem Rahmen kehrten sie in kleinen Schritten wieder zu einer intensiven Lektüre zurückk, nicht zuletzt, weil sich das Lesen von Fachlektüre auf einige konkrete Themengebiete reduzierte. Wer es schaffte, berufsbegleitend und intensiv zu lesen, ist, nach eigenen Aussagen, auch heute noch zu den passionierten Lesern zu zählen. Zahlreiche Leser wiederum verspürten auch nach der Ausbildung aufgrund der beruflichen Anforderungen und neuen Zeitstrukturen weder Zeit noch Kraft, um zu lesen.[5] )

Beleg Herr J.(1962), EDV-Fachberater: "Das ich nicht mehr zum Lesen komme, das hängt wohl auch damit zusammen, daß ich den ganzen Tag am Bildschirm arbeite und abends bei den Versuchen zu lesen meistens gleich einschlafe. Und wenn ich dann am nächsten Tag weiterlesen will, dann muß ich erst wieder die vorherige Seite lesen, und so komme ich dann vielleicht immer mal vier Seiten weiter, und dann wird das auch mühsam mit der Zeit."

Beleg Herr D.(1955), Polizeibeamter: "Da war das eigentlich durch den Schichtendienst, indem man eben auch am Wochenende ständig Bereitschaft hatte. Da ich da kaum Freizeit hatte, also da habe ich sehr wenig gelesen. Und der Umbruch, der kam wohl 1975 oder 1976, als ich mir dann eine eigene Wohnung gesucht habe und mit meiner jetzigen Frau zusammengezogen bin, da kam dann etwas Ruhe hinein. Und zeitgleich gab es auch in der Bereitschaftspolizei eine Phase, wo es etwas weniger mit Freizeitstreß verbunden war. Und damals fing auch mein Interesse für den Beginn der gehobenen Laufbahn an, und zugleich steigerte sich auch mein Interesse am Lesen wieder."

Aus diesem Beleg wird nicht nur die Einschränkung des Lesens durch persönliche und berufliche Belastungen deutlich, sondern auch die Tatsache, daß das Lesen für einen beruflichen Aufstieg durch das damit verbundene Engagement einen neuen Stellenwert im Leben bekommen kann. Der Beginn der Ausbildung für die gehobene Beamtenlaufbahn, die mit Personalführung verbunden war, motivierte Herrn D., sich wieder verstärkt mit Büchern und komplexeren Texten auseinanderzusetzen, weil er dies für seine neue berufliche "Vorbildfunktion" als notwendig erachtete. Er integrierte das Lesen daraufhin bewußt in seine Freizeit, verweist aber zugleich darauf, daß dies erst möglich war, nachdem sich seine Dienstzeiten in einer Einheit der Bereitschaftspolizei verringerten. Dieser Beleg verweist noch einmal darauf, was auch bei Herrn K. für seine Zeit als Bäckerlehrling anklang, daß extreme Arbeitszeiten oder Berufstätigkeiten im Schichtdienst das eigentlich präferierte Leseverhalten sehr stark einschränken. Selbst interessierte Leser haben das "verschlingende" Lesen ihrer Kindheit und Jugend, wie Frau M. es im nächsten Beleg beschreibt, oft nicht wieder aufnehmen können. Zugleich zeichnete sich die Tendenz ab, daß parallel zur zeitlichen Umstrukturierung eine Neuorientierung in der Wahl der bevorzugten Bücher und Texte stattfand. Der folgende Beleg verweist zugleich auf den Aspekt der ungeniert genossenen Lektüre, wenn sie wirklich allein dem Privatvergnügen des Lesers dient.

Beleg Frau M. (1957) Buchhändlerin: "Und, also so in dieser so unheimlich intellektuell überbeanspruchten Phase, wo man über alles geredet hat, was man gelesen hat, da hatte es auch den Charakter gehabt, das war auch schon fast so ein intellektuelles Degenfechten, das auch Spaß gemacht hat. Das war weniger entspannend, man könnte auch sagen, weniger Konsum. Es war eben sehr ambitioniert, aber es war manchmal eben auch sehr ideologisch spröde, während es jetzt auch wieder offener ist. Ich lese jetzt auch mal was, was wenn ich mit meinen alten Freunden darüber unterhalten würde, unter den damaligen Kriterien keinen Bestand hätte. Aber ich kann mich auf soetwas einlassen, auf ein offenes Ausprobieren, was man als Kind wohl auch ganz viel praktiziert hat. Und das tut mir auch gut und macht mir Spaß."

Grundsätzlich ist zu konstatieren, daß die Befragten aller drei Generationen ihr Leseverhalten den beruflichen Anforderungen neben anderen Verpflichtungen anpassen und unterordnen mußten, so daß sie intensives und zeitaufwendiges Lesevergnügen immer häufiger auf die Reise- und Urlaubszeiten verschoben - eine Lesezeit, die allen genannten Anforderungen der Leser gerecht zu werden scheint. Zugleich ist aber auch noch darauf hinzuweisen, daß die Frauen der ersten Generation noch wesentlich mehr Zeit in die Führung ihres Haushaltes investieren mußten als die jüngeren Generationen. Das Aufziehen kleiner Kinder in der Familie wiederum schränkte des Lesequantum der Mütter aller Generationen ein, was im folgenden Abschnitt noch näher erhellt wird.[6] )

2.2. Die Familiengründung

Neben der zeitlichen Anspannung im Beruf bedeutet auch die Familiengründung einen Einschnitt in das Leseverhalten der Befragten. Generationenübergreifend betroffen sind in den Familien häufiger die Frauen, weil die Männer in der Regel als Hauptverdiener mit einer festen Vollzeitanstellung geregelten Arbeitszeiten nachgingen, denen sie ihr Freizeitverhalten ohnehin anpassen müssen. Als Ausgleich für die reduzierte Lesezeit zu Hause lesen einige von ihnen z.B. während der Bahnfahrten zur Arbeitsstelle. Die halbtags beschäftigten Frauen und Mütter unter den Befragten haben nach eigenen Angaben nicht unbedingt mehr Lesezeit zur Verfügung als ihre vollbeschäftigten Partner. Die Organisation von Haushalt und Familienleben forderte ihren zeitlichen Tribut, die Nachmittage sind häufig ebenfalls verplant. Kann im Alltagsleben mit Kindern freie Zeit abgezweigt werden, dann ist diese im Sinn der eingangs geschilderten Qualitätsansprüche an die Lesezeit selten als solche geeignet.

Beleg Frau G.(1959), Museumspädagogin: "Ja, dazu muß man sagen, daß wir zwei kleine Kinder haben und das wir da im Moment wohl eher nur dazu kommen das zu lesen, was jeden für sich interessiert. Da kommt man nicht so dazu, dann noch die Leseempfehlungen des anderen zu verfolgen. (...) Es liegt jetzt schon etwas zurück, daß wir ein Buch beide gelesen haben oder sogar vorgelesen haben."

Unter diesen Umständen reduziert sich nicht nur die Quantität des bewältigten Lesestoffes, sondern auch der Anspruch an die literarische Beschaffenheit der Texte. Immer wieder wurde in den Gesprächen hervorgehoben, daß neben Haushalt, Beruf und Kindern keine komplexen Texte gelesen werden können bzw. konnten, da die Möglichkeit zur Konzentration eher selten gewährleistet ist. Um sich intensiv und kritisch mit Texten auseinanderzusetzen, fehlt besonders in Familien mit mehreren Kindern oft über Jahre hinweg die Ruhe und innere Gelassenheit. Nicht nur für Frau R., eine eigentlich passioniert lesende Mutter von vier Kindern, stellt sich die kontinuierliche Lektüre in einem anspruchsvollen Buch so oft als problematisch dar. Sie wird hier beispielhaft für die meisten anderen Mütter unter meinen Befragten zitiert:

Beleg Frau R.(1953), Grundschullehrerin: "Im Moment habe ich auch ein Buch, das mich sehr beschäftigt, weil es mich in die Schulzeit zurückversetzt, denn die Philosophen hatten wir alle in der Schule. Und das Buch ist 'Sophies Welt'. Leider bin ich dafür auch abends oft zu müde und komme nur langsam vorwärts. (...) Mein Mann und ich wir hatten da öfter Gespräche. Und der Gedanke, warum man sich das Leben oft so schwer macht oder anderen. Allein, wenn ich an die ganzen Ehedramen aus unserem Bekanntenkreis denke. Und da kam dieses Buch mit den Ideen und Gedanken, über die ich schon die ganze Zeit nachgedacht hatte. Das war toll, es paßte genau in meine derzeitige Stimmung. Und dann ist es natürlich bitter, wenn man nicht weiterkommt."

Nach derartigen Lesepausen durch den Beruf oder die Kinder ist es gerade für passionierte Leser oft schwer, das Gleichgewicht zwischen Lesequantum und Lesequalität wieder herzustellen.

Selbstverständlich beinhaltet das Familienleben mit jüngeren Kindern auch für die Väter eine Einschränkung der individuellen Lesezeiten. Diejenigen unter den Befragten, deren Kinder bereits erwachsen sind, räumen ein, daß es nicht immer problemlos klappte, sich wieder in das alte "Lesegefühl" einzustimmen, bzw. wirklich wieder mit der einstigen Ruhe und Muße zu lesen.

Beleg Herr N. (1930), ehem. selbst. Kaufmann: "Ja, ich habe mir immer gewünscht, daß ich dann, nachdem die Kinder groß sind und ich auch im Haus und im Beruf mehr Ruhe hätte, also natürlich auch nach meiner Pensionierung... Also, daß ich dann dann wieder so viel und so intensiv lesen würde wie früher. Aber das klappte dann nicht so auf Anhieb, wie ich das wollte. Ich habe oft gar nicht mehr die Ruhe, mich so lange mit einem Text zu befassen wie früher, da stehe ich dann öfter dazwischen auf und erledige was. Am intensivsten und versunkensten habe ich in meiner Jugend gelesen und in den ersten Berufsjahren, bevor wir die Familie hatten."

Das private Lesen bzw. das gesamte Lesen im Lebenslauf ist so immer wieder von der Ambivalenz zwischen Ansprüchen und Möglichkeiten geprägt. Die begrenzten Zeitbudgets veranlassen zahlreiche Leser dazu einen höheren Anspruch an die Beschaffenheit und die Umstände ihrer Lesezeiten zu stellen, andere Leser wiederum geben sich mit einfacheren Lektüren und einem geringerem Lesequantum als vorher zufrieden.

Unter der Berücksichtigung gerinfügiger Unterschiede zwischen der ersten und der dritten Generation läßt sich festhalten, daß das unbegrenzte und unbeschwerte Lesen in Kindheit und Jugend in der Regel mit dem Beginn der Ausbildung die ersten Einbußen erfährt. Für die erste und zweite Generation markierten der offizielle Einstieg in den Beruf oder auch die Familiengründung weitere Zäsuren des Leseverhaltens.[7] ) Eine Einschränkung, die meine Informanten der dritten Generation noch nicht so stark betrifft, da sie in der Mehrheit noch keine Kinder haben. Parallel zur Verknappung der Zeitstrukturen im Alltag und auch in der Freizeit wurden in mehreren Fällen neue Ansprüche an die Qualität der "Lesezeit" formuliert. Die meisten betonen, daß sie dann als Erwachsene häufig auch andere Bücher als vorher und anspruchsvolle Texte eher selten lasen, bzw. häufiger zum Zwecke der beruflichen Fortbildung zum Buch griffen.

Befragte, die bereits in Kindheit und Jugend passionierte Leser waren, erhalten sich trotz verengter zeitlicher Ressourcen und zahlreichen Verpflichtungen die Vorliebe und Leidenschaft für das Lesen, auch wenn sie dem zeitweilig nur stark eingeschränkt nachgehen können. Mit dem fragmentarischen Lesen in kurzen Sequenzen, das sich aus den alltäglichen Zeitstrukturen ergab, waren fast alle Befragten generationsübergreifend - soweit Lesen für sie eine attraktive Beschäftigung darstellte - unzufrieden. Zugleich hoben sie hervor, daß sich die Realisierung ihrer Lesewünsche doch immer wieder anders gestaltete, als sie es sich vorgestellt hätten. Es ist davon auszugehen, daß die Konsequenzen jeglicher Zeitbudgeteinbußen für die ohnehin unregelmäßig, sporadisch Lesenden noch viel nachhaltiger wirken, da ihr Lesen nicht als habitualisierte Gewohnheit im Lebensalltag verankert ist. Das Leseverhalten dieser Informanten wird infolge veränderter Zeitstrukturen stark reduziert, wenn nicht sogar gänzlich eingestellt.

Generationsübergreifend formulierten alle die sich als Buchliebhaber oder Gerne-Leser darstellten, den Wunsch wieder einmal unbegrenzt Zeit für zahlreichere Bücher und Entspannung beim Lesen zu finden. In einigen Fällen der ersten Generation wurde dieses Verlangen bereits mit der Option auf den anstehenden Ruhestand formuliert. Soweit hierzu Aussagen getroffen wurden, bzw. in der Retrospektive bereits möglich waren, möchte ich auf dieses potentielle Leseverhalten im nächsten Abschnitt eingehen.

2.3 Lesen im Ruhestand

Analog zu den bislang berücksichtigten Lebensphasen wie Schulzeit, Berufsleben und Familiengründung stellt auch der Eintritt in den Ruhestand eine zeitliche Zäsur für das Lesen dar, da hier ebenfalls neue Zeitstrukturen wirksam werden. Wie aber auch bereits vorher in den früheren Lebensphasen gibt es im Alltag und aufgrund von Einladungen, Konsumgewohnheiten u.a. zeitliche Prioritäten, die mit dafür verantwortlich sind, daß das gewohnte Leseverhalten sich nicht verändert oder erweitert. Mehrfach wurde mir gegenüber allerdings erwähnt, daß die Tageszeitung jetzt gründlicher studiert und nicht mehr, wie vor dem Ruhestand, immer wieder nur "überflogen" würde.

Beleg Herr Z. (1932), Kraftfahrzeugmechaniker/Gewerbelehrer: "Wir haben ja auch das Abendblatt abonniert, aber ich habe es zuletzt im Schuljahr oft nur noch überflogen oder das was mich gerade am meisten interessierte gelesen. Jetzt sehe ich es mir beim Frühstück recht gründlich an und lese auch am Nachmittag nochmal darin."

Unter den Befragten waren zum Zeitpunkt des Interviews nur einige Informanten der ersten Generation bereits pensioniert.[8]) In keinem dieser Fälle wurde das Lesevolumen nach dem Ruhestand verringert; man verbrachte aber auch nicht unbedingt, so wie vorher beabsichtigt, mehr Zeit lesend. Im folgenden eine Aussage von Herrn W., der sich darauf freute, im Pensionsalter endlich Zeit zum Lesen zu haben.

Beleg Herr W.(1932), Heizungsmonteur: "Also das ist auch etwas, worauf ich mich freue, wenn ich pensioniert bin, daß ich erstmal meine ungelesenen Bücher lese und, daß ich mir dann auch Bücher vornehme, die mich interessieren. Ich habe noch einige Bücher, die ich erst angelesen habe im Urlaub oder so. Ich will die dann nochmal zu Ende lesen. Wenn ich Zeit und Muße habe. Die habe ich dann zum Teil bis Dreiviertel durch und lese sie nach dem Urlaub nicht zu Ende."

Kurz nach dem Interview wurde Herr W. mit 62 Jahren vorzeitig pensioniert. Knapp zwölf Monate später räumte er in einem weiteren Gespräch ein, daß sich im ersten Jahr der Pensionierung an seinem Zeitbudget noch nichts geändert habe, er im Gegenteil das Gefühl habe, über weniger Zeit zu verfügen als vorher. Die erwünschte Steigerung seines Lesequantums war bislang ausgeblieben. Anderen wiederum gelang es, mit der freieren Zeiteinteilung im Ruhestand auch die alten Lesegewohnheiten wieder aufzunehmen. Seine Schwägerin Frau K. genießt so das erhöhte Zeitkontingent als Rentnerin, um intensiv zu lesen:

Beleg Frau K.(1935), Schmuckverkäuferin: "(...) dann kam die Heirat und die Geburt des Sohnes und dann habe ich da auch eine Lücke im Lesen gehabt. Aber die letzten Jahre wieder und besonders auch in den letzten fünfeinhalb Jahren seit denen ich nicht mehr berufstätig bin. Und ich lese, das ist für mich das größte Vergnügen. Vor allem Romane, aber auch Literatur um fremde Länder kennenzulernen."

Das von älteren Menschen häufig formulierte vermeintliche Verlangen im Ruhestand verstärkt zu lesen, wurde parallel zu meinen Erhebungen und auch in den betreffenden Interviews immer wieder zur Sprache gebracht. Bei der Beurteilung dieser Aussage sollte aber stets berücksichtigt werden, daß es sich hierbei auch um eine nahezu stereotype Formulierung handelt, die an die Einschätzung des Lesens als etwas Positives, Belesenheit demonstrierendes Tun in der Bevölkerung erinnert. Die von mir befragten Renter stellten genau wie Herr W. fest, daß sie mit dem größeren Zeitkontingent, das bis zu 10 Stunden täglich ausmacht, sehr viele andere Aktivitäten verwirklichten, aber weniger das Lesen ausweiteten.

Dies gelang nach eigener Aussage am ehesten Herrn Z., der allerdings auch schon vorher regelmäßig und viel gelesen hatte.

Beleg Herr Z. (1932): "Also nach dem Beginn der Pensionierung habe ich morgens erst mal eine Weile ausgeschlafen. Und dann habe ich begonnen auch mal morgens im Bett ein wenig zu lesen oder Nachmittags zu einer Tasse Tee. Das dann zu Zeiten, wo ich vorher oft noch in der Schule war. Meine Frau setzt sich dann auch gerne dazu und liest. Wir lesen besonders gerne Reisebücher und entsprechende Literatur, denn dazu haben wir ja jetzt auch mehr Zeit. Wenn ich dann zu so früher ungewohnten Zeiten lese und sitze, dann habe ich schon so richtig das Gefühl, daß es mir gutgeht."

Lesen ist also auch Ausdruck von Lebensqualität, eine Tatsache die ich bereits früher angesprochen habe und die im obigen Beleg sehr schön deutlich wird.

Die Erhöhung der Lesequantität im Ruhestand scheitert durchaus auch deshalb, weil man sich nicht mehr so gut wie früher längere Zeit konzentrieren kann, oder daran, daß ein zeitlich kontinuierliches Lesen regelrecht wieder trainiert und "erlernt" werden muß. Anhand des Leseverhaltens im Ruhestand und damit ja auch in der Regel für den Rest des Lebens lassen sich gewohnheitsmäßige, passionierte und eher unregelmäßig Lesende leicht differenzieren. Wer sich unter den Befragten das Lesen von längeren Texten über alle potentiellen Einschränkungen hinweg "retten" konnte, wie Herr Z. im obigen Beleg oder auch Frau F., knüpfte hier an, liest in gewohnter Manier weiter oder erweitert seine Lesekapazität.

Beleg Frau F. (1933), Lehrerin: "Ich habe immer viel gelesen. Aber seit ich älter bin schlafe ich schlecht und so lese ich auch viel nachts. Seit ich pensioniert bin habe ich deshalb kein schlechtes Gewissen und schlafe dann morgens länger. Ich lese oft noch bis spät und ich lese viel.

Wer aber das Lesen von Büchern aus dem Alltag nahezu verbannt hatte oder nur noch auf Urlaubsreisen las, demjenigen fällt es offensichtlich nicht leicht, wieder zu komplexeren Texten oder ausführlicherer Lektüre zurückzukehren. Da die Mehrzahl meiner Informanten noch im Berufsleben stand lagen mir hierzu entsprechend wenig Belege vor, allerdings haben Nachfragen meinerseits und die Aussagen im Pretest dies bestätigt. In der Gerontologie kam man bislang zu dem Ergebnis, daß sich das Mediennutzungsverhalten im Alter eher auf das Lesen von Tageszeitungen und das Hören und Sehen von Radio- und Fernsehsendungen beschränkt.[9] ) "Der Rückzug älterer Menschen aus der Berufswelt und die damit einhergehenden kommunikativen Veränderungen in den interpersonalen Beziehungen machten (...) einen Rückgriff auf die Medien notwendig. (...) Medien stellen ein Fenster zur Welt dar, verbinden ältere Menschen vor allem vermittels der Nachrichten- und Informationssendungen mit der Außenwelt."[10] )

Unter meinen Informanten handelte es sich bei dreien um "Frühpensionierungen", die Betroffenen leben aber noch sehr aktiv und haben einen großen Bekanntenkreis, so daß bei ihnen nicht von einem Rückzug über die Medien gesprochen werden kann. In den Aussagen zeichnete sich ab, daß das Leseverhalten sich auch im Alter nur in Ausnahmefällen gravierend ändert. Für den Erhalt des habitualisierten Lesens sind auch im Alter der formelle Bildungsgrad und ein intensives Interesse an Texten und Büchern prägend.[11] )

2.4. Wartezeiten

Neben den bewußt geplanten Lesezeiten existieren Zeiträume, wie Wartezeiten beim Arzt, beim Friseur oder Fahrten in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die lesend überbrückt werden und zu denen sich die Aussagen der Befragten generationsübergreifend gleichen. Wer beim Arzt warten muß, blättert in den Zeitschriften der Lesezirkelmappen oder liest im dort ausliegenden Informationsmaterial. Die im folgende zitierte Frau K. ist unter meinen Informanten zwar eine Ausnahme, aber es ist durchaus denkbar, daß sie mit einer solchen Einstellung nicht alleine dasteht.

Beleg Frau K. (1958), Fremdsprachensekretärin/Hausfrau: "Wenn ich zum Arzt gehe, nehme ich mir inzwischen meistens ein eigenes Buch mit, weil ich die gebrauchten Hefte dort so eklig finde. Ich kann mich dort allerdings nicht besonders gut konzentrieren. Man wir oft ja auch zwischendurch nochmal nach vorne gerufen."

Die wenigsten gaben an, gezielt Bücher mitzunehmen, weil auch in den Wartezimmern häufig eine unruhige Atmosphäre herrscht, die nur das Überfliegen von Zeitungen oder Zeitschriften zuläßt.

Beleg Herr P., (1944) Verwaltungs-Betriebswirt: "Also, beim Arzt blättere ich in den Zeitschriften, diesen Lesezirkelmappen. Als Bahner fahre ich natürlich mit der Bahn ins Büro, aber die Strecke ist kurz und ich treffe oft Kollegen. Da ist nicht viel Zeit um zu lesen."

Das vorstehende Zitat verweist auf eine weitere häufig zum Lesen genutzte Zeitspanne, die Fahrtzeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln und berufsbedingte längere Zugfahrten.

Nur etwa ein Drittel meiner Informanten nutzt für seinen täglichen Arbeitsweg die öffentlichen Verkehrsmittel. Einige fahren mit dem Rad, aber die Mehrheit fährt mit dem Wagen zur Arbeitsstelle. Für die Autofahrer stellt das Autoradio eine zusätzliche Informationsquelle dar und ersetzt teilweise das morgendliche Zeitungslesen. Wer regelmäßig mit U- oder S-Bahn fährt, liest in der Regel während der Fahrtzeit eine Tageszeitung, Zeitschrift oder auch ein Buch. Da aber in den Bahnen und Bussen oft Unruhe und Gedränge herrschen, die das Lesen beeinträchtigen und den Leser ablenken, ist ein intensives Lesen schwierig. Nicht alle Befragten ließen sich von der Situation in den öffentlichen Verkehrsmitteln ablenken, zumindest was die U- und S-Bahnen betrifft. Im Bus, da waren sich eigentlich alle einig, liest es sich schlecht. Für Herrn B. bedeutete der Beginn seiner Lektüre in der U-Bahn einen völlig neuen Leseabschnitt im Leben, denn erstmals seit Jahren liest er wieder regelmäßig:

Beleg Herr B. (1947), Informatiker: "Ich habe lange nicht gelesen, weil einfach nie Zeit dafür da war. Vor zwei Jahren habe ich dann angefangen in der Bahn zu lesen. Zuerst Sachen von Stephen King und so. Die sind so spannend, da liest man sich fest und vergißt die Leute drumherum. Inzwischen lese ich aber auch Klassiker von früher, zum Teil aus der Schule. Gerade habe ich E.T.A. Hoffmann gelesen. Das tut mir richtig gut, denn nach der Arbeit und neben der Familie bleibt mir sonst kaum Zeit. Abends wollen die Kinder auch immer noch was von mir."

So positive Lesekonnotationen verbinden nur wenige mit dem Lesen in der U-Bahn, zumindest was das Lesen von Büchern betrifft. Vielen ist es, genauso wie Herrn J. zu unruhig:

Beleg Herr J.(1961), Stadtplaner/EDV-Fachmann: "Mir ist das viel zu hektisch in der Bahn, besonders morgens, wenn sie so voll ist. Ich bin froh, wenn ich das Abendblatt so halbwegs durchsehen kann. Dafür reicht dann aber auch meine Fahrzeit von zweimal zwanzig Minuten."

Als ein weiteres Argument gegen das Lesen in öffentlichen Verkehrsmitteln wurde auch angeführt, man könne sich "im Buch festlesen" und deshalb die richtige Haltestelle verpasssen.

Alle Befragten, die berufsbezogen viel mit der Bundesbahn reisen, gaben an, während dieser Bahnfahrten bevorzugt Zeitschriften und Bücher zu lesen.

Beleg Herr L. (1965), Architekt: "Ich lese in der Bahn, wenn ich nicht schlafe. Ich fahre ja mindestens einmal in der Woche nach Berlin. Zuerst lese ich die Tageszeitung. Und dann auch Bücher und Zeitschriften. Das war für mich in den letzten Monaten oft die einzige Möglichkeit Bücher auch zuende zu lesen."

Besonders längere und regelmäßige Bahnfahrten bieten passionierten Lesern offenbar ein gutes Umfeld für Lektüre und sind in einigen Fällen, wie auch im obigen Beleg, die Möglichkeit im Alltag fehlende Lesezeiten zu kompensieren.

Beleg Frau N.(1954), Sozialpädagogin: "Ich habe in der Regel was zu lesen dabei. Und ich lese auch meisten auf Fahrten mit der Bahn. Bei den öffentlichen Verkehrsmitteln da sind die Strecken meistens zu kurz, da ist es mir zu nervig ein Buch herauszuholen. Und Zeitungen lese ich nicht. Ich suche mir in der Bahn gezielt Plätze auf denen ich in Ruhe lesen kann. Also nicht gerade da, wo kleine Kinder sitzen."

Bahnfahrten sind ebenso wie die im Flugzeug verbrachten Stunden Zeitbudgets, die überbrückt werden sollen um am eigentlichen Ziel anzukommen. Hierzu werden alle Tätigkeiten begrüßt, die das Aufkommen von Langeweile verhindern. Relativ selten gaben die berufstätigen Informanten an, während dieser Zeiten berufliche Angelegenheiten verfolgt zu haben, und wenn dann rein zeitlich betrachtet, eher marginal.

Das ausgiebige Lesen während längerer Bahnfahrten ähnelt in seiner Qualität den frei verfügbaren Lesezeiten auf Reisen, dem am häufigsten genannten Pendant zum oft sehr fragmentarisierten Lesen im Alltag.

3. Lesen in der Freizeit

3.1 Reisezeit - Lesezeit

Wie bereits angesprochen, stellt für Erwachsene die Reiseszeit die bevorzugt genutzte Möglichkeit zum Lesen dar. Gerade für die Lektüre dicker "Schmökerromane" wurde mir der Urlaub generationsübergreifend als potentielle Zeit der Muße und als wichtigste zusammenhängende Lesezeit genannt.

Beleg Frau H. (1962), Buchhalterin: "Und natürlich im Urlaub, da habe ich immer reichlich Bücher mit. Mindestens drei Bücher, und die schaffe ich dann auch alle."

Interessant ist hier der Hinweis auf die Anzahl der mitgenommenen Bücher, der als Indiz für die Subjektivität der Einschätzung des eigenen Lesequantums - auf das ich später noch eingehe - steht.

Fast alle Befragten, darunter besonders die Mütter, sprachen von der einmaligen Gelegenheit, sich im Urlaub ohne die alltäglichen Störungen und Unterbrechungen auf ein Buch konzentrieren und einlassen zu können. Bevorzugt wurden als Urlaubslektüren spannende Bücher und Romane erwähnt, die den Leser lange Zeit fesseln. Voller Vorfreude sprachen viele von mehreren Büchern, die sie auf der nächsten Reise garantiert würden lesen können.

Beleg Frau R.(1953), Grundschullehrerin/Hausfrau: "Ich lese heute vor allem in den Ferien. Ich kaufe mir dann immer sechs bis sieben Bücher, auch für zwei Wochen, und die lese ich dann auch durch. Da lese ich dann permanent. Da brauche ich auch nicht zu kochen. Was meinst du, was ich in der Zeit alles wegschaffen kann. Und für mich fängt der Urlaub auch erst richtig an, wenn ich da drei Bücher liegen habe, die schon gelesen sind. Da lauere ich das ganze Jahr auf diese Zeit, in der ich am Stück lesen kann. Ich bin dann auch nicht ansprechbar, und dann werde ich richtig knatterig, wenn mich einer anspricht. Und ich muß erst mal lesen, lesen, lesen und dann ist es gut."

Auch in diesem Beleg fällt die Anzahl der genannten Bücher auf. Sie steht sozusagen diametral dem sonst bewältigten Lesepensum gegenüber, denn im Alltag kann die Informantin, und nicht nur sie, offensichtlich selten kontinuierlich in einem Buch lesen, so daß für sie drei hintereinander gelesene Bücher weit mehr sind, als es ihrem sonstigen Lektürequantum enspricht. Nicht alle Informanten nannten eine konkrete Anzahl, die sie meinten "lesen zu müssen", damit sich die Reise auch in dieser Hinsicht "gelohnt" habe. Immer wieder aber wurde doch von einen "Stapel Bücher" für die Reise gesprochen. Auch die unerwarteten und späten Leser sehen den Urlaub als wichtige Lesezeit an und versorgten sich entsprechend mit Lesestoffen. Das Buch im Koffer nahmen sogar die sonst ausdrücklichen Nicht-Leser mit. Allerdings gestaltet es sich für sie problematisch, die auf einer Reise begonnenen Bücher später im Alltag zu beenden.

Beleg Frau A.(1957), Arzthelferin/Hausfrau: "Ja, so ungern ich als Kind las, jetzt als Erwachsene nehme ich immer ein Buch mit in den Urlaub. Ich hatte jetzt eins im Urlaub angefangen und seitdem wir wieder hier sind habe ich erst drei Seiten geschafft. (...) Ich brauche bald ein Jahr für ein Buch."

Die Mehrheit meiner Informanten liest im Urlaub recht viel und gerne. Zum Teil werden schon Wochen vor Reiseantritt Bücher als Lektüre gekauft und gesammelt. Für viele Leser gehört als Ritual zur Reiseeinstimmung ein obligatorischer Besuch in ihrer Buchhandlung oder die Ausleihe empfohlener Lektüren bei Freunden und Bekannten dazu.

Beleg Frau F.(1957), Krankenschwester: "Und heute lese ich nur noch im Urlaub, und dann aber auch zwei bis drei dicke Wälzer und freue mich dann auf jede Minute, die ich da zum Lesen habe. Und dann bin ich so richtig versunken wie bei einem Kinofilm, und bin dann auch froh darüber, daß ich lese. Aber ich lese wirklich nur noch dann, wenn ich absolute Ruhe habe und der Alltag völlig daneben ist. (...) Aber Lesen ist eben nicht das Wichtigste außerhalb der Urlaubszeiten. Aber im Urlaub ist es dann so, daß ich auch bis nachts um zwei lese. (...) Zum Geburtstag lasse ich mir zum Beispiel gerne Bücher schenken und horte die dann bis zum Urlaub und muß dann meistens noch welche dazu leihen. (...) Und dieses Lesen der Romane im Urlaub, das ist absolute Entspannung, weil ich eben in diesem Moment nichts um mich herum mitbekomme."

Auch hier wird der im Urlaub zu bewältigende Lesestoff über eine bestimmte Anzahl von Büchern definiert. Für die Befragte steht diese Angabe synonym für das uneingeschränkte Lesen und Leben während einer Reise als Kontrast zu ihrem begrenzten Zeitbudget und Lesequantum im Alltag. Um in einer derart lang ersehnten Lesezeit keine Enttäuschungen zu erleben, werden diese Lesestoffe meistens sorgfältig ausgewählt:

Beleg Frau M.(1959), ausgebildete Lehrerin/Hausfrau: "Ja, für den nächsten Urlaub, da plane ich dann schon, welches Buch ich mir einpacke und was ich für die Kinder mitnehme. Und da plane ich rechtzeitig, damit ich dann auch etwas habe, was mich wirklich interessiert. Und ich achte auch immer darauf, daß es zum Reiseland paßt. Auch die Bücher für die Kinder".

Besonders von den Frauen wurde mit Freude und Enthusiasmus über solche Zeitspannen gesprochen, in denen sie völlig in die Welt eines Buches versinken können und erst wieder auftauchten müssen, wenn sich aus der Lektüre heraus eine Zäsur ergibt. Doch nicht nur sie - deren Status als Vielleserinnen in der Forschung immer wieder betont wird - nutzen die Reisezeit als Lesezeit. Auch Männer schätzen die Möglichkeit des entspannten langen Lesens auf Reisen. Der Urlaub als ausschließliche Lesezeit für Bücher wird von den männlichen Informanten als Gegebenheit akzeptiert, die für sie eine Ergänzung ihrer Berufs- und Lebenswelten, in denen sie nur Fachlektüre und Zeitungen lesen, darstellt. Dagegen klingt bei den befragten Frauen, vor allem den Müttern, der permanente Wunsch nach mehr Freiräumen zum Lesen durch, der nur in den Ferien ansatzweise erfüllt werden kann.

Reisen dienen den wenigsten aller Befragten zum Lesen literarisch

anspruchsvoller und schwieriger Texte; im Gegenteil, einige Leser betonen die Mitnahme "leichter Lektüre", oder umfangreicher belletristischer Romane, zu denen sie zu Hause nicht kommen.

Beleg Frau P.(1954), Sachbearbeiterin: "Aber wenn ich verreise, hole ich mir auch heute noch gerne leichte Romane oder so Bestseller, wie das Buch von der Frau die verschleppt wurde."[12] )

Beleg Frau B.(1953), Gesamtschullehrerin: "Ja, und jetzt für den Finnland Urlaub, da nehme ich mir dann neben der Reiseliteratur jede Menge Romane zur Unterhaltung mit. Aber es ist jetzt eben eine ganz entscheidende Freizeitgestaltung und hat nichts mehr mit Pflichten zu tun."

Die Tatsache mehrere Bücher dabei zu haben, ist gerade auf längeren Reisen wichtig, um nicht in die Verlegenheit zu geraten, vielleicht auf unpassenden oder doch nicht zusagenden Lesestoff angewiesen zu sein. Im einem Fall führte diese Angewohnheit sogar zu Streitigkeiten unter den Eheleuten:

Beleg Herr K.(1934), Bäcker/Zollbeamter. Einwurf seiner Frau (1935), Verkäuferin: "Mein Mann, der packt immer für jede Reise ..., also für drei Wochen nimmt er dann drei oder vier Bücher mit. Und dann das Gewicht auf einer Flugreise. Da gibt es dann jedesmal Ärger, weil ich weiß, daß er nie die Bücher alle liest auf der Reise." Herr W.: "Ja, das mit den drei Büchern hat seinen Grund: Ich kenne ja die Bücher nicht, deshalb nehme ich mehrere Bücher mit, denn es kann ja sein, daß mir das eine oder andere nicht gefällt, und damit ich dann eines habe, was ich wirklich gerne lese, brauche ich Auswahl."

Auch ungewohnte Situationen oder lange Wartezeiten, speziell bei Flugreisen, wurden bevorzugt mit dem Lesen leicht verständlicher und spannender Bücher überbrückt. Die Lektüre diente in diesem Fall zur Gestaltung festumrissener, absehbarer Zeiträume.

Beleg Frau L.(1950), ausgeb. Gymnasiallehrerin/Yogalehrerin: "Wenn ich in Urlaub fahre, nehme ich immer ganz seichte, spannende Literatur mit. Allein schon deshalb, weil ich oft stundenlang im Flieger sitze und mich da nicht stundenlang konzentrieren kann. Oder ich nehme englische Bücher mit weil ich dann in die Sprache reinkomme."

Speziell zur Reisevorbereitung lasen alle Befragten mehr oder weniger intensiv. Bei den Gewohnheiten des Lesens und der Auswahl der Lektüre auf Urlaubsreisen kamen weniger geschlechtsspezifische Merkmale des Leseverhaltens zum Tragen, als daß die Gewohnheiten innerhalb der Lesergenerationen unterschiedlich ausgeprägt sind, auch wenn in allen Generationen die Bedeutung des Urlaubs als Hauptlesezeit hervorgehoben wurde. Die erste Generation reiste als junge Erwachsene zunächst seltener als die zweite und dritte. Unter den Informanten der ersten Generation fanden sich am häufigsten Aussagen, in denen betont wurde, daß man vor allem viel für die Reisevorbereitung lese, und dieses auch gerne vor Ort noch vertieft würde. Zusätzlich zur Reiseliteratur wird dann auch unterhaltende Lektüre rezipiert. In der zweiten Generation fanden sich dagegen vorwiegend Bekenntnisse zum geradezu exzessiven Lesen spannender Belletristik und Krimis. Bücher für die Reise sollen im Prinzip leicht verständlich, spannend und gut geschrieben sein, um einen den Leser geradezu "fesselnden" Effekt zu erzielen und eine Versunkenheit der jeweiligen Rezipienten in die Lektüre zu garantieren.

Unter den Befragten der dritten Generation ist die Gestaltung einzelner Reisen zum Teil noch dergestalt von aktiven Elementen geprägt, daß relativ wenig Lesezeiten und Lesestoff eingeplant werden. Grundsätzlich aber stellen Reisezeiten eine potentielle Gelegenheit zum intensiven Lesen dar, und werden auch als solche definiert.

Immer wieder sind Bücher und Printmedien für eine Reise zugleich Lesestoff und Gebrauchsgegenstand. Als letzterer müssen sie relativ preiswert und im wahrsten Sinne des Wortes konsumierbar sein. Um dies zu gewährleisten, werden bevorzugt Taschenbücher augewählt, die dann durchaus auch mit Wasser, Sand, Sonnencreme und Lebensmitteln in Berührung kommen dürfen.

Beleg Frau Sch. (1959), beurl. Kriminalbeamtin: "Ich kaufe für den Urlaub vor allem Taschenbücher, weil die dann ja auch entsprechend aussehen, wenn man die mit an den Strand nimmt."

Bücher für die Urlaubsreise werden offenbar auch gezielt als zu verbrauchende Artikel eingekauft, die einige Leser in diesem Sinne gerade bei Flugreisen am Ferienort für andere Urlauber zurücklassen. Bei dem im folgenden gewählten Vorgehen der "geteilten" Lektüre handelt es sich allerdings um eine Ausnahme.

Beleg Frau E. (1954), Sozialpädagogin: "Mein früherer Freund und ich, wir haben so ziemlich dasselbe gelesen. Wenn wir in Urlaub fuhren hatten wir oft so dicke Taschenbücher mit, und wenn dann der eine damit halb durch war, dann haben wir die durchgeschnitten, und der andere konnte auch damit anfangen. Die Hälften haben wir nachher aufeinandergelegt und da weitergegeben."

Zur Verwendung von Büchern in dieser Form als reine Unterhaltungs- und Gebrauchsgüter im Urlaub kamen bei allen Befragten nur Taschenbücher, Zeitschriften und Heftromane in Frage. Vielerorts erhält der Tourist auch auf Bahnhöfen oder Flughäfen muttersprachliche Taschenbücher. In einigen Urlaubsorten, wie z.B. den Touristenzentren auf Mallorca, fällt dem aufmerksamen Betrachter das große Angebot an deutschsprachigen Zeitungen und Taschenbüchern auf. Offensichtlich besteht hier eine zusätzliche Nachfrage, vielleicht weil man sein Buch vergessen oder bereits ausgelesen hat, oder weil das mitgeführte Buch doch nicht den erhofften Erwartungen entsprach.

Auch wenn eine der häufigsten Angaben zur Lesezeit sinngemäß die Aussage war: "Im Urlaub da kann ich mich wenigstens auf ein Buch konzentrieren", so ist auch festzuhalten, daß das Lesen auf Reisen teilweise eine Art "Lückenbüßerfunktion" mangels anderer Möglichkeiten der Mediennutzung - wie Fernsehen oder Kino - im fremdsprachigen Ausland zu erfüllen hat. Im Zuge der Satellitenempfangsmöglichkeiten wird die Notwendigkeit zum Verzicht auf das gewohnte Medienensemble in guten Hotels jedoch auch immer seltener. Ob sich dies dann negativ auf das Leseverhalten im Urlaub auswirkt, kann hier nur hypothetisch angenommen werden.

Urlaub ist eine besondere Form der Freizeit, die oft sehr lange oder nahezu unbefristete Zeitkontigente zu bieten scheint. Habitualisierte erwachsene Leser gaben in der Mehzahl an, daß es sich dabei um ihre Hauptlesezeit bzw. intensivste Lesezeit des Jahres handelt. Allerdings möchte ich hier noch zu bedenken geben, daß es sich beim Lesen auf Reisen offensichtlich in einigen Fällen auch um eine fast stereotype Gewohnheit handelt, denn dementsprechend gestanden auch einige wenige Informanten nahezu verschämt, daß sie auf Reisen eigentlich nicht gerne lesen würden, weil sie "etwas erleben" und "nicht mit einem Buch in der Hand herumsitzen wollten" (Frau L.1950).

Lesen als Freizeitbeschäftigung im "normalen" Leben, im Alltag steht im Mittelpunkt des Interesses im folgenden Abschnitt. Ich beginne mit der Nutzung von öffentlichen Bücherhallen und Schulbibliotheken.

3.2 Die Nutzung Öffentlicher Büchereien und Schulbibliotheken

Neben Familie und Schule gehören die Öffentlichen Bibliotheken zu den wichtigsten lesefördernden und in der Literaturvermitttlung wirkenden Institutionen.[13] ) Ein kurzer Blick auf einige Ergebnisse der Nutzerforschung soll verdeutlichen, wie stark die Realisierung von Lesewünschen und -neigungen auch von einem gut ausgebauten, abwechslungs-reichen Bibliothekssystem unterstützt wird.[14] )

In Hamburg suchen jährlich etwa drei Millionen Menschen die Hamburger Bücherhallen (abgekürzt: HÖB) auf, die damit - nach den Kinos - die meistgenutzten Kultureinrichtungen der Stadt sind.[15] ) Ihre Benutzerstruktur wurde im Auftrag der HÖB mehrfach untersucht.[16] ) Überproportional vertreten sind die jüngeren Jahrgängen (bis 30), die 28% der Gesamtbevölkerung und 41% der Leserschaft stellen, eine Gruppe mit relativ hohem Ausbildungsniveau, wie Abitur und Studium in den Lesergruppen ab 20 Jahre[17] ) - eine Leserschaft also, die ohnehin als prädestiniert für habitualisiertes Lesen anzusehen ist. Nach einer Einführung in die Bibliothek bedienen sich diese Leser in den HÖB weitgehend selbständig und bedürfen weniger der konstanten Beratung und Betreuung als vielmehr eines attraktiven und aktuellen Medienangebotes,[18] ) ihre Wißbegierde liegt primär im Hobby- und Sachbuchbereich, aber auch in der schönen Literatur.[19] )

Die Nutzung von Bibliotheken ist selten ein Leben lang von gleicher Intensität, sie ist stark an bestimmte Lebensphasen und aus diesen resultierenden Interessen gebunden. Als Ergänzung und Erweiterung von häuslicher und schulischer Lesesozialisation können öffentliche Bibliotheken einen wichtigen Beitrag leisten, allerdings nur dann, wenn die passive Medienbereitstellung von entsprechenden Aktivitäten begleitet wird, um ein optimales Zusammenwirken der vermittelnden Instanzen zu erreichen.

Die Expansion der Hamburger-Bücherhallen ermöglichte auch mehreren der von mir Befragten relativ früh die Ausleihe zahlreicher Lesestoffe, von Kinder- und Jugendbüchern bis hin zu Romanen und Sachbüchern. Besonders die passionierten Leser der ersten und zweiten Generation begrüßten diese Ausleihmöglichkeit und nutzten die Bestände häufig bereits als Kinder und Jugendliche. Gerade in der ersten Generation fanden sich mehrere Leser, für die das Angebot der Bücherhallen eine echte Alternative zur Anschaffung neuer, vor allem gebundener Bücher darstellte. Mit der Stabilisierung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse nahm die Nutzungsfrequenz wieder ab, bis sie später damit begannen, ihre eigenen Kinder in den Bibliotheksgebrauch einzuweisen.

Für manche Befragte war die Einführung in die Angebote der Bücherei synonym mit dem Zugang zu neuen Lesestoff- und Wissensspektren, indem sie das facettenreiche Angebot ähnlich intensiv nutzten wie Herr K.:

Beleg Herr K.(1956), kaufmännischer Angestellter: "Und die ersten Bücher an die ich mich auch erinnern kann, das war in der Zeit als ich meine erste Büchereikarte bekommen hatte, ich war damals in der 5. Klasse. Da bin ich mit meinem Vater in die Bücherei gegangen. Das war vor einem Elternabend. Und da habe ich mir gleich beim ersten Besuch zwei Bücher mitgenommen. Das eine hieß "Die bunte Welt der Indianer" und das andere war ein Tierlexikon auch mit farbigen Abbildungen und Texten zu den Tieren. Ich habe das Indianerbuch sehr intensiv gelesen und auch alle Texte. Während ich in dem Tierbuch nur geblättert habe. Die ganzen klassischen Kinderbücher, die sind an mir ziemlich vorbeigegangen. Ich habe dann recht häufig Bücher geholt, alle zwei bis drei Wochen, nachher bin ich eigentlich sogar jeden Sonnabend seit dieser Zeit in die Bücherhalle gegangen. Das weiß ich auch noch ganz genau, daß ich immer Sonnabends gegangen bin. Warum weiß ich allerdings nicht. Ich habe sehr viel bei den Kinderbüchern gelesen und dann aber auch recht schnell klassische Abenteuergeschichten. Das eine hieß "Die Kinder des Admiral Jakob", da hatten sich Kinder ein Segelschiff zurechtgezimmert und damit Abenteuer erlebt in Holland und auf der Ostsee. Das waren drei Bände. Und dann bin ich auch schon in Richtung historischer Bücher gekommen. Ich meine, die Autorin hieß Mary Stuart, das waren Bücher über den Englischen Bürgerkrieg unter Cromwell. Und Bücher von Rosemarie Suttcliff, es kann auch umgekehrt gewesen sein mit den Autorinnen. Das andere Buch war jedenfalls über die Römerzeit in England, auch zwei oder drei Bücher, die handelten immer von Jungen, die in England lebten und bei der römischen Kavallerie waren und aufstiegen. Das sind eigentlich so die Bücher an die ich mich erinnern kann. Kalle Blomquist und die Lindgren Bücher habe ich bis auf Pipi Langstrumpf nicht gelesen. Die Pipi Bände habe ich mir bereits in der Grundschule von meinen Cousinen ausgeliehen. Die waren ja in recht großer Schrift und das entsprach wohl meinen Fähigkeiten. Und dann weiß ich ab der 5. Klasse auf dem Gymnasium und als ich so etwa 6. und 7. Klasse war, bin ich heimlich in die Erwachsenenabteilung gegangen und habe dort ausgeliehen. Eigentlich sollte man ja erst ab 16 dort ausleihen. Ich bin dann aber mit einem Freund zusammen dahingegangen, und ich weiß noch eines von einem Südafrikaner, der hieß Stuart Cloete. Das war ein recht dickes Buch über den Burenkrieg, es hatte fast 1000 Seiten. Das war das erste, was ich aus der Erwachsenenabteilung ausgeliehen hatte, so etwa mit 14, und danach habe ich dann dort eigentlich hemmungslos alles gelesen. Quer durch von Kriminalromanen über Spionage Romane und leicht pornographische, soweit da was war und Sachbücher über Geschichte und Geographie, Gebiete die mich ja nach wie vor interessieren."

Der obige Beleg dokumentiert zugleich deutlich, daß die Jugendlichen der ersten und zweiten Generation in ihrer Literaturauswahl selten vom Bibliothekspersonal Beratung erhielten, so daß sie jeweils ganz eigene Auswahlstrategien entwickelten:

Beleg Frau F.(1957), Krankenschwester: "Dann kann ich mich daran erinnern, daß ich später einen Ausweis hatte für die Bücherhalle und also auch ganz selbständig dorthin gefahren bin und mir Bücher ausgeliehen habe. Und da ich mich noch gut an die Bücherstapel, die dann bei mir standen, erinnern kann, muß ich auch recht viel gelesen haben." Das war in der Grundschulzeit? "Ja, und nachher auch während der Realschulzeit. Das Auswählen der Bücher, das habe ich folgendermaßen gemacht: ich habe immer die erste und die letzte Seite gelesen und wenn mir die gefielen, dann habe ich das Buch mitgenommen. Und es hat mir auch gar nichts ausgemacht, daß ich den Schluß dann schon kannte. Und wenn mir das Buch von einer bestimmten Autorin oder einem Autor gefallen hat, dann habe ich mir von denen auch andere Bücher mitgenommen."

Für die jenigen meiner Informanten der zweiten und dritten Generation, die Bücher geradezu "verschlangen", galt die Bücherhalle sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter als eine beliebte Quelle für neue Lesestoffe der Bereiche Unterhaltung, Spannung und Abenteuer.

Beleg Frau Sch.(1958), beurlaubte Kripobeamtin: "Krimis habe ich auch gelesen und Hanni und Nanni und Kalle Blomquist und Pipi Langstrumpf und was es da alles gab. Dann gab es da noch gewisse andere Detektive. Also was die Bücherhalle da so hatte und was sie da so hergab, also das habe ich alles gelesen. Das war nachher so, daß ich in bestimmten Gruppen, also Abenteuergeschichten und Krimis, also das die Bücherhalle da dann keine Bücher mehr hatte, die ich nicht kannte. (...) Aber im Prinzip habe ich dann die Regale durchgekuckt und was mir interessant erschien, habe ich mitgenommen. Als ich älter wurde, um so dicker wurden die Bücher auch, weil ich sehr schnell gelesen habe, und da hatte ich die Dünnen natürlich nach einem Tag durch, da wurden die Bücher dann dicker gewählt. Also auch Romane wie "Vom Winde verweht" und was so in die Richtig geht." Lag die Bücherhalle in ihrer Nähe? "Ja, ich bin ja in Fuhlsbüttel aufgewachsen und da konnte ich mit dem Rad hinfahren. Da am Ratsmühlendamm. (...)" An die Bücherhalle haben Ihre Eltern Sie herangeführt oder lief das über die Schule? "Nein, daß waren meine Eltern. An die Schule, also da kann ich mich gar nicht daran erinnern, daß ich von dort große Anregung gekriegt habe. Da ist meine Mutter mit mir hingegangen, und dann habe ich den Ausweis gekriegt und von da an habe ich regelmäßig Bücher ausgeliehen."

Unter den jüngeren Befragten der zweiten und der dritten Generation lernten einige die Bücherhallen durch einen Besuch mit der Schulklasse kennen, so daß die Einführung von einer außerfamiliären Institution geleistet wurde. Der anschließende regelmäßige Besuch der Bücherei stellte für sie zugleich eine Form der Geselligkeit dar, die mit Freunden, Geschwistern oder Nachbarskindern praktiziert wurde.

Beleg Frau L. (1964), Architektin: "Ich weiß nur noch, daß so wie wir lesen konnten, wir in die Bücherhalle gegangen sind, um Bücher auszuleihen. (...) Alle, ich, mein Bruder und Nachbarn, wir sind ein- bis zweimal in der Woche in die Bücherhalle gefahren und haben uns dort was ausgeliehen. Das haben wir bis zum Schluß gemacht." Und wer hat Euch darauf gebracht? "Weiß ich gar nicht genau, ich weiß nur noch, daß wir irgendwann mal angefangen haben, in diese Bücherhalle zu gehen. (...) Ich glaub' wir waren da irgendwann mal mit der Schule. (...) Als Kind waren das ja noch nicht so viele Bücher, die ich bekommen habe, denn da habe ich ja viel ausgeliehen. (...) Aus der Bücherhalle habe ich alles ausgeliehen, was es in der Kinderabteilung so gab. Tierbücher und Geschichten und alle Hanni und Nanni- und Fünf Freunde-Bücher und so etwas. Ja, so etwas also und Jack London und Blitz, der schwarze Hengst, und solche Reihen wo es dann 30 oder 40 Bücher gab, bis man die halt durch hatte. Und mein Bruder ist sowieso seltener gegangen und hat sich auch andere Sachen ausgeliehen."Weißt Du noch, wann Du in die Erwachsenenabteilung übergewechselt bist? "Nein, ich habe dann, als ich die Bücher alle kannte, da bin ich noch ein bis zweimal in die Erwachsenenabteilung gegangen; aber da kannte ich mich nicht aus und da ich die anderen alle kannte, bin ich dann eigentlich nicht mehr in die Bücherhalle gegangen. Da war ich etwa 12."

Leserinnen wie Frau B.(1953) und Frau P.(1956), die beide relativ spät begannen, auch in der Freizeit zu lesen, wurden erst durch die Schule auf die Bestände der Bücherhallen aufmerksam gemacht.[20] ) Sie nutzten die Büchereien zunächst nur, um sich zweckgerichtet für die Schule, später für Studienzwecke ergänzende Literatur auszuleihen. Auch unter den jüngeren Informanten frequentierten nur noch wenige nach der Pubertät die Bücherhalle regelmäßig für den eigenen Freizeit-Lesebedarf, sondern primär zur Informationsbeschaffung oder um sich Material für Referate oder die Heftführung in Fächern wie Biologie, Geschichte und Erdkunde zu besorgen.

Beleg Frau P.(1954), Sachbearbeiterin: "Ja, wir hatten Ausweise und sind auch häufig in die Bücherhalle gegangen. Und wir haben uns dort auch Bücher ausgeliehen zu Themen, die wir in der Schule hatten, um mehr zu erfahren als über das einfache Schulbuch. Und wenn man gerne liest, so wie wir, dann bringt das, glaube ich, schon auch etwas. Und wenn wir ein bestimmtes Buch nicht kaufen konnten, weil das gerade nicht drin war, dann haben wir das Buch aus der Bücherhalle geholt. Denn, wenn man liest, kann das ja ein teures Vergnügen werden."

Herrn B.'s Intention, in der Bücherhalle Kassetten zu hören, ist beispielhaft für die Veränderung der Mediennutzung und der Medienangebote für Kinder in den 70er Jahren, die auch im Bücherhallenangebot Niederschlag fanden. Außerdem konnte er dort, die für ihn zu Hause verbotenen, Comics ungestört lesen.

Beleg Herr B.(1970), Redakteur/Kaufmännischer Angestellter: "Die Bücherhalle, das war mehr so ein Freizeiterlebnis. Denn da hat man Freunde getroffen und konnte sich Kassetten anhören. Ich hatte nämlich als Kind nie einen Kassettenrecorder, immer nur Bücher. Und das fand ich ganz toll in der Bücherhalle. Ich habe diese Freizeit dann wohl anders ausgefüllt. Es gab dort eine Extra-Ecke zum Kassettenhören. Das war die Bücherhalle in Volksdorf. Ist vielleicht pervers, daß man in die Bücherhalle geht, um Kassetten zu hören... ich bin jedenfalls in die Bücherhalle gegangen um Kassetten zu hören und Comics anzukucken. Die Sachen, die ich zu Hause nicht haben durfte. So Sachen wie Lucky Luke oder so durfte ich nicht lesen."

Mittlerweile werden neben Büchern, Hörbüchern, Musikcassetten, CD's, Gesellschaftsspielen, Videos auch Computerprogramme und -spiele in den Bücherhallen angeboten.

Das umfassende Angebot der Bibliotheken war auch eine Quelle für Bücher, nach denen manche Informanten zu Hause nicht fragen mochten, wie zum Beispiel Bücher zum Thema Sexualität.

Beleg Frau B.(1953), Gesamtschullehrerin: "Wir sind in der Schule damit (mit der Bücherhalle) vertraut gemacht worden. Und später wurde es uns empfohlen, die Bücherhalle zur Literatursuche für ein Referat zu benutzen. Und danach habe ich sie dann regelmäßig besucht, weil mir aufgefallen ist, wieviel interessante Bücher die Bücherhalle hat und wozu man alles ausleihen kann. Mich hat auch schon Biologie früh interessiert, dazu habe ich mir Bücher angesehen. (...) Damals war der Anfang meines Lesens der, sich Informationen zu beschaffen und das ging mit Sexualität los. Ich kann mich da erinnern, daß ich mir dazu etwas ausgeliehen habe: 'Das sexuelle Verlangen junger Menschen'. Also, das habe ich verschlungen, und das habe ich mir auch mehrmals ausgeliehen. Daran kann ich mich gut erinnern."

In einer Zeit der persönlichen Umorientierung, wie der Pubertät, fiel es vielen Jugendlichen außerdem schwer, genaue Buchwünsche zu formulieren. Häufig fand dann zunächst ein Übergang von den inhaltlich und sprachlich eher trivialen Serien für Teenager zu den meistens nicht minder banalen Reihentiteln für Erwachsene statt.[21] ) Generationsübergreifend erinnerten sich die Infomanten daran, als Teenager die Bücherhallen unregelmäßig und bevorzugt für schulische Zwecke genutzt zu haben. Bei weitem nicht alle fanden als Erwachsene wieder zurück zur Ausleihe aus einer Bibliothek. Unter den heute erwachsenen Nutzern sind vor allem leidenschaftliche Leser zu finden, die sich die Anschaffung der gebundenen Neuausgaben finanziell nicht regelmäßig leisten wollen oder nicht können, und solche, die sich dort Sekundärliteratur zu Sachthemen oder Werk- und Hobby-Bücher ausleihen bzw. die Bestände beruflich nutzen, z.B als Lehrer oder Erzieherinnen.

Beleg Frau E.(1954), Sozialpädagogin: "Also das ist alles beschränkt durch meine finanzielle Lage. Ich kaufe mir also in der Regel nur Taschenbücher und bei Neuerscheinungen warte ich dann darauf, daß es sie als Taschenbücher gibt. Und ich gehe jetzt auch wieder die Öffentlichen Bücherhallen. Sehr viel neue Literatur besorge ich mir von dort. Ich hatte das schon einmal ziemlich eingeschränkt, aber jetzt gehe ich wieder häufiger, denn das sind Bücher, die ich mir nicht unbedingt aufheben will, aber dennoch lese."

Nicht nur Frau E. nutzt das Angebot der Bücherhallen intensiv, und liest sich in literarische Neuerscheinungen ein bzw. leiht diese dort aus, um dann entweder über einen späteren Kauf zu entscheiden oder, um einfach "mitreden" zu können. Ein Aspekt der mir häufiger genannt wurde.

Beleg Frau Sch.(1958), pharmaz. technische Assistentin: "Ich leihe in der Bücherhalle jetzt als Erwachsenen wieder oft was aus. Sie stellen hier immer die Neuerscheinungen aus, so daß man sie vorbestellen kann oder zumindestens vorher mal reinsehen. Ich hole mir da dann auch Anregungen für Buchwünsche zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Und dann für die Kinder all die Geschichten und Bastelbücher, die könnte ich ja gar nicht alle kaufen. Das wäre ja ein Vermögen und die Bücherregale würden überquellen."

Für ähnliche Zwecke nutzen auch Frau J.(1958), und Frau P.(1944) die Bestände ihrer örtlichen Bibliotheken, als Quelle für Material, Medien und Bücher, die sie nur vorübergehend benötigen:

Beleg Frau J.(1958), Gymnastiklehrerin/Bewegungstherapeutin: "Ich gehe oft in die Bücherhalle und kopiere mir da aus den Bastel- und Spielbüchern Sachen für meine Bewegungstherapie. Wir basteln da ja auch und auch für die Feste. Für mich zum Lesen hole ich eigentlich nichts. Früher noch Anregungen für die Kindergeburtstage."

Beleg Frau P.(1944), Pfarramtssekretärin: "Für meine ehrenamtliche Arbeit mit den Senioren und Kindern da brauche ich oft Bastelbücher und Geschichten zum Vorlesen. Dafür gehe ich in die Bibliothek und hole mir was und kopiere das auch. Ich bekomme oft Bücher von meiner Tochter, da brauche ich dann für mich nichts mitnehmen."

Manche Befragte formulierten, wie Herr W., der bereits als junger Mann in der Öffentlichen Bücherhalle auslieh und später seinen Sohn mit der Nutzung vertraut machte, den Wunsch im Ruhestand wieder als Leser in der öffentlichen Bücherei ein- und auszugehen:

Beleg Herr W.(1932), Heizungsmonteur: "Ja, das ist eigentlich mein Traumziel. Lieber ein Jahr eher pensioniert werden und dann mehr zu lesen, als noch ein Jahr zu arbeiten. Und ich will dann auch wieder in die Bücherhalle gehen. Da war ich übrigends als junger Mann vor der Ehe auch und habe mir viel und regelmäßig ausgeliehen."

Realisiert hat er diese Absicht bislang nur selten. Eine seiner damaligen Hauptnutzungsintentionen war im knappen Haushaltsbudget begründet, das es ihm und seiner Frau nicht erlaubte, sich alle gewünschten Bücher anzuschaffen. Ihre finazielle Situation ist heute deutlich besser und das Ehepaar kauft sich bevorzugt Bücher und Reiseführer als Taschenbuchausgaben.

Beleg Herr W., wie oben: "... weil man die dann lesen kann wann man will und wie lange man will. Da brauche ich dann nicht an die Rückgabe zu denken. Außerdem besitze ich Bücher, die mich besonders gefesselt haben, auch gerne selbst. Aber eben nur im Taschenbuch."

In den Intentionen zur Nutzung öffentlicher Buchausleihsysteme lassen sich generationsspezifische Unterschiede erkennen. Für die erste Generation stellte eine öffentliche Bibliothek primär den Ersatz für nicht vorhandene eigene oder nicht erschwingliche Bücher und andere Medien dar. Von den Lesern der zweiten und dritten Generation wird das Angebot eher als eine Erweiterung der eigenen Buchbestände oder als Zugang zu Büchern über Sachthemen akzeptiert, als Jugendliche suchten sie die Bücherhallen auch während ihrer "Serien-Lesephasen" auf. Gerade für die Serienleidenschaft vieler Mädchen lieferte die Bücherhalle Lesestoffe in großen Mengen. Bemerkenswert ist, daß einige Informanten angaben, die Bücherhallen nicht weiter frequentiert zu haben, nachdem sie das dortige Kinder- und Jugendbuchangebot zum Teil wiederholt gelesen hatten, so daß die Kenntnis der Bestände aus der Jugendabteilung zunächst das Ende ihrer Bücherhallenbenutzung implizierte. Der eigentlich logische anschließende Übergang der jugendlichen Leser in die Bestände der Erwachsenenabteilung unterblieb häufig - offenbar ein Problem mangelnder Beratung. Sicherlich fehlte einigen Befragten auch das Selbstbewußtsein, um das Büchereipersonal um Rat zu fragen. Die Aussagen meiner Informanten lassen den Schluß zu, daß eine Literatur für die Interimszeit der Interessen zwischen Jugend- und Erwachsenenalter lange Zeit nicht existierte, bzw. Texte, die sich als Einführung in die Bestände der Erwachsenen geeignet hätten, nicht deutlich als solche zu identifizieren waren.

Schulbibliotheken

Eine Schulbibliothek gilt als ein wesentlicher Baustein im "Gesamtkonzept" von Leseerziehung, Medienerziehung und Bibliothekspädagogik,[22] ) allerdings wurden mir gegenüber Schulbibliotheken zwar von Befragten aller drei Generationen erwähnt, allerdings quantitativ in so geringer Menge, daß man aufgrund ihrer bloßen Existenz grundsätzlich nicht von einem nennenswerten Einfluß auf die Lesesozialisation der Schüler ausgehen kann. Weniger als ein Viertel aller Befragten hatte an den von ihnen besuchten Schulen die Gelegenheit, eine Schulbücherei zu nutzen, und lediglich sieben Informanten (knapp neun Prozent) sagten aus, von diesem Angebot auch Gebrauch gemacht zu haben.

Für die erste Generation stellte die Schulbücherei, genau wie die öffentliche Bücherhalle, eine Ergänzung oder einen Ersatz des häuslichen Buchbesitzes dar, und es scheint nichts Ungewöhnliches gewesen zu sein, daß die Exemplare dieser Schul- oder Klassenbücherei von einzelnen Schülern nach und nach nahezu komplett entliehen wurden. Dabei handelte es sich weniger um Kinder- und Jugendbücher, im Bibliotheksbestand fand sich eher klassische deutschsprachige Literatur. Frau F. berichtete, daß die Bücherei zwar im Klassenraum untergebracht war, zugleich aber auch als Leihbücherei für das ganze Dorf fungierte.

Beleg Frau F.(1933), Grundschullehrerin: "Im neunten Schuljahr besuchte ich eine Dorfschule mit Leihbücherei aus ziemlich wahllos zusammengewürfelten Büchern, die ich ohne Ausnahme gelesen habe.."

Auch wenn der Bestand ihr "wahllos zusammengewürfelt" erschien, so las Frau F. dennoch alle Bücher, zum Teil sogar doppelt. Lektüren für leidenschaftliche Vielleser waren in den ersten Nachkriegsjahren rar. Infolge der Evakuierung ihrer achtköpfigen Familie verfügten Frau F.'s Eltern außerdem kaum mehr über eigene Buchbestände, da sie diese in der Stadt zunächst zurücklasssen mußten. Anderen ermöglichte die Ausleihe in der Schulbibliothek eine Erweiterung ihrer Leseinteressen und -kenntnisse.

Beleg Herr M.(1928), Grafiker: "(...) und dann habe ich damit begonnen, Dostojewski zu lesen. Alles was von ihm zu erreichen war, habe ich gelesen. Dann war ich damit durch. Und dann habe ich damit angefangen, deutsche Klassiker zu lesen, z.B. Freytag. Ich habe dann alles von Freytag gelesen, und der hat ziemlich viel geschrieben. Ich habe Keller und Grillparzer gelesen. Die Bücher borgte ich mir bei Freunden. Eine ganze Menge Bücher hatte ich aus der Schulbücherei ausgeliehen. Wir hatten eine Schulbücherei die recht gut sortiert war. Die städtischen Volksbibliotheken habe ich nie benutzt. Da war ich nie. Ich kann sagen, daß ich mit 13 Jahren mit Hilfe der Schulbücherei einmal mit der deutschen Literatur durch war. Ich kann das so genau sagen, weil wir dann mit 14 in die Kinder-Landverschickung kamen. Ich habe fürchterlich viel gelesen."

Insgesamt erwähnten die Befragten der ersten Generation die Ausleihe aus einer Schulbibliothek häufiger als die der zweiten und dritten. Der folgende Beleg ist zugleich der einzige aus der ersten Generation, der sich auf eine großstädtische Grundschulbibliothek vor 1945 bezieht:

Beleg Frau N.(1929), Apothekenhelferin/Hausfrau: "In München gab es in der Grundschule etwas, das ich nirgends wieder gefunden habe. Ein Lesezimmer nach der Schule, einmal in der Woche, wo eine Bibliothekarin Aufsicht führte. Man konnte Bücher ausleihen und dort lesen. Zwei Stunden lang. In der letzten halben Stunde durfte man sich ein Bilderbuch nehmen. Man bekam eine Lesekarte und einen Strich, wenn man da war. Wer 10 Striche hatte, durfte ein Buch reservieren, es wurde in ein Extra-Regal gestellt, am nächsten Dienstag konnte man dann weiterlesen. Dazu sollte ich noch sagen, die Schule war mitten in der Altstadt von München und der Schulbezirk hatte vom ganz feinen Angerklosterbezirk hinüber bis zum Ludwigsgymnasium ein bürgerliches Leben, weiter Müllerstraßen abwärts bis zum Sendlinger Tor kam dann das Juden-Ghetto und der Straßenstrich. Um den Gärtnerplatz sammelten sich die Lehrer und Künstler, die zu seriös für Schwabing waren. Also gemischter ging es nicht. Und viele Arbeiterkinder hatten zu Hause sicher keinen ruhigen Platz zum Lesen. Ich habe nie wieder so etwas Tolles gefunden."

Erst die jüngeren Informanten erinnern sich an ein Angebot von Jugendbüchern in der Schulbücherei ihrer Grundschule. Die Berichte über die Nutzung derselben wurden nicht nur von Erinnerungen an entliehene Bücher gespeist, im folgenden waren es die besonderen Räumlichkeiten, die für Frau R. in dieser solchen Institution eine unvergeßliche Atmosphäre schufen.

Beleg Frau R.(1953), Grundschullehrerin: "Lesen habe ich in der Schule gelernt, auch ziemlich schnell, noch während der ersten Klasse. Und von da an habe ich mir Bücher aus der Bücherei, die in unserer Schule untergebracht war, ausgeliehen. Die Bücherei war unterm Dach im Schulgebäude und da bin ich sehr gerne hingegangen. (...) Zu dieser Bücherei mußte man mehrere Treppen hochsteigen und dadurch hatte sie allein etwas Besonderes. Ich weiß auch noch, wie die Bücher angeordnet waren, mehr wie in einem Lager mit mehreren Gängen."

Obwohl die bis hier wiedergegebenen Zitate einhellig ein positives Bild der Angebote der Schulbibliotheken vermitteln, muß festgehalten werden, daß sie für die Mehrheit der Schüler der drei befragten Lesergenerationen nur eine untergeordnete Rolle in der Lesesozialisation spielten. Am häufigsten wurden sie von den ältesten Informanten erwähnt. Je jünger die Interviewpartner waren, desto seltener wußten sie überhaupt vom Vorhandensein einer Schulbücherei an ihrer Schule zu berichten.[23] )

4. Funktionen des Lesens

Nachdem ich in den vorigen Abschnitten die im Zuge des Lebenslaufs wechselnden Lesezeiten und die Realisation des Lesens in Alltag und Freizeit untersucht habe, soll im Folgenden erhellt werden, ob und wie sich die Funktionen des Lesens im Leben verändern, bzw. wovon eben dieser Wandel abhängig ist. Dazu gehören die eigene Beurteilung des Leseverhaltens ebenso, wie auch die Funktionen, denen das Lesen dienen soll. Erst durch die Darstellung derselben kann abschließend versucht werden, ein Bild von der Praxis des alltäglichen und freizeitgebundenen Lesens im Lebenslauf der Befragten zu zeichnen.

Einschätzung des eigenen Leseverhaltens

Die Informanten konnten - wie die Interviewaussagen zeigten - recht deutlich formulieren, welche äußeren und inneren Voraussetzungen für sie erfüllt sein müssen, um sich dem Inhalt eines Textes voll widmen zu können. Ebenso verfügen sie über ein klares Selbstbild ihrer eigenen Leserpersönlichkeit und Lesekapazität.

So empfinden sich die meisten meiner Informanten als rege bzw. regelmäßige und interessierte Leser. Die Beurteilung, ob man sich als intensiver oder eher passiver Leser einschätzt, ergibt sich dabei zum einen aus dem subjektiven Bild der eigenen Wahrnehmung und zum anderen aus der Beurteilung des Leseverhaltens durch Außenstehende. Es wird außerdem individuell geprägt durch die zur Verfügung stehenden, sich in der Regel auf das häusliche Umfeld beziehende Vergleichsmöglichkeiten. Das eigene "Leserbild" entsteht auch im Vergleich zum Leseverhalten des Lebenspartners. Je nachdem, ob dieser schneller, langsamer, mehr oder weniger las als der Befragte, wurde die Selbsteinschätzung relativiert. Jemand, der zunächst von sich sagte, daß er gerne und viel lese, räumte ein:

Beleg Herr R.(1960), Betriebsprüfer: "Ich bin ein langsamer Leser." Was heißt das, wenn du sagst 'ich bin ein langsamer Leser'? "Ich messe das an meiner Frau. Weil die sehr, sehr schnell liest. Wenn sie mit einem Roman anfängt, dann hat sie ihn unheimlich schnell ausgelesen, und ich lese da mindestens eine Woche länger dran."

In diesem Fall schätzt Herr R. seine Gattin, die im gleichen Zeitraum quantitativ mehr Lesestoff bewältigt als er, als qualifiziertere Leserin ein. Sein eigenes Leseverhalten relativiert er im Vergleich. Leser, wie Frau Sch. zeigen sich dagegen sehr selbstbewußt in der Einschätzung ihrer eigenen Leseintensität und -quantität. Im folgenden Beispiel ist das Lesen nicht zuletzt auch zweckdienlich, um im Bekanntenkreis mitreden zu können.

Beleg Frau Sch.(1958), beurlaubte Kriminalbeamtin: "Und ich kaufe mir dann auch, oder ich wünsche mir gezielt Bücher, die zu Kinofilmen sind. Weil ich nicht so oft ins Kino komme, da brauchen wir extra einen Babysitter und so weiter. So 'lese' ich die Filme und kann wenigstens mitreden. Das wußte ich auch schon immer ganz gut. Ich habe da ein gewisses Talent und habe es schon geschafft, Bücher halb zu lesen und dennoch dazu etwas schreiben und sagen zu können. Ich kann zum Beispiel auch über Fernsehserien, die ich noch nie gesehen habe, mitreden, wie Dallas, einfach weil ich in den Zeitschriften darüber gelesen habe. (...) Mein Mann liest diese Sachen dann auch, aber ansonsten ist er nicht so ein Leser wie ich." (lacht) Aber er akzeptiert Ihr Lesen? "Ja, er lacht da auch oft drüber und sagt: 'Bleib man sitzen, du bist ja doch erst wieder ansprechbar, wenn du das Buch durch hast', und dann bringt er die Kinder ins Bett. Er liest auch, aber eben viel langsamer als ich. Und er mag sich da auch nicht so reinversetzen wie ich. Er ist abends auch eher müde als ich und schläft ein. Ich habe da eine ganz andere Lesementalität: ich denke dann, noch eine Seite und noch eine Seite, auch wenn es spät wird."

Andere Befragte wiederum grenzen sich durch die Wahl ihres Lesestoffs bewußt vom Leseverhalten des Partners ab. In Anlehnung an das traditionelle Bild des bildungsorientierten Lesens bewerteten sie ihre eigene, eher sachbezogene Lektüre als hochwertiger.

Beleg Herr K.(1956), Polizeibeamter: "Ich möchte meinen Wissenshorizont ständig erweitern, und ich würde sagen, meine Frau liest eher Bücher, die der einfachen Ablenkung dienen. Also z.B. Simmel-Romane sage ich jetzt mal als Schlagwort."

Selbstverständlich sind es häufig auch einfach differierende Interessen und Intentionen, die unter lesefreudigen Partnern zur Auswahl unterschiedlicher Lesestoffe führen[24] ):

Beleg Herr B.(1950), Gewerbelehrer: "Also im Moment läuft es etwas auseinander, weil M. eher Frauenliteratur liest, die mich nicht so interessiert. Und Informatik, das ist so ein Fach, damit kann sie nichts anfangen und mit Schach eben auch nicht. Sie ist vom Temperament her eher der ausgleichende Part bei uns. Ich tippe ihr die Abituraufgaben und von daher kommen wir auch oft ins Gespräch."

Überschneidungen in den Lesevorlieben beider Partner ergaben sich auffallend oft bei der Lektüre populärer Buchtitel aus den Bestsellerlisten der letzten Jahre.[25] ) Da diese Bücher dann auch im Bekanntenkreis häufiger für Gesprächsstoff sorgen, haben beide ein Interesse an deren Lektüre.

Beleg Frau F.(1957), Krankenschwester: "Und meinem Mann habe ich zum Nikolaus den 'Medicus' geschenkt. (...) Da ist es jetzt so, daß er das Buch schon gelesen hat und ich noch nicht. Es hat ihm wegen des geschichtlichen Hintergrunds so gut gefallen. Weil er sich auch sehr für Geschichte interessiert. (...) Es war bisher selten, daß uns dieselben Bücher interessierten. Bei dem Medicus wäre es eigentlich das erste Mal, daß wir beide dasselbe Buch lesen."

Vielen Befragten genügt es, ein Buch, in dem sie gerade lasen, griffbereit liegen zu haben, um sich selbst als regelmäßige Leser einzustufen, unabhängig davon, wieviel Zeit sie für die Lektüre des kompletten Buches benötigen. Andere kommen mit dieser Art des Lesens überhaupt nicht zurecht, sie lesen lieber gar nicht als derart fragmentarisch. Die geübten Leser sind hier eindeutig im Vorteil, denn ihnen fällt es nicht so schwer, den Faden einer Handlung wieder aufzunehmen. Allerdings betonten auch sie, daß es wichtig sei, sich für ein umfassenderes Buch komplexen Inhalts Zeit nehmen zu können. Das persönliche Leseverhalten bestimmt nicht zuletzt auch, für welche Funktionen das Lesen gewählt wird, mit welchen Motivationen und wie häufig dies geschieht. Wer problemlos und rasch liest, findet eher und rascher den Zugang zur Information durch komplexe Texte oder den Einstieg in die Lektüre eines umfangreichen Buches zur Unterhaltung. Welche Funktionen dem Lesen im Lebenslauf bevorzugt zugewiesen werden, erörtere ich im folgenden Abschnitt.

4.1 Funktionen des Lesen: Unterhaltung und Entspannung

Die mir am häufigsten genannte Funktion des Lesens ist die Unterhaltung, unter der auch Entspannung und Ablenkung subsummiert werden. Nahezu alle Leser der drei Generationen äußerten den Wunsch nach Unterhaltung durch Lektüre. Darunter verstehen sie zum einen ein Versenken in fiktive Welten als Gegenpol zur Anspannung in Alltag, Familie und Beruf und zum anderen eine persönliche Bereicherung durch Neues, Interessantes, Fremdes und Spannendes.

Beleg Frau P.(1944), Pfarramtssekretärin: "Also zunächst (lese ich) natürlich zur Unterhaltung. Als erstes denke ich, liest man immer zur Unterhaltung, und es bereichert einen, indem man sich gut unterhält. Also, so sehe ich es. (...) Also inzwischen lege ich schlecht geschriebene Bücher dann einfach weg, weil sie mich langweilen und mich dann eben nicht gut unterhalten. Andere Bücher lese ich allein des Stils wegen. Also z.B. die Stories von Charles Dickens sind manchmal trivial oder manchmal sogar kitschig. Aber es ist alles einfach so wunderbar geschrieben und beschrieben. Typen werden aufgebaut in einem Stil, der einfach umwerfend ist. Und heute berufen sich doch auch viele moderne Autoren auf Dickens. Viele sagen doch 'Dickens hat mich inspiriert'. Das ist für mich ein Phänomen, und es bedeutet doch wohl auch zugleich, daß der Stil wirklich eine große Rolle spielt. Es ist nicht immer allein das Thema."

Diese Aussage verdeutlicht nicht nur die Individualität der Definition von Unterhaltung, die nicht an bestimmte Lesestoffe oder Literaturgattungen gebunden ist. Sie kann vielmehr sowohl durch spannende, gruselige, intellektuelle und anspruchsvolle als auch amüsante oder gefühl-volle Texte erreicht werden. Desweiteren verweist das letzte Zitat darauf, daß eine literarische Sprache von den Befragten der ersten Generation oftmals höher geschätzt wurde als die Handlung, die dabei durchaus triviale Züge tragen konnte. Zahlreiche ältere Befragte bevorzugen auch zur Unterhaltung literarische Klassiker, die sie gerne wiederholt lesen, wogegen sie mit einigen Lesestoffen ihrer Jugend mittlerweile völlig "gebrochen" haben, so wie Herr Z. im nächsten Beleg:

Beleg Herr Z.(1932), Kraftfahrzeugmechaniker/Gewerbelehrer: "(...) aber ich kann für mich sagen, ich fasse keinen einzigen Karl May wieder an, um ihn zu lesen, ich kann es nicht mehr. Ich habe sie damals gern gelesen, aber ich könnte sie heute nicht mehr lesen. Aber ich könnte immer wieder Novellen von Keller oder so lesen. Ja ich lese z.B. auch die Dorothy Sayers. Manche Bücher habe ich schon drei oder viermal gelesen. Einfach weil... ja, weil bestimmte Passagen witzig formuliert sind, weil die Sprache mich auch anspricht. Und das ist eben auch das, was ich bei Keller oder Raabe und einer ganzen Reihe von Büchern, die ich gerne immer mal wieder lese, empfinde. Ich weiß nicht, ob Sie das kennen, manchmal ist es, dann sagt man 'ach, ich möchte irgendetwas lesen', und dann greife ich, auch wenn ich etwas abgespannt bin, dann greife ich zu einem Buch, das ich kenne. Dann erinnere ich mich, das hast du damals gerne gelesen und das greife ich dann". So etwa das Gefühl, daß man weiß worauf man sich einläßt? "Ja. Und es stört auch nicht, daß man im Grunde genommen schon weiß, wie die Geschichte läuft, denn man achtet dann ja viel mehr auf Feinheiten der Sprache und der Komposition."

Für alle drei Generationen dienen als Lesestoffe zur Unterhaltung vorwiegend Romane, Erzählungen und Artikel in Zeitschriften. Die Leser von Romanen lassen sich von "ihren" Texten in andere Welten entführen. Sie sind vom Alltag abgelenkt, gruseln sich, werden in Spannung und Wut versetzt, durch tragische Schicksale zum Weinen gebracht, erleben fremde Kulturen oder geraten durch einen Psychothriller in Aufregung - Gefühle, die erst abebben, wenn sie das Buch bis zum Ende gelesen haben. Nach der Lektüre leben die Leser häufig noch für eine Weile in dieser Phantasiewelt, lassen das Geschehen Revue passieren oder "spinnen" die Ereignisse auf ihre Art weiter. Immer wieder ist es gerade der Schluß eines Romans, der die Leser unbefriedigt zurückläßt. Nur wenige allerdings "verderben" sich den Spaß durch die vorzeitige Lektüre des Finales. Und die, die es tun, sehen es nicht als "Spaßverderben" an, sondern als Mittel, um ruhiger, gelassener und aufmerksamer mit dem spannenden oder aufwühlenden Text umzugehen.

Beleg Frau N.(1957), Buchhändlerin: "Wenn ein Buch mich besonders fesselt, dann lese ich immer schneller und bekomme irgendwann die Feinheiten des Textes nicht mehr mit. Um die Handlung ruhig zu verfolgen, muß ich wissen, wie das Buch endet. Deshalb lese ich oft nach etwa zwei Dritteln die letzten zehn Seiten um mich zu beruhigen wie es ausgeht, damit ich dann vorne wieder aufmerksamer lesen kann und auch mitkriege, wie es dazu kam."

Weitgehend generationsübergreifend ist die Unterhaltung für einige der Befragten lebenslang das Hauptmotiv für ihr Lesen, oft allerdings wandelte sich im Laufe der Lesebiographien der literarische Qualitätsanspruch an die Texte. Hier steht dafür ein Beleg aus der dritten Generation.

Beleg Frau F.(1963), Architektin: Wenn Du zurückschaust, welche Funktion des Lesens war für Dich am wichtigsten? "Hmm.. Also damals habe ich vor allem Bücher gelesen, die ich unheimlich spannend fand, und die ich dann unbedingt zu Ende lesen wollte. Wo ich dann einfach solange gelesen hab' bis ich es durch hatte. Da hatte ich allerdings auch noch mehr Zeit als heute. (...) Da (während des Studiums) wurde es immer weniger und durch die Fachlektüre hatte ich da dann nicht mehr so viel Zeit. Also ich meine Zeit, um Literatur zu lesen. Das war eben viel Fachliteratur." Wenn Du dein heutiges Leseverhalten einschätzen sollst: hat sich da etwas geändert im Gegensatz zu früher? "Eigentlich nicht, außer daß ich mir jetzt halt genauer aussuche, was ich lese, also eine andere Qualität. Ich habe jetzt neben der Arbeit einfach weniger Zeit." Ist es denn jetzt auch immer noch hauptsächlich Unterhaltung? Es gibt ja auch das Lesen aus Freude an der Sprache? "Also Inzwischen ist es natürlich auch immer mehr Spaß an Sprache geworden, das entwickelte sich ja schon während der Schulzeit. Dadurch ist es natürlich auch immer schwieriger geworden, Texte zu finden, die einem gefallen. Die Zeit ist weniger geworden und damit natürlich auch einfach die Möglichkeit, sich auf Texte zu konzentrieren. Also ich meine, früher da habe ich dann vielleicht vier Stunden am Stück gelesen und jetzt ist es manchmal nur eine Stunde oder eine halbe und dann kann ich mich nicht so toll konzentrieren."

Auch Frau P. skizziert ihre gewandelten Ansprüche an die Lesestoffe in ähnlicher Weise:

Beleg Frau G.(1948), Grundschullehrerin: "Noch in meiner Ausbildung habe ich eigentlich alle Bücher, die ich angefangen hatte, zuende gelesen. Egal, was das für Schinken waren. Das mache ich heute nicht mehr. Dafür ist meine Zeit zu knapp. Wenn ich nach 20 oder 30 Seiten nicht drin bin, dann lege ich das Buch weg. Manchmal merke ich schon am Anfang, daß ich keine Lust mehr habe."

Frauen und Männer lesen gleichermaßen gerne Kriminalromane und Psychothriller und setzen dabei Unterhaltung oft auch synonym mit Spannung. Allerdings formulieren vor allem die Männer der zweiten und dritten Generationen einen ergänzenden Anspruch an die Unterhaltung, nämlich den der zusätzlichen und damit gleichzeitigen Vermittlung historischer oder politischer Hintergründe.

Beleg Herr K.(1950), Büromaschinenmechaniker: "Den Medicus habe ich gerne gelesen, und Musashi. So etwas mit historischem Hintergrund. Da muß man sich ja auch richtig rantrauen mit so einem Buch anzufangen. Das hätte ich früher gar nicht gemacht. Ein Buch mit 1.200 Seiten, das hätte ich sofort zur Seite gelegt. Und jetzt finde ich es ganz toll, was man da alles über die Kultur erfährt."

Diese Art zu Lesen als eine Mischung aus Unterhaltung und Information ist charakteristisch für die Männer unter meinen Informanten. Sie trennen dabei allerdings präzise zwischen fiktionalen Texten mit Sachbezug und reinen Sachbüchern, die naturgemäß allein der Information dienen sollen. Bei ihnen ist also durchaus von einem informativen Unterhaltungslesen zu sprechen, das sie Romane und Darstellungen bevorzugen läßt, in denen sie über historische Zusammenhänge, geographische Gegebenheiten oder politische Verflechtungen wie in Tatsachenromanen, populären Sachbüchern und Biographien informiert werden.

Beleg Herr A.(1944), Werkstattleiter: Was bevorzugen Sie beim Lesen? "Literatur, die sich mit geschichtlichem Hintergrund auseinandersetzt und so auch Wissen vermittelt. Reine Unterhaltungsliteratur ist mir eigentlich zuwenig. Ich versuche immer etwas in die Finger zu kriegen, was auch einen Bezug zur Realität hat. Dabei ist es mir ziemlich egal, ob es gebunden ist, oder ein Taschenbuch."

Ein solches Verlangen nach Tatsachen und realen Hintergründen formulierten die befragten Frauen nicht explizit, obwohl unter ihnen viele Familiensagen mit historischen Bezügen präferierten. Sie bevorzugen eindeutig sensible, romantische Unterhaltungsliteratur, die aber durchaus anspruchsvoll geschrieben sein soll.

Es sei hier aber noch darauf verwiesen, daß die männlichen Leser der ersten Generation als jüngere Erwachsene nahezu einhellig zur Unterhaltung zunächst literarische Klassiker favorisierten. Ich spreche weiter hinten, unter dem Abschnitt "Lesen zur Weiterbildung", diese Thematik noch einmal an.

4.2 Information

Als zweitwichtigste Funktion des Lesens geben die Interviewten aller drei Generationen übereinstimmend die der Information, Wissensaneignung und Horizonterweiterung an. Darunter subsumieren sie die Lektüre von Sachbüchern, Reiseliteratur, Informationsbroschüren und Fachzeitschriften für Hobbys (EDV, Segeln, Tauchen, Reiten, Angeln, Aquarien) die, wie oben bereits angesprochen, besonders von Männern oft erwähnt werden. Ihr Verständnis von "Wissensaneignung" umfaßt gleichermaßen die Informationen zum aktuellen Zeitgeschehen, den eigenen Hobbies und der Lektüre von historischen Darstellungen und Sachbüchern.

Beleg Herr B.(1950), Bankkaufmann/Gewerbelehrer: Das klang jetzt für mich so, als wenn Sie hauptsächlich aus informationsbezogenen Bedürfnissen heraus gelesen hätten? "Ja, ich habe eigentlich immer mit dem Gedanken Wissen zu bekommen, gelesen. Aber auch mit dem Ziel, dadurch beruflich weiterzukommen, mich beruflich und persönlich weiterzuentwickeln und zu qualifizieren. Dieser "Motor" war wohl ziemlich stark bei Ihnen? "Ja, ich denke schon. Sicherlich, das ist schon richtig. Teilweise habe ich auch viel astronomische Literatur gelesen, weil es mich interessierte, wo wir herkommen, wie das Weltall beschaffen und aufgebaut ist und so etwas. Gibt es vielleicht noch Leben woanders? Aber das war auch eine Phase. Ich habe auch mal Fernschach gespielt und dann eben auch Schachliteratur gelesen. Dann habe ich mich mal regelmäßig mit einem Freund zum Schachspielen getroffen, und dann haben wir Eröffnungstheorien diskutiert. Also teilweise auch etwas kopflastig. Ja das bin ich sicherlich, etwas kopflastig."

Für mehrere Informanten stellen außerdem umfassende Artikel in Tageszeitungen und Fachzeitschriften wichtige Quellen dar, um ihren Wissenshorizont zu erweitern. In Bezug auf Reiseliteratur, sowohl zur Vor- auch zur Nachbereitung ist das Interessse an Information bei beiden Geschlechtern gleich stark ausgeprägt. So stark das Leseverhalten als solches offenbar von der individuellen, generationsspezifisch geprägten Lesesozialisation bestimmt wird, so zeigten sich die Leseinteressen und Präferenzen als wesentlich von geschlechtsspezifischen Merkmalen beeinflußt.

Beim Lesen zur Information und zur beruflichen Weiterbildung verliert die Sprache zugunsten der Aktualität der Sachinformation an Bedeutung. Anders verhält es sich dagegen mit dem gezielten Lesen zur Weiterbildung, die der persönlichen Geistesbildung dienen soll.

4.3 Weiterbildung und Sprachbildung

Die Einschätzung des Buches als Kulturgut und als Medium zur Wissensaneignung wurde vor allem in der ersten Generation besonders hervorgehoben. Das Buch bleibt für diese Informanten auch im Zeitalter der modernen Medien ihr Medium. Sie betonten in den Gesprächen, wie wertvoll das Lesen für sie zur Weiterbildung gewesen sei - ein Phänomen, das sich unter den Aussagen der jüngeren Informanten nicht mehr findet. Die Befragten bemühten sich häufig im Anschluß an die Schulzeit, durch Lesen ihre Allgemeinbildung zu intensivieren, und nutzten auch in späteren Lebensphasen bevorzugt Bücher als Medien, um sich in Themengebiete sorgfältig und intensiv einzuarbeiten. Immer wieder wurde betont: "Ich habe aus Büchern mehr gelernt als in der Schule." (Frau F.,1933, Lehrerin). In einigen Fällen sollten durch das "Bildungslesen" vermeintliche Defizite aufgrund kurzer Schulbesuche ausgeglichen oder die Wissensbestände der Schulzeit ergänzt werden.

Beleg Herr K.(1934), Bäcker/Zollbeamter: "Ich bin ja von 1940 bis 1948 in die Schule gegegangen, und davon von November 1944 bis Mai 1946 ohne jegliche Schule, und wenn ich so ein bißchen einigermaßen Wissen habe, das habe ich eigentlich nur durch Bücher und durch das Lesen. Ich lese gerne Bücher mit Handlungen, die einen mit Ländern und fremden Gegenden vertraut machen. Ich lese auch gerne Geographisches, nicht immer nur Deutschland, auch weltweit. So habe ich also mein Allgemeinwissen, das ich neben der Schule gelernt habe, aus Büchern. In der Schule habe ich wirklich nur Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt."

Ein Hinweis auf die nach wie vor aktuelle Verbindung von Lesen und Belesenheit mit dem Stereotyp "Bildung" ergibt sich unter anderem im folgenden Zitat, in dem Herr P. betont, daß er der Auffassung war, als Vorgesetzter einfach besser und umfassender informiert sein zu müssen, als die ihm unterstellten Polizeibeamten.

Beleg Herr P.(1952), Polizeibeamter: "Berufsbedingt durch meine Ausbildung, ich hatte dann einen Posten als Vorgesetzter, in dem ich ja eben auch als Vorbild in der Personalführung gelten sollte. Da habe ich mir eine ganze Reihe von Büchern angeschafft. Wir waren auch im Bücherklub in der Zeit, bei Bertelsmann. Ich habe mich damals stark interessiert für Kurzgeschichten von Autoren wie Kafka und Böll und anderen. Wir haben uns in der Zeit Sachbücher angeschafft. Und ich habe auch sehr darauf geachtet, daß die Kinder das Lesen einmal positiver erfahren, als ich das hatte. Wir haben, ich habe, den Kindern dann auch schon sehr früh vorgelesen, einfach mit dem guten Glauben, auch wenn sie eigentlich zu klein sind, dann verstehen sie es ja vielleicht doch. Unsere eigene Bücherwelt ist dann auch nur sporadisch gewachsen."

Zugleich verweist dieser Beleg auf die stark bildungsorientierte Motivation mancher Befragter - vor allem der ersten und frühen zweiten Generation.[26] ) Als "Vorbild in der Personalführung" wollte Herr P. dieser Stellung vor allem durch Belesenheit und Buchbesitz angemessenen Ausdruck zu verschaffen. Er selbst las deshalb privat vor allem Kurzgeschichten und moderne Klassiker, um sich literarisch weiterzubilden, und weitete die Absicht, positives Beispiel zu sein auch auf seine Familie aus, indem er seinen Kindern vorlas und sich bemühte, ihnen durch Geschenke Bücher nahezubringen.[27] )

Das Lesen um Bildungslücken und -defizite auszugleichen, praktizierten einige Informanten über Jahre hinweg. Sie ersetzten ein derart funktionsorientiertes Lesen erst allmählich durch ein entspannteres Leseverhalten, indem sie häufiger Unterhaltungsliteratur lasen. Die im folgenden zitierte Informantin las zunächst auch mit der Hauptintention ihre Allgemeinbildung zu vervollständigen und fehlende Sprachkenntnisse auszugleichen. Nachdem sie glaubte, dies nicht mehr nötig zu haben, veränderte sich für sie die Funktion und damit auch das Einsatzspektrum ihres Lesens im Lebenslauf und sie begann aus Interesse und Freude an der Sprache zu lesen.

Beleg Frau Z.(1940), Weberin/Hausfrau: Können Sie sagen, ob das Lesen für Sie im Laufe der Jahre seine Funktion verändert hat? "Also doch, das hat sich verändert. Es war für mich früher ganz wichtig, ganz viel zu lesen, weil ich das Gefühl hatte, ich habe so ein Defizit durch die geringe Schulbildung, weil ich also nur geringe Fremdsprachenkenntnisse habe. Und ich habe dann also gedacht, wenn ich ganz viel lese, Geschichtliches, Biographien und so, daß man sich damit einfach Wissen aneignet; aus diesem Grunde habe ich ganz viel gelesen. Aber das Gefühl habe ich inzwischen nicht mehr. Ich habe jetzt nicht mehr das Gefühl, daß ich irgend jemand erzählen muß, daß ich kein Abitur gemacht habe."

Mit dem starken Bedürfnis der Wissensaneignung unter den Befragten der ersten Generation ist auch eine besondere Wertschätzung von Atlanten, Lexika und anderen Nachschlagewerken verbunden. Der Gebrauch dieser "Hilfsmittel" wurde in Familien mit buchfreundlicher Atmosphäre den aufwachsenden Kindern bereits früh vermittelt.

Beleg Frau F.(1933), Lehrerin: "Ich muß noch ergänzen, daß zur Erziehung zum rechten Umgang mit Büchern durch meinen Vater, auch der Umgang mit Lexika, Atlanten und anderen Nachschlagewerken gehörte. Es blieb in unserer Familie keine Frage eines Mitgliedes unbeantwortet. Konnte keiner Auskunft geben, wußte mein Vater, wo man nachsehen konnte."

Besonders wichtig als visualisierende und explizierende Medien sind Lexika, wenn es darum geht, den eigenen Kindern unbekannte Zusammenhänge zu erläutern.

Beleg Herr K.(1950), Büromaschinenmechaniker: "Das ist ja auch schon wichtig, daß man ein Lexikon hat. Wenn man was liest und was nicht versteht oder was nicht weiß, daß man dann Nachschlagen kann, und zu den Kindern sagt: 'Kommt, das schlagen wir jetzt mal nach.' Das fängt doch schon da an, daß man sagt, welcher Vogel ist das, oder wie heißt die Blume? Dann möchte man auch was darüber lesen, und wenn man nichts hat, wo man nachschlagen kann, dann scheitert man doch sofort im Ansatz. Und das fängt doch in der Schule an. Wenn es da früher hieß: 'Schau doch mal nach, was steht denn da über Afrika?' Ja, wo sollte ich denn da nachschauen? Das war dann das Problem. Wir haben ja inzwischen auch einige Nachschlagewerke und kaufen immer noch mal was dazu, weil es uns einfach wichtig ist."

Das sich oben widerspiegelnde Verständnis einer "Wissenslückenprophylaxe" durch den Besitz entsprechender Nachschlagewerke taucht immer wieder in den Aussagen von Informanten auf, die aus wenig buchfreundlichen Familien stammten. Befragte, die sich als Kinder dafür schämten, etwas nicht zu wissen oder keine Möglichkeit der Information nutzen zu können, wollten ihren eigenen Kindern eine derartige Bloßstellung durch entsprechende Vorsorge in Form von Informationsquellen ersparen.

Beleg Herr F.(1946), Tontechniker/Hausmann: "Wir haben von Bertelsmann die 24-bändige Enzyklopädie angeschafft, und dann haben wir ganz gezielt, als beide Kinder aufs Gymnasium wechselten, auch noch auf 'Brockhaus' umgewechselt und haben, bis auf die Rechtschreib-Bände, doch alle Bände von Brockhaus gekauft. Und die Kinder, Andre etwas mehr, die nutzen das auch. Allerdings gebe ich da auch immer wieder Anstöße, wenn wir in der Familienrunde sitzen und über etwas sprechen und nicht mehr weiter wissen, dann rege ich an, im 'Brockhaus' nachzusehen. Und ich habe auch den Eindruck, daß die Kinder diese Möglichkeit, etwas genau nachzulesen, auch recht gerne nutzen."

Aus ähnlichen Intentionen heraus investierte nicht nur Familie F. in eine Enzyklopädie und ein "Brockhaus"- Lexikon. Mit Hilfe von Lexika oder anderen Nachschlagewerken, wie dem Duden oder einem Fremdwörter-lexikon wird beabsichtigt, akute Wissensdefizite und Wissensbedürfnisse der Familienmitglieder zu kompensieren. Zugleich sollen Kinder und Jugendliche auf diese Weise in den Gebrauch eingeführt und mit den Informationsmöglichkeiten von Nachschlagewerken vertraut gemacht werden.

Beleg Herr A.(1944), Werkstattleiter: Sie schätzen Sachbücher, vermitteln Sie das auch an den Kindern? "Ja, unbedingt, es ist bei uns auch nichts ungewöhnliches, daß die 15jährige und der 11jährige in den Lexika blättern und konkret nachschlagen. Wir haben ihnen natürlich erklärt, wie man damit umgeht. Wie hoffen, daß die beiden Kleinen einmal genauso lesefreudig werden. Ich lese, zum Beispiel auch gerne im 'Fischer Weltalmanach' nach, obwohl das sehr statistisch ist. Das macht mir auch Spaß. (...) Lesen ist für mich auch immer mit positiven Erinnerungen verbunden, weil es mir geholfen hat, mich zu orientieren und dazu zu lernen. Das hätte mir sonst halt gefehlt."

Eigene Lexika, der Brockhaus oder andere Nachschlagewerke gewährleisten dem Besitzer ein persönliches Stück Autarkie in puncto "Wissen". Wer etwas recherchieren möchte, kann zunächst selbst nachschlagen und braucht sich nicht durch Unwissenheit oder ungeschicktes Nachfragen in der Öffentlichkeit oder vor Freunden zu "blamieren". Zugleich verweist diese Tatsache darauf, daß nach wie vor ein Vertrauen in die positive Kraft von Wissen besteht. Informanten, denen der Umgang mit Lexika und Atlanten seit der Kindheit vertraut ist, sehen diese als potentiell verfügbares Wissen an, auf das bei Bedarf zurückgegriffen wird.

Vor allem in der ersten und zweiten Generation spielen Einsatz und Nutzung von Büchern zur besseren Kenntnis von Sachzusammenhängen eine wichtige Rolle. Die Befragten der dritten Generation nutzen diese zwar zu denselben Zwecken, betonen aber die Existenz derartiger Bücher im eigenen Bestand nicht extra. Jederzeit verfügbare Information ist für sie selbstverständlich geworden. Zu ergänzen ist, daß sie in der Regel auch zu denjenigen gehören, die mittlerweile die Möglichkeiten der CD-ROM Editionen in ihre Informationsabsichten einbeziehen.

Lesen zur Sprachbildung

Obwohl die Befragten der ersten und zweiten Generation heterogene Bedingungen in der Lesesozialisation erfuhren, ist ihr Verständnis der geistigen Horizontserweiterung durch das Lesen weitgehend deckungsgleich. Zahlreiche Texte sind für sie einfach um ihrer literarischen Qualität willen lesenswert und gelten für manche auch als prägend für das eigene Sprachgefühl. Die Informanten dieser Lesergenerationen lasen Texte und Bücher, die ihnen etwas bedeuten und ihnen wichtig sind, durchaus wiederholt und kauften sich bereits in jungen Jahren gezielt literarische Klassiker. Dies geschah in Einzelfällen auch aus der Intention heraus, über die Literatur das eigene Ausdrucksvermögen zu korrigieren, zu verbessern und das Feingefühl für Qualität und Einsatzvarianten von Sprache zu schulen.

Insbesonders Frau L. bemühte sich, ihre umgangssprachliche Ausdrucksweise durch gezielte Lektüre zu verbessern. Dieses versuchte sie über das laute Lesen von Texten Thomas Mann's, um in der Schule eloquent an Diskussionen teilnehmen zu können. Nicht zuletzt hoffte sie auch, ihren fränkischen Dialekt so ablegen zu können.

Beleg Frau L.(1950), ausgeb. Gymnasiallehrern/Yogalehrerin: "Und da merkte ich eben, daß für mich das laute Lesen bester Literatur - wie ich das damals sah - doch sehr hilfreich war. Ich bin ja mit Dialekt groß geworden und habe ganz lange Dialekt geredet, und zu Hause, da hatten wir auch nicht gerade das, was man den elaborierten Code nennt. Und als ich dann in der Schule war, am Gymnasium und Oberstufe war, und man anfing sich in Diskussionen ganz stark über Sprache zu definieren, da merkte ich, daß das doch zum großen Teil ein Handicap ist. Also eben Dialekt zu sprechen einerseits und andererseits eine stringente Logik in der Sprache nicht durchhalten zu können. Und da habe ich ganz strikt geübt. Das weiß ich noch, ich war so 15 oder 16 und fing an, meine Sprache ganz lange und intensiv zu trainieren. Und zwar in der Form, daß ich dann immer laut gelesen habe. Eben Thomas Mann und ähnliche Schreiber der deutschen Sprache, von denen ich dachte, die haben so ein ähnliches Vermögen im Ausdruck. Die habe ich dann systematisch laut gelesen um mein eigenes Sprachvermögen zu trainieren. Das hat, glaube ich, auch einiges gebracht. Ich war dann in Diskussionen eine Zeitlang unschlagbar: Logisch und auch so sprachlich ganz vertraut".[28] )

In diesem Beispiel wird ferner auch deutlich, wie sehr die Angehörigen der ersten und die älteren der zweiten Generation noch das Stereotyp des "belesenen" gleich gebildeten Bürgers verinnerlicht haben. Ein Verständnis von Bildung, wie es sich auch im folgenden Zitat noch widerspiegelt, wurde von den Jüngeren der zweiten und den Angehörigen der dritten Generation nicht mehr vertreten. Ihr Mediennutzungsverhalten ist bereits von der allgemeinen Medienvielfalt geprägt, und sie setzen in ihrer Selbsteinschätzung Bildung nicht mehr unbedingt mit Belesenheit gleich.[29] )

Beleg Frau Z.(1942), Weberin/Hausfrau: "(...) Ich merke dann nur immer wieder, daß es doch einige Leute gibt (...) Ich habe z.B eine Ausstellung gehabt, und da habe ich mit einer Töpferin zusammen ausgestellt. Und die erzählte mir nun also, daß sie in einem Schweizer Pensionat groß geworden wäre, und sie bedauerte das nun, daß sie nicht so wie ich in Norddeutschland groß geworden wäre und fließend Englisch könnte. Und sie hat mich gar nicht gefragt, ob ich das gelernt hätte. Sie könne eben dafür Französisch fließend, und wir wären doch verwandte Seelen. Und da habe ich auch nur gedacht: Na, ja, was würdest du wohl sagen, wenn du wüßtest, daß ich nur die Hauptschule besucht habe. Das passiert aber immer wieder und das sind so typische Erlebnisse, die man bis ins hohe Alter haben wird. So daß ich zu meinen Kindern gesagt habe: Kinder, diesen Schein (das Abitur, Anm. Interviewerin) macht Ihr - egal wie, damit Ihr Euch solchen Quatsch später nicht anhören müßt."

Das bereits erwähnte und immer wieder betonte Bedürfnis der Eltern, den eigenen Kindern negative Erfahrungen und Stigmatisierungen zu ersparen und ihnen zugleich bessere Startchancen zu ermöglichen, spiegelt sich auch im obigen Beleg deutlich wieder. Fast alle Eltern unter den Befragten äußerten die Auffassung, daß der Umgang mit Büchern und das intensive Lesen von Büchern für Kinder allein um der Sprachschulung, Interpunktion und Orthographie willen bedeutsam sei. So fand z.B. Frau K. es wichtig, daß ihre Tochter Bücher in "richtigem Deutsch" lese, weil eine fragmentarische Sprache oder nachgeahmte milieuspezifische Sprachgebilde ihre elfjährige Tochter irritierten.

Beleg Frau K.(1958), ehem. Fremdsprachensekretärin: "Meine Tochter stört es zum Beispiel, wenn in einem Buch kein korrektes Deutsch gesprochen wird. Es gibt ja so Bücher, in denen manchmal Kinder auftauchen, die kein richtiges Deutsch sprechen. Und das mag sie gar nicht, auch wenn es bewußt gemacht ist. (...) Wir haben da zwei Bücher, in denen ist es offensichtlich ganz bewußt falsch gemacht. Ich weiß nicht, was sie damit erreichen wollen."

Die jüngeren Vertreter der zweiten und die der dritten Generation sehen in der Beschäftigung mit Büchern primär eine Variante der Freizeitgestaltung und eher als Nebeneffekt die Möglichkeit der Förderung des Sprachempfindens ihrer Kinder. Ob das "richtige Deutsch" als häufig formuliertes Fernziel in den Leseförderungsbemühungen von Eltern wirklich über das Lesen von Kinder- und Jugendliteratur erreicht werden kann, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Tatsache ist aber, daß erzwungenes Lesen oder die Vermittlungsbemühungen anhand ungeeigneter Texte viel häufiger als negative Erfahrung geschildert wurden, als daß man sie retrospektiv im Sinne einer erzieherischen Maßnahme positiv beurteilte.

Beleg Frau B.(1953), Gesamtschullehrerin: "Und ich fühlte mich durch solche Sachen wie Struwwelpeter, der mir ja auch vorgelesen wurde, da fühlte ich mich auch oft dann so ermahnt. Eben moralisch ermahnt. so oft habe ich das Empfinden gehabt "Warum lesen sie mir das vor, ich mache doch eigentlich nichts verkehrt. Viele Bücher waren eben so moralisch und darum haben sie mich nicht angesprochen. Und dann eben die Bücher in Versen, die haben mich überhaupt nicht angesprochen. Aber ich denke heute, es waren wohl die falschen Bücher, denn wenn ich mir vorstelle, solche Bücher wie Bullerbü, das hätte mir auch schon damals gefallen, die gab es doch damals schon?".

Die Hauptfunktionen des Lesens, Unterhaltung und Information bzw. Wissenserwerb, lassen sich als primäre Intentionen des Lesens im gesamten Lebenslauf der Befragten aufspüren. Deutlich wurden Veränderungen der Intensität der einen oder anderen Nutzung des Lesens und in einzelnen Lebenslaufphasen. In der Kindheit und Jugend überwiegt bei allen Informanten eindeutig das Lesen zu Unterhaltungszwecken und zur Ablenkung zumindest außerhalb der Schule.[30] )

Mit dem Eintritt in das Berufsleben nahm die Mehrheit der Befragten eine Veränderung ihres Leseverhaltens und vor allem ihres Lesequantums zu Unterhaltungszwecken wahr. Während der Ausbildungsjahre überwog häufig das informelle Lesen zur Wissensaufnahme. In Ausnahmefällen boten gerade die Umstände der Ausbildung freie Zeitkontingente für das Lesen und ermöglichten es so das unbeschwerte Lesen der Kindheit fortzusetzen.

Den gravierendsten Einschnitt vor allem für die Mütter unter den Informanten stellte die Familiengründung mit einem oder mehreren Kindern dar. Diese Einschränkungen waren generationsübergreifend zu verzeichnen. Die Befragten unterschieden in den Gesprächen selbst deutlich zwischen dem reinen Lesen zur Ablenkung und einem informierenden Lesen, um sich weiterzubilden oder Sachkenntnisse zu einem fest umrissenen Thema anzueignen. Das informierende Lesen wurde auch in Lebensphasen mit eingeschränkten Zeitbudgets vorgezogen, besonders wenn es sich um berufsorientierte oder auf Lebenshilfe bezogene Fragen und Probleme handelte. Anders verhält es sich mit der Lektüre eines ganzen Buches zu einem Sachthema oder für das eigene Hobby. Lediglich Zeitschriftenaufsätze werden noch aktuell rezipiert, oft gleich dann, wenn das Exemplar der Zeitschrift gerade neu erschienen ist.

Als die am meisten geschätzten Lesezeiten, die der Funktion der Unterhaltung im weitesten Sinne gewidmet sind, kristallisierten sich eindeutig die Abende, das Wochenende und der Urlaub heraus, und zwar bei allen Generationen und beiden Geschlechtern.

In Lebensphasen, die von sehr eingeschränkten Zeitbudgets geprägt sind, wird zunächst das unterhaltende Lesen von Büchern reduziert.

In deutlichem Gegensatz zum Unterhaltungs- und Informationslesen steht die von literarischen Interessen geprägte Lektüre anspruchsvoller Prosatexte. Lesezeiten hierfür unterliegen festen Qualitätsansprüchen und sind in der Freizeit und im Alltag, auch bei habitualisierten Lesern, ziemlich rar. Analog hierzu sind die Kontingente für das unterhaltende Lesen bei sporadischen oder Wenig-Lesern noch geringer. Passionierten und schnellen Lesern gelingt es in der Regel immer wieder Nischen zum Lesen aufzuspüren und auch kleinere Zeiteinheiten zu nutzen. Sie gaben auch am seltensten an, mit dem Lesen festen Zeitvorgaben zu folgen, sondern lasen Texte aller Art, deren Auswahl sie der jeweiligen Qualität und deren Quantum sie der verfügbaren Lesezeit anpaßten. Alle Leser, die im Beruf oder in der Familie zum Zeitpunkt des Interviews stark belastet waren, wünschten sich mehr Ruhe, Zeit und Freude am Lesen. Andererseits wurde bei den nachträglichen zweiten Befragungen einiger Rentner, die diese Option für ihren Ruhestand formuliert hatten, deutlich, daß die Konkretisierung dieser Vorsätze oft schwierig ist und sich nicht ohne weiteres vollziehen läßt. Denn auch das gewohnheitsmäßige, längere kontinuierliche Lesen, vor allem auch komplexer Texte muß wieder regelrecht trainiert und habitualisiert werden.

Den Aussagen nach verändern sich im Lebenslauf weniger die grundsätzlichen Funktionen, für die das Lesen für die Rezipienten zweckdienlich ist, sondern die Zeiten ihres Einsatzes variieren je nach Lebenssituation. Die passionierten Leser, die grundsätzlich der Auffassung sind, ihre Lesegewohnheiten bis zum Zeitpunkt der Befragung kontinuierlich verfolgt zu haben, mußten letztendlich doch einräumen, daß zwar ihre Begeisterung für das Lesen bestimmter Texte grundsätzlich erhalten geblieben ist, sie aber das Quantum ihrer Lektüre reduzieren mußten.Je jünger die Befragten sind, desto weniger bedeutendsam ist für sie die potentielle Möglichkeit der Bildung oder das Aneignen eines Literaturkanons über das Lesen. Sie nutzen alle Medien sehr intensiv und informieren sich teilweise auch in anderen Systemen, wie dem Internet.

Fest verbunden mit den Phasen der schier unbegrenzten Lesemöglichkeiten in der Kindheit sind die Erinnerungen an das Lesen im Bett und die damit häufig verknüpften Verbote bis spät abends zu lesen. Eine Thematik, die im folgenden angesprochen wird.

4.4 Heimliches Lesen und verbotene Lektüren

Eine Art generationsübergreifendes Ritual der intensiven Kindheits- und Jugendlesephasen ist das - nahezu obligatorische - "heimliche" Lesen abends im Bett, das zum Teil auch mit einer Taschenlampe zelebriert wurde. Fast alle Informanten berichteten davon, daß sie als Kind und Jugendlicher immer wieder abends länger als erlaubt lasen:

Beleg Frau K.(1935), Schmuckverkäuferin: "Wir hatten zu Hause ein Gebot, wann man das Licht ausmachen soll, und ich habe dann öfter mit der Taschenlampe unterm Federbett gelegen und habe dann weitergelesen. Und unsere Mutter, die hat gezetert."

Diese Heimlichtuerei war nicht etwa deshalb nötig, weil das Lesen von den Eltern grundsätzlich verboten wurde, sondern weil das Licht gelöscht werden sollte, um genügend Stunden zu schlafen. Wer noch länger lesen wollte, mußte dies also heimlich unter der Bettdecke tun. Zudem handelte es sich um eine gemütliche, Geborgenheit vermittelnde Situation, in der es sich besonders gut spannende und gruselige Bücher lesen ließ.

Beleg Herr B.(1970), Redakteur/kaufmännischer Angestellter: "Ich habe auch oft scheltende und strafende Ermahnungen bekommen, weil ich abends so lange mit der Taschenlampe unter der Decke gelesen habe. Also, das war absolut mein Liebstes."

Keiner der Befragten hatte ernsthaft Angst vor der Entdeckung, denn derartige "Vergehen" im Zusammenhang mit der "Kulturtätigkeit" Lesen wurden nicht sehr nachhaltig sanktioniert. Meistens war das jeweilige Buch so spannend, "daß man es einfach nicht aus der Hand legen mochte" und das Risiko des Ertapptwerdens in Kauf nahm.

Beleg Herr Z.(1932), Kraftfahrzeugmechaniker/Gewerbelehrer: "Also mit der Taschenlampe weiß ich nicht. Aber es kam schon vor, daß die Eltern immer wieder reingekommen sind und gesagt haben 'Jetzt ist aber Schluß, mach das Licht aus.' Also gelesen habe ich viel und dann auch nachts. Und später kann ich mich erinnern, daß ich die ganze Nacht durchgelesen habe und dann morgens aufgestanden bin und zur Schule ging, weil irgend etwas besonders spannend war. Morgens ging es dann mit der Müdigkeit, die kam erst später."

Völlig unabhängig von der Zugehörigkeit zu Geschlecht oder Generation legte man in der Regel die entsprechenden Verbote permissiv aus, und sah in der Übertretung derselben eher eine Verlockung zum nächtlichen Lesen. Das verborgene Lesen im Bett kommt einem Ritual in der Kindheit und Jugend gleich, das für das erwachsene Lesealter seine Bedeutung verliert, da es von den Begrenzungen der Lesezeit durch die Eltern genährt wird.

Verbote im Zusammenhang mit dem Lesen betrafen nicht nur das "Wann" und "Wielange" sondern auch das "Was", die Lesestoffe. Immer wieder kam das Gespräch auf verbotene Autoren, Bücher, Heftromane, Zeitschriften und in Ausnahmefällen auch auf Comics.

Wie beim nächtlichen Lesen wurde auch nur in Ausnahmefällen das Verbot einzelner Lesestoffe oder Lektüregattungen so ernst genommen, daß die Kinder und Jugendlichen sich verbindlich an sie gebunden fühlten. In einigen Fällen las man die Texte mit einem "leicht schlechten Gewissen". Es handelt sich bei den sozusagen zensierten Lektüren um Bücher von Autoren, die von den Eltern als zu freizügig (Wedekind, Schnitzler, Miller) oder grausam und brutal (Krimis) sowie einfach als ungeeignet für das jeweilige Alter eingestuft wurden.

Beleg Frau F.(1949), Abteilungsleiterin: "Ich habe mich an die Verbote, die meine Mutter ausgesprochen hatte eigentlich immer gehalten - und das waren nicht wenige Verbote. Ich habe, obwohl ich das nicht durfte, gelegentlich bei Freundinnen Micky Mouse Hefte gelesen. Aber das auch immer mit schlechtem Gewissen und nicht sehr oft."

Da sie Lektüren wie die Bücher Henry Millers für nicht jugendgeeignet ansah und deshalb ihrer Tochter nicht gestattete, bewahrte Frau F.'s. Mutter diese in einem verschlossenen Schrank auf. Auf ihre Tochter, genauso wie auf andere Befragte, übten gerade derart indizierte Lesestoffe einen starken Reiz aus. Als Konsequenz erwarb z.B. Frau F. als Erwachsene schließlich die oben erwähnten Bücher Henry Millers und las sie alle.

Beleg Frau F., (wie oben): "Und außerdem habe ich mir die Bücher gekauft, die ich vorher nicht lesen durfte. So habe ich mir alle Bücher von Henry Miller gekauft. Das war Literatur, die zu Hause verboten war, die ich aber später doch noch alle gelesen habe."

Wenige Befragte mußten sich heimlich Zugang zu den elterlichen Bücherschränken verschaffen. Ansonsten wurden die Verbote offensichtlich von den meisten Eltern ausgesprochen, um ihrem Mißfallen zumindest prophylaktisch Ausdruck zu verleihen, und so ihrer Aufsichts- bzw. Hinweispflicht genüge zu tun. Sie ließen den Kindern und Jugendlichen aber grundsätzlich die freie Wahl der Lesestoffe. Manche Texte rezipierte man wiederum deswegen in aller Stille, weil es den jugendlichen Lesern peinlich war, in eine solche Lektüre versunken angetroffen zu werden:

Beleg Frau L.(1930), Schneiderin/Hausfrau: "Ja, ich habe mit einer Taschenlampe heimlich unter der Bettdecke gelesen. Und später das 'Decamerone' meines Vaters, als die Scheiben im Bücherschrank nicht mehr existierten. Wedekind zum Beispiel auch. Mir waren eigentlich keine bestimmten Sachen, außer den oben erwähnten, verboten. Wenn ich etwas heimlich las, dann weil ich mich genierte, mein Interesse zu zeigen."

Zu den "unter der Hand" gelesenen Textgenres gehörte auch die in der Familie befindliche "Aufklärungsliteratur". Einige Eltern der Befragten der ersten und zweiten Generation besaßen Lexika mit anatomischen Zeichnungen, die meistens versteckt zwischen den anderen Büchern oder im verschlossenen Bücherschrank aufbewahrt wurden:

Beleg Frau E.(1954), Sozialpädagogin: "Wir hatten zum einen Regale und zum anderen einen richtigen Bücherschrank mit diesen Glasschiebetüren, die durften wir auch aufmachen. Es gab dann auch so einen Teil mit einem Schlüssel zum Abschließen. Da war so einiges drin, wo wir nicht dran sollten. Da waren unter anderem so Gesundheitsbände drin. Da hatte meine Mutter, so ein dicker Wälzer mit ausklappbaren Schautafeln. Da sollten wir Kinder wohl nicht ran. Das war wohl etwas, das sie für Kinder als nicht geeignet hielt. Aber ansonsten kann ich mich nicht an weitere Bücher erinnern, von denen es hieß, wir dürfen da nicht ran."

Auch wenn das Ansehen und Lesen solcher Werke nicht vordergründig verboten wurde, standen die entsprechenden Bände doch separiert und abseits vom allgemeinen Buchbestand. Nicht zuletzt sollten sie auf diese Weise sicherlich auch vor neugierigen Besucherblicken versteckt werden.

Beleg Frau B.(1950), Gesamtschullehrerin: "Was mich auch interessiert hat, das war ein Buch über die 'Sexuelle Entwicklung der Frau und des Mannes'. Und das stand bei meinem Vater im Zimmer. Das habe ich dann immer mal wieder heimlich rausgeholt, es war nicht direkt verboten, aber ich habe es doch heimlich gelesen."

Angesehen wurden die jeweils vorhandenen Aufklärungswerke in jedem Fall; und die meisten Befragten äußerten die Auffassung, daß dieses vermeintlich heimliche Betrachten auch die uneingestandene Zustimmung der Eltern fand, weil diese hofften sich dadurch einen Teil der - ihnen nicht selten selbst peinlichen - Aufklärung sparen zu können.

Beleg Herr B.(1950), Bankkaufmann/Gewerbelehrer: (...) "Verboten war dann eher mal so Aufklärungsliteratur die dann im Schrank stand. Also so was hatten meine Eltern. Ich erinnere mich da an 'Die Frau als Hausärztin'. Da waren dann die primären Geschlechtsorgane abgebildet, und dann waren Seiten zum ausklappen und man konnte sehen, wie der Mensch von innen aussah." War das offiziell verboten? "Ja, das wurde uns zumindest nicht angeboten. Da haben wir eher klammheimlich reingesehen. Meine Eltern haben uns nicht darauf hingewiesen. Sie hatten es ziemlich weit hinten im Schrank versteckt, so daß wir nicht drüber stolperten. Ich habe es jedenfalls heimlich gelesen."

Lediglich Herrn G.'s Mutter, eine Ärztin, gestattete ihren Söhnen ganz pragmatisch die Einsicht in ihre anatomischen und medizinischen Fachbücher. Für die anderen ersetzten die Ratgeber-Bücher häufig eine direkte Kommunikation über das Thema Sexualität und boten ihnen so eine Form von Information und Lebenshilfe.[31] )

Auch der Kauf und die Lektüre der Jugendzeitung "Bravo" gaben immer wieder Anlaß zu Verboten von seiten der Eltern[32] ), die sich nicht immer darüber im Klaren waren, daß die Aufklärungsseiten in Zeitschriften, wie der "Bravo" oder der "Neuen Revue", für viele pubertierende Teenager die einzigen Foren darstellten, in denen offen auf ihre Fragen im Zusammenhang mit ihrer erwachenden Sexualität eingegangen wurde.[33] ) Die Eltern scheuten häufig Gespräche zum Thema Aufklärung oder verklausulierten die Inhalte dergestalt, daß die Jugendlichen sich um zusätzliche Informationen bemühten:

Beleg Frau N. (1957) Buchhändlerin: "Also ich glaube, das war meiner Mutter nie klar, daß sie mich gar nicht richtig aufgeklärt haben. da wurde immer so drum rum geredet. Irgendwann war dann mal in der 'Für Sie' so eine Beilage zur Aufklärung, die legte meine Mutter mir hin. Und erst als ich die mit einer Freundin zusammen gelesen hatte, da hatte ich eine Vorstellung davon was da eigentlich passiert"

Beleg Herr K.(1950), Büromaschinenmechaniker : "Also die Aufklärungsteile (in der Bravo) waren zu meiner Zeit tatsächlich bedeutsam. Vor allem auch in der 'Neuen Revue', der Oswald Kolle. Nein, kein Buch sonst hatte so eine Bedeutung."

Gerade dieser Teil der "Bravo" - in den Anfängen als separat zu entnehmende Seiten - rief unter den Eltern und Lehrern auch immer wieder Kritik und Besorgnis, bei den jugendlichen Leser aber großes Interesse hervor.[34] ) Als neues Medium für die Jugendlichen fand die "Bravo" rasch Verbreitung, denn sie bot ihnen erstmalig ein eigenes Forum mit Themen aus den Bereichen Musik, Mode und später auch zur Sexualität. Das dort publizierte Bild des Teenagers entsprach allerdings durchaus den bürgerlichen Vorstellungen, denn "Bravo" wollte die Heranwachsenden nicht zur Rebellion auffordern. Dennoch half diese Zeitschrift dem Modemarkt für Jugendliche neue, eigene Trends zu entwickeln und zu stabilisieren. Die Modebranche begann dementsprechend in den 50er und 60er Jahren extra Modelinien für Jugendliche zu kreieren.[35] )

Für die von mir befragten Angehörigen der ersten Lesergeneration, die beim Erscheinen der "Bravo" bereits über das Teenageralter hinaus waren, besaß die Zeitschrift allerdings noch keine große Relevanz. Auch die Befragten der zweiten Generation sahen in den redaktionellen Beiträgen nicht unbedingt ihre Interessen vertreten und erwähnten die "Bravo" eher selten. Für sie war die Lektüre dieser Zeitschrift primär im Zusammenhang mit Informationen über Popstars interessant. Nicht nur den Eltern blieb die Zeitschrift aber dennoch lange Zeit als "schlechte Lektüre" suspekt, auch Lehrer und Großeltern empfanden die Inhalte wenig pädagogisch und eher unpassend:

Beleg Frau J.(1959), Gymnastiklehrerin/Bewegungstherapeutin: "Ich habe natürlich als Jugendliche die Bravo verschlungen. Die bekamen wir dann immer von meiner Oma. Da waren dann aber immer die blauen eingelegten Seiten der Aufklärungsserie säuberlich rausgetrennt. Die haben wir dann irgendwann mal alle auf einem Haufen auf dem Schrank meiner Oma gefunden."

Beleg Frau E. (1954), Sozialpädagogin: "Die Bravo, das war eben so eine Sache, 'das sollte man nicht lesen'. Das haben wir dann mehr unter Freundinnen gelesen. Ich war ja Fahrschülerin und habe lange Zeit in der Schule und beim Fahren mit meinen Freundinnen verbracht. Und dann hat man das dann da gelesen, und wenn man eine hatte, dann hat man die versteckt."

Die Problematik eines Verbotes der "Bravo"-Lektüre stellte sich den Jugendlichen in zahlreichen Familien allein dadurch nicht, daß die Befragten gar kein Geld für den Kauf der Zeitschrift erübrigen konnten.

Beleg Frau Sch.(1958), Pharmazeutisch-Technische Assistentin: "Jugendzeitschriften habe ich eigentlich nur bei meiner Freundin gelesen, zu Hause gab es so etwas nicht, Geld mir etwas zu kaufen, hatte ich nicht."

Einige Frauen gaben an, sich die "Bravo" mit einer Freundin geteilt oder sie vor der Schule abwechselnd gekauft und zu mehreren gelesen zu haben:

Beleg Frau M.(1959), ausgeb. Gymnasiallehrerin/Hausfrau: "Ja das war in der Klasse. Da wurde immer eine 'Bravo' von allen gelesen. Das ging dann reihum oder es hingen alle am Tisch über einer Zeitung. Das war mal eine Zeitlang mit ein paar Freundinnen, daß wir die zusammen gekauft und dann zusammen gelesen haben. Und ich hatte auch mal eine für mich alleine, da war ich mal irgendwie krank."

Im letzten Zitat wird deutlich, daß das Lesen solcher Zeitschriften etwas Geselliges und Verbindendes beinhaltete, was man am ehesten im Freundinnenkreis suchte und fand. Zugleich wird im Zusammenhang mit dieser Lektüre betont, daß es sich beim Lesen derartiger Publikationen um eine abgeschlossene Lesephase im Lebenslauf handelt.[36] )

Zum Abschluß dieser Thematik sei noch einmal darauf verwiesen, daß das regelmäßige Lesen von Kinder- und Jugendzeitschriften wie "Bravo", "Micky Mouse" und "Asterix" oder der Besitz eines eigenen Exemplars der "Bravo" oft auch noch für die Informanten der zweiten Generation eine Ausnahme darstellte. Diese Lesestoffe internalisierten bei einigen Lesern bereits als Kind oder Jugendlicher das habitualisierte "Fortsetzungslesen", welches als eine Voraussetzung für den späteren regelmäßigen Kauf oder das Abonnieren von Zeitschriften anzusehen ist.

5. Einfluß des Fernsehens auf das Leseverhalten

Meine Informanten aus allen drei Leser-Generationen erinnerten sich zum einen an lange und intensive Lesephasen, räumten aber zugleich auch Veränderungen ihres Leseverhaltens ein, die sie einerseits mit ihren jeweiligen Lebenssituationen, andererseits mit der verstärkten Nutzung anderer Medien, wie dem Fernsehen, in Zusammenhang bringen.

So ist das Buch, das neben der Tageszeitung für die älteren Befragten lange Zeit das Hauptmedium für Information und Unterhaltung darstellte, für die jüngeren Lesergenerationen zwar weiterhin von großer Bedeutung, die gesamten Printmedien aber werden von ihnen insgesamt weniger intensiv genutzt. Veränderte Rezeptionsweisen enstanden bereits mit den Rundfunkprogrammen, da die ausgestrahlten Programmbestandteile wie Nachrichten, Berichte aus fernen Ländern und Hörspiele aktueller und leichter aufzunehmen sind als Lektüren.[37] ) Auch die regelmäßige Ausstrahlung eines Fernsehprogramms seit 1952 wirkte sich auf die Rezeptionsweisen in den bundesdeutschen Haushalten aus.

Es soll in den weiteren Ausführungen nicht auf ein Konkurrenzverhältnis zwischen Buch und Fernsehen rekurriert werden, aber eine Beeinflussung des Leseverhaltens durch ständig erweiterte Fernsehprogrammangebote wurde in den Interviews immer wieder thematisiert. So gaben viele Befragte der ersten Generation an, daß sie in den 50er und 60er Jahren, also vor der Anschaffung eines Fernsehgerätes, deutlich mehr Bücher lasen als heute, selbst wenn sie zur damaligen Zeit bereits Familie hatten oder im Berufsleben standen.

Beleg Herr N.(1930), selbst. Kaufmann: "Nach dem es öfter Fernseher gab und dann auch bei uns, da ist das Lesen dann doch ziemlich zurückgegangen, so daß es sich auf aktuelle Zeitungen oder Zeitschriften beschränkte und das Bücherlesen weniger wurde. Das heißt, das Bücherlesen beschränkte sich auf Mußezeiten und das ist eigentlich heute noch der Fall. Wenn ich Bücher lese, dann hauptsächlich im Urlaub. In der jetzigen Zeit besteht Lesen nach der Berufstätigkeit hauptsächlich in Zeitungen und Zeitschriften und da ich ein kleiner Hobbykoch bin auch in der Lektüre von Kochrezepten. Die lese ich in allen Zeitschriften als Erstes. Das ist natürlich auch ein entspanntes Lesen: Man liest es und hat es dann auch schon wieder vergessen. So will man ja ein Buch nicht lesen, und darum braucht man dafür Ruhe und Zeit, um sich auf die Handlung zu konzentrieren. Man hat halt heute viel Ablenkung außer Fernsehen. Wir z.B. haben ja auch einen großen Bekanntenkreis und da treffen wir uns sehr viel. Und dann liest man natürlich nicht, und ob das allerdings sehr viel interessanter ist als ein Buch zu lesen, das sei dahingestellt...(Lacht)."

Nicht zuletzt die Vielzahl der heutzutage ausgestrahlten Fernsehserien verleitet dazu, den Fernseher regelmäßig einzuschalten.[38] ) So gesehen stellt das Fernsehen in der Einschätzung zahlreicher Befragter für die zu lesenden Medien - zumindest für die Bücher - tatsächlich eine Art von Konkurrenz dar, weil es bequemer zu rezipieren ist und sie verleitet sind, davor "hängen" zu bleiben. Der Einfluß des Fernsehens auf die familiäre Interaktion und das Leseverhalten einzelner Familienmitglieder wurde von den Befragten aller drei Lesergenerationen sehr unterschiedlich eingeschätzt. Mehrere Informanten beurteilten die Anschaffung des Fernsehapparates ganz klar als einen gravierenden Einschnitt in das Familienleben, andere sahen im Fernsehprogramm eine Bereicherung.[39] )

Beleg Herr K.(1950), Büromaschinenmechaniker: Ab wann gab es bei Ihren Eltern einen Fernseher? "Ab wann kann ich nur schätzen, ca. 1958 bis 1960. Ich war bestimmt schon 8 Jahre alt. Das Kinderprogramm war eine Stunde, und wenn wir da waren, durften wir das sehen." Haben Sie den Fernseher als einschränkend für das Familienleben empfunden? "Damals war der Fernsehapparat so etwas Besonderes, der war regelrechter Mittelpunkt des Wohnzimmers, da hat man viel geguckt. Und außerdem haben meine Eltern eigentlich keine Ausflüge gemacht, also von daher war der Fernseher auch keine Einschränkung. Wenn ich da so zurückdenke, da graust es einem. Nicht so wie bei meiner Frau, die Familie machte jeden Sonntag einen Ausflug. Da müssen Sie mal Bilder sehen, wenn wir in den Wald gefahren sind. Da habe ich einen Schlips um. Grauslich war das."

Die Empfindung dessen, ob die Anschaffung eines Fernsehapparates sich positiv oder negativ auf das Familienleben bzw. auf das eigene Leseverhalten auswirkte, ist sehr stark davon abhängig, in welchem Lebensalter der Befragten ein Gerät ins Haus kam. Je älter sie damals waren, um so kritischer fällt das Urteil aus und um so geringer ist die Faszination durch das neue visuelle Angebot. In der Regel kannten die älteren Kinder das Fernsehen bereits vorher durch Besuche und Treffen bei Nachbarn oder Freunden.

Beleg Herr R.(1960), Betriebsprüfer: Wann haben Sie zu Hause einen Fernseher bekommen? "Da war ich so ungefähr zwölf. Also etwa 1971 oder 1972. Das war ein ausrangierter von meiner Großmutter." Was durften Sie sehen? "Ich habe sicherlich so Sendungen gesehen wie "Flipper", und "Maxwell Smart" haben wir gesehen und auch damals schon sehr viel Sport. Weil mein Vater dann ewig vor dem Fernseher saß. Ich kann mich daran erinnern, daß wir dann ganze Sonntage vor dem Fernseher saßen. Also hat der Fernseher bei Ihnen etwas im Familienleben verändert? "Ja. Vorher haben wir auch mal Ausflüge gemacht. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich in der Woche viel geguckt habe. Später als es 'Sesamstraße' gab, habe ich das gekuckt, obwohl ich viel zu alt dafür war. Ich habe aber am frühen Nachmittag nichts gesehen. Ich habe viel Fußball gespielt."

Wie auch oben erwähnt, saßen die wenigsten Kinder zu Beginn der 60er Jahre am Nachmittag vor dem Fernsehgerät. Die Option, bestimmte Kindersendungen zu sehen, behielten die Eltern sich häufig für Regentage oder Wochenenden vor. Die Zahl der abendfüllenden Sendungen stieg erst allmählich, so daß das Programmangebot zunächst auch für die Jugendlichen nicht viel Interessantes bot.[40] )

Beleg Herr P.(1952), Polizeibeamter: Ab wann gab es in Ihrer Familie einen Fernseher? "Das muß 1962 gewesen sein. Durften die Kinder auch zusehen? "Das hing von ganz verschiedenen Dingen ab. Bei schönem Wetter durfte sowieso nichts gesehen werden. Nachmittagssendungen durften wir deshalb auch nur selten sehen, es war hauptsächlich witterungsabhängig, wirklich spartanisch und es gab ja auch noch nicht so viel. Wir haben eigentlich lieber draußen gespielt. Und Sendungen am Abend durften wir nur ganz vereinzelt sehen und auch ganz selten. Das hat sich auch nur ganz langsam gesteigert."

Einschränkungen der Leseintensität zugunsten des Fernsehens lassen sich eher bei den Erwachsenen verzeichnen. In der Feierabendgestaltung strukturierte das Fernsehangebot in mehreren Fällen den abendlichen Ablauf sehr intensiv, was auch die beiden folgenden Belege verdeutlichen:

Beleg Frau B.(1958), ausgeb. Lehrerin/Hausfrau: "Soweit ich mich erinnern kann, war der Fernseher schon immer da, also bereits vor mir. Der Fernseher lief jeden Abend. Der Beginn der Tagesschau strukturierte den Abend, alles mußte bis dahin erledigt sein. Ich empfand das Fernseher nur manchmal als Erweiterung des Familienlebens. Überwiegend und mit zunehmenden Alter mehr, empfand ich es als Einschränkung. Als Grundschülerin habe ich das Nachmittagsprogramm, Kinderstunde, ab und zu sehen dürfen. Lange Zeit durfte ich als 'große Ausnahme' entgegen der sonstigen Regel 'abends kein fernsehen', Professor Grizmeks Tiersendung sehen."

Beleg Herr A.(1944), Werkstattleiter: "Was das Fernsehen anbelangt, das habe ich erst kennengelernt mit zwölf Jahren. Da habe ich zum ersten Mal einen Fernseher zu sehen gekriegt und sehr gestaunt, daß es so etwas überhaupt gibt. Nachdem wir dann von der DDR in den Westen geflüchtet waren und ich inzwischen 16 Jahre alt war, haben wir einen eigenen Fernseher in der Familie gehabt. Und das empfand ich sehr schnell als ganz schlimme Einschränkung des Familienlebens."

Für einen Teil meiner Informanten stellte das gemeinsame Fernsehen im Rückblick - besonders in seinen Anfängen - eine Erinnerung an gemütliche Situationen und Geselligkeit im Kreise der Familie dar. Informationen aus dem Fernsehen bedeuteten zugleich eine Verbindung des Privatlebens mit dem, was in der Welt geschah.

Beleg Frau P.(1954), Sachbearbeiterin: "Wir hatten ab 1963 einen Fernseher. Da gab es ja aber auch noch nicht so viele Programme. Da gab es ja auch die Serien, die jetzt wiederholt werden. Wie Lassie und Fury und so etwas. Das haben wir auch gerne gesehen und auch immer geguckt, das war, glaube ich, Sonntagsnachmittags. Nachmittags in der Woche haben wir ganz wenig gesehen, weil wir eigentlich immer mit unseren Freunden unterwegs waren. Wir waren viel draußen. Es gab schon immer mal einzelne Sachen, die wir auch abends mitsehen durften. Da gab es z.B. mal einen Wahnsinnsboxkampf, und da haben wir alle auf dem Fußboden gelegen und zugesehen. Oder bei der Mondlandung, da haben wir die ganze Nacht durchgesehen. Meine Eltern, die haben natürlich auch mal die Fußballweltmeisterschaft gesehen, aber so Quizsendungen, wie "Frankenfeld" eben nicht regelmäßig. Und da habe ich mich immer gefreut, wenn ich dann mal zu meiner Oma gekommen bin, denn die hat so etwas regelmäßig gesehen, am Wochenende, und da hat man das dann auch ausgenutzt, aber zu Hause wegen der Schule eben eigentlich weniger."

Ein negativer Einfluß der Fernsehrezeption auf das Leseverhalten läßt sich anhand der Aussagen nur bedingt nachweisen. Bedenkt man allerdings, daß es z.B. für die erste Generation im Alltag relativ wenig Ablenkung gab[41] ), wird verständlich, daß sich die Familien gerade am Samstagabend - der Hauptfernsehzeit - gerne vor dem Fernsehgerät zu einer Quizsendung versammelten, anstatt jeder für sich still zu lesen. Zumal, wenn es, wie in der folgenden Aussage aus der zweiten Generation, mit Geselligkeit für Jung und Alt verbunden war.

Beleg Frau G.(1959), Museumspädagogin: "Ich weiß aber noch, als wir den Fernseher hatten, daß da in der Nachbarschaft noch lange nicht alle ein Gerät hatten und daß da die ganze Mannschaft bei uns Kinderstunde gesehen hat. Das blieb dann aber auch so hängen. Man hatte am Nachmittag gespielt und hat dann noch zusammen einen Kinderfilm geguckt, das war dann aber erst so gegen fünf Uhr. Ich weiß aber noch, daß meine Freundin dann Samstagabend schon aufbleiben durfte für die ersten Unterhaltungsshows die es dann so gab. Kuhlenkampff. Ich glaube, daß dann auch manchmal die ganze Nachbarfamilie dazu kam. Da wurden dann Stühle geholt und man traf sich zum Fernsehabend. Aber das hat nicht allzu lange gedauert. Also es war nicht so, daß wir den Nachbarn um Jahre voraus waren. (...) Ich weiß auch, daß dieser Fernseher tatsächlich nur ein Programm bzw. einen Kanal hatte und daß wir auch nur das Programm empfangen konnten. Und als es dann ein zweites Programm gab, da konnten wir das mit dem Fernseher nicht empfangen, das ging nur mit einem Zusatzteil. Ich weiß nicht, ob wir da dann nicht sogar einen Neuen bekommen haben. Ich weiß aber noch, daß wir dann manchmal nachmittags die Kinderstunde geguckt haben. (...) Also Quizsendungen oder Spielfilme, das führte dann zu so Szenen, daß sich meine Großmutter einfach vor den Fernseher stellte, wenn Kußszenen kamen, oder daß sie einfach umschaltete oder ausschaltete und das gab ja dann auch Ärger von meinem Vater. Sie hat sich auch für viel harmloserer Sachen davorgestellt. Also ich kann mich wirklich an ein paarmal erinnern, daß sie das gemacht hat."

Hier wird noch einmal die familiäre Bedeutung des gemeinsamen Fernsehens in den späten 50ern und frühen 60er Jahren deutlich. Gemeinsam mit Nachbarn und Verwandten gestaltete sich das Fernsehen als gesellige Interaktion, denn solange nicht jede Familie ihr eigenes Gerät besaß, rückte man anläßlich wichtiger Sport- und politischer Ereignisse zusammen oder traf sich zur samstäglichen Quiz-Sendung. So, wie es zumindest einige Informanten schilderten, ergaben sich auf diese Weise unterhaltsame Stunden in Familien, in denen sonst gerade abends nicht allzu viel geschah. Daß diese Erinnerungen bei einigen noch so lebendig sind, ist sicherlich auch damit zu erklären, daß sie das Fernsehprogramm als Erweiterung ihrer kindlichen Lebenswelt empfanden.

Im Hinblick auf die nach 1960 Geborenen wird immer wieder betont, daß diese - als "Fernsehgeneration"[42] ) - mit dem Fernsehgerät aufgewachsen sei und eigentlich gewohnheitsmäßig fernsähe. Gerade aber aus dieser Befragungsgruppe meldeten sich durchaus kritische Stimmen zu den familiären Mediennutzungsgewohnheiten zu Wort.

Beleg Frau A.(1965), Technische Zeichnerin: "Ich glaube, einen Fernseher hatten meine Eltern, seit ich lebe. Als Kind habe ich am Wochenende, wenn nachmittags ferngesehen wurde, mich mit meinem Buch in mein Zimmer verzogen. Wir durften als Kinder am Spätnachmittag einzelne Kindersendungen sehen, die vorher abgesprochen wurden. Als ältere Schülerin habe ich auch abends gekuckt bis ein Film zu Ende war." Haben Sie den Fernseher als Bereicherung oder als Einschränkung empfunden? "Als Einschränkung. Vor allem bei meinem Vater, weil er, wenn er nach Hause kam, entweder gleich Zeitung las oder vor dem Fernseher saß. Meine Mutter machte derweil Haushalt und Wäsche. Abends wurde gemeinsam gesehen, was kam. Bei Krimis bin ich früh zu Bett gegangen."

Das Leseverhalten der Kinder und Jugendlichen der ersten und zweiten Generation wurde speziell durch das Fernsehangebot nicht besonders beeinflusst, da ihr Fernsehkonsum von seiten der Eltern ohnehin reglementiert war. Das abendliche Fernsehen wirkte sich, wenn, dann eher auf das Lesequantum der Erwachsenen aus, die die vertraute Mediennutzungsformen des Lesens nicht ungern zugunsten des neuen Mediums Fernsehen vernachlässigten.

Fast alle, die im Kindesalter unter 12 Jahren den Einzug des Fernsehens in den elterlichen Haushalt erlebten, berichteten daß sie immer wieder einmal die Kinderstunde und das "Sandmännchen" sehen durften.

Von einer intensiven Nutzung des wachsenden Programmangebotes und einer ihnen anheim gestellten Rezeption des Fernsehprogramms als Kind wurde auch von den Informanten der dritten Generation nur vereinzelt berichtet. Sie verfolgten als Jugendliche trotz Programmvielfalt ebenfalls ihre Leseinteressen, so daß keiner von ihnen im Fernsehen eine Reduzierung seines Leseverhaltens in der Jugend begründet sah.

Die von vielen Eltern ausgesprochenen Verbote, Krimiserien im Abendprogramm anzusehen, wurden immer wieder umgangen, wie folgendes Zitat beispielhaft belegt. Mehrere Informanten erinnerten sich in gleicher Manier daran, daß sie, der elterlichen Obhut entfleucht, zu Besuch bei nahen Verwandten länger und anders fernsehen durften als zu Hause.

Beleg Frau E.(1954), Sozialpädagogin: "Dann hatten wir es nur so, daß wir an einem Abend in der Woche, an dem meine Eltern kegeln gingen, von unseren Großeltern beaufsichtigt wurden, und das war ausgerechnet der Dienstagabend, an dem immer die ganzen Krimiserien kamen. Und das war immer so: wir wurden ins Bett geschickt und meine Eltern gingen weg und um Viertel vor Neun kam dann mein Opa und sagte: "Zieht Eure Bademäntel an, gleich geht der Film los. Und so haben wir heimlich, still und leise die ganzen Krimiserien geguckt."

Elterliche Verbote für bestimmte Sendungen bezogen sich vor allem auf die erwähnten Krimiserien, nicht-jugendfreie Filme und vermeintliche gewältätige oder grausame Filme. Kritische Vorbehalte gegen häufiges und intensives Fernsehen formulierten eher diejenigen, die den Fernseher in ihrer selbst gegründeten Familie immer wieder als Störung empfinden. So sprach z.B. Frau F. davon, daß sie gern häufiger ihr Phlegma überwinden würde, um dann den Fernseher nach den Nachrichten tatsächlich auszuschalten.

Beleg Frau F.(1957), Krankenschwester: "Das Wichtigste ist abends um acht die Tagesschau und manchmal auch spät die Tagesthemen. Ich muß auch sagen, bei unserem Tagesablauf ist es auch ganz oft so Entspannung, und sehr oft muß ich dann am nächsten Tag darüber nachdenken "Warum hast du nicht abgeschaltet", weil ich eigentlich noch etwas anderes machen wollte und mich dann nicht mehr aufgerafft habe, etwas wie Basteln oder so. Und wenn es dann nach der Tagesschau noch was gab, dann habe ich manchmal nicht mehr die Energie, es abzuschalten. Wenn wir das also schaffen, danach gleich auszumachen, oder gar nicht erst anzuschalten und auch mal wieder eine Schallplatte zu hören, und jeder erledigt das, was er noch wollte, dann finde ich das sehr gemütlich. Raimund sitzt dann am Computer und ich an der Nähmaschine oder ich bastel, und er liest seine Wirtschaftspost durch. Das finde ich sehr schön. Das ist dann jedesmal so, als ob der Fernseher so eine Art kleiner Feind wäre. Ich bin dann immer sehr glücklich, wenn ich dann da sitze und bastel und denke: Siehst Du, jetzt hast du in den zwei Stunden viel mehr geschafft als vor dem Fernseher".

Sowohl im obigen Beleg von Frau F., wie auch im folgenden von Frau J. wird der Fernsehrezeption nicht das Lesen als Alternative gegenübergestellt, sondern vielmehr "Kreativität" in Form von Basteln oder Nähen, als eine Ausprägung des "Selbst-Produktiv-Werdens". In Ergänzung zu anderen Aussagen ist dem zu entnehmen, daß Fernsehzeiten nicht immer mit versäumten Lesezeiten gleichzusetzen sind. Die betreffende Zeit, meist am Abend, wird eher mit Tätigkeiten ausgefüllt, die keine absolute Ruhe und Zurückgezogenenheit erfordern (wie das Lesen) und dem Wunsch entgegenkommen, den Feierabend gemeinsam - oder zumindest in Anwesenheit des Partners - verbringen zu können.

Beleg Frau J.(1958), Gymnastiklehrerin/Bewegungstherapeutin: "Das Fernsehen hat schon einen sehr starken Einfluß auf unser Familienleben, so daß ich gelegentlich an ein Abschaffen denke. J. sieht sehr gerne fern, O. weniger. Ich auch recht gerne, aber ausgewählt. Mein Mann ebenso. Ich denke, daß der Fernseher ein großer "Kreativitätskiller" ist, im besonderen für mich. N. (Ehemann) würde mehr lesen ohne Fernseher - und schneller einschlafen." (lacht)

Die hier vorgestellten Aussagen lassen das Fernsehen keinesfalls als Bedrohung des Leseverhaltens und Lesequantums der befragten Generationen erscheinen. Allerdings wurde durch vermehrten Fernsehkonsum eine latente Leseabsicht einiger Informanten unterdrückt, da sie das bequemer und leichter verfügbare Medium, und damit das Fernsehen, wählten.

In einigen Aussagen wurde des weiteren deutlich, daß die Alternative bei weitem nicht allein in der Wahl zwischen Fernsehen und Lesen, sondern vielmehr in der Konstellation aktiv - passsiv begründet ist. Fernsehrezeption als passives, wird dem "Selber-Machen" als aktivem Verhalten gegenübergestellt. Eine derartige Polarität ergab sich besonders bei Befragten, die eher wenig bzw. unregelmäßig in Büchern lesen. Als eine besondere Nebentätigkeit beim Fernsehen werden Printmedien wie Publikumszeitschriften, Nachrichtenmagazine und Zeitungen erwähnt, die man nebenher durchblättert und punktuell liest. Die Lektüre von Büchern ist vor dem laufenden Fernsehgerät nur schlecht möglich, da hier ungeteilte Aufmerksamkeit erforderlich ist, darüber waren sich fast alle Informanten einig. Die Leser der ersten Generation sahen am deutlichsten für sich eine Beeinflussung ihres Leseverhaltens durch das Fernsehen gegeben, betonen aber zugleich, daß das Buch für sie das wichtigste Medium in geistesbildender Hinsicht ist. Nicht alle heutigen Leser unter meinen Gewährspersonen wurden bereits in der Kindheit zu habitualisierten Lesern, sondern entdeckten erst relativ spät das Lesen als Rezeptionsform. Auf eben diese kleine Gruppe gehe ich im nächsten Abschnitt ein.

6. Unerwartete und späte Leser

Der Zugang zu Büchern ergab sich nicht für alle Befragten, die sich heute als Erwachsene als interessierte Leser bezeichnen, bereits in der Kindheit und frühen Jugend. In der zweiten Generation sind mehrere Leser, deren gewohnheitsmäßiges Lesen sich erst im Erwachsenenalter konstituierte. Diese Leser bezeichne ich als "unerwartete und späte Leser". Unter den unerwarteten Lesern subsumiere ich im folgenden all jene, von denen man aufgrund ihrer Schilderung der frühen und schulischen Lesesozialisation und des familiären Leseklimas nicht prognostiziert hätte, daß sie zu regelmäßigen Lesern werden würden. Sie wuchsen in der Regel in einem Haushalt mit eher buchferner Atmosphäre auf und erhielten von Elternhaus und Schule relativ wenig Anregungen. Den "späten" Lesern standen zwar zu Hause Bücher zu Verfügung, und ihre Eltern bemühten sich ansatzweise um eine Förderung, aber die Befragten entdeckten erst zum Ende der Schulzeit oder, wie im Falle von Frau B., erst während des Studiums die Freude am Lesen von Büchern. All diesen Menschen wurde das Lesen in ihrer Kindheit und Jugend eher verleidet als nahegebracht. Sie wurden weder zum Lesen "verführt", noch wurde es ihnen "verordnet". Die Ursachen hierfür lassen sich nicht unter einem Erklärungsansatz fassen. Zum einen boten buchferne familiäre Atmosphären keinerlei Anregungen zum Umgang mit anderen Texten als der Tageszeitung und Büchern - literarische wie auch Sachbücher - las man nur selten. Zum anderen erhielten die Kinder wenig Anregungen wie z.B. durch Buchgeschenke. Die dadurch evozierte fehlende Übung im Umgang mit Büchern und die damit verhinderte Habitualisierung des Lesens wurde bei weitem nicht immer durch schulische Einflüsse korrigiert, so daß sich intensives, vorbereitendes Lesen anläßlich außergewöhnlicher Situationen, wie Prüfungen, für einige Befragte zu einer höchst mühseligen Angelegenheit entwickelte. Frau J., eine "unerwartete" Leserin, stammt aus einer als buchfern zu bezeichnenden Familie und war häufiges und intensives Lesen so wenig gewöhnt, daß ihr die komplexe Lektüre anläßlich ihrer Prüfungsvorbereitungen zur Gymnastiklehrerin weiteres Lesen auf Jahre hinaus verleidete:

Beleg Frau J.(1958) Gymnastiklehrerin/Bewegungstherapeutin: "Sehr viel mußte ich lesen während meiner Berufsausbildung. Eben auch sehr viel lernen. Und ich weiß es noch wie heute, daß ich nur noch einen einzigen Wunsch hatte, nämlich nie mehr lesen zu müssen. Ich weiß, daß ich da zum Schluß nur noch heulend gesessen habe. Es war purer Streß, diese Prüfung. Ich habe immer gedacht, ich schaffe das nicht und habe mich so unheimlich unter Druck gesetzt und habe dann, nachdem die Ausbildung abgeschlossen war, monate- und jahrelang nichts mehr in die Hand genommen. Ich wollte nichts mehr lesen. Und ich habe dann wohl auch den Anschluß so verpaßt, denke ich. Ich lese eigentlich am liebsten Zeitschriften, die sind kurzweilig und unterhaltend und lassen sich jederzeit weglegen."

Sie betonte während unseres Gespräches immer wieder, daß ihr eigentlich ihre Zeit zum Lesen zu schade sei, und daß sie lieber "aktiv kreativ" wäre. Als einzige unter den Befragten stellt Frau J. dem Lesen als Negativum die eigene Kreativität als Positivum gegenüber.

Beleg Frau J.(1958) wie oben: "Es ist eigentlich so, daß mir meine eigene Zeit zu schade ist zum Lesen. Es war so, als ich im Krankenhaus war da hatte ich keine Alternativen, da habe ich innerhalb von drei Tagen das Buch von der Betty Mahmoody durchgelesen, aber da habe ich dann ja auch nichts anderes verpaßt. (...) Ich habe sonst immer Angst etwas zu vergessen, was ich tun wollte oder, daß ich irgendetwas liegen lasse, was ich hätte erledigen müssen oder wollen. Ich gestalte meine Freizeit also anders, kreativ. Auch im Urlaub komme ich eigentlich gar nicht auf die Idee mir ein Buch einzupacken, weil ich lieber unterwegs bin und mir Dinge ansehe und dann darin Entspannung finde. Insofern nehme ich keine Bücher mit in den Urlaub. Und wenn, dann bevorzuge ich leichte Lektüre."

Mittlerweile liest Frau J. auf Reisen und zur Urlaubsvorbereitung. Dieses Interesse entstand durch Anregungen aus dem Bekanntenkreis, unabhängig von schulischer oder elterlicher Leseförderung, denn ihre Eltern und Verwandten "lasen nie und überhaupt nicht".

Frau J. ist kein Einzelfall. Mehrere Befragte erhielten wie sie von Haus aus keinerlei Anregungen in der Lesesozialistion, bzw. es fand eine solche so gut wie nicht statt. Diese Umstände klangen in einigen Zitaten zum Lesen zur Weiterbildung bereits an. Bei Kindern und Jugendlichen aus anregungsarmen Familien, deren Lesesozialisation auch in der Schule nicht in nennenswertem Umfang bereichert wurde, lag das Lesen so manchmal jahrelang brach, um dann über Impulse von außen entdeckt zu werden. Die Informanten aus anregungsarmen familiären Millieus sahen in der Regel hier die Anstöße für ihr unerwartetes reges Leseverhalten.

Auch eine andere Gruppe entdeckte das Lesen von Büchern als Quelle für Unterhaltung, Ablenkung sowie persönliche Bereicherung erst relativ spät im Lebenslauf, obwohl in ihren Elternhäusern Bücher durchaus als Medien präsent waren: Die "späten" Leser. Die Tatsache, daß sie sich nicht früh zu habitualisierten Lesern entwickelt hatten, auch wenn die Disposition hierzu durchaus gegeben schien, beschäftigte mehrere Befragte aus allen drei Lesergenerationen. Frau B. und Frau G., zwei "späte" Leserinnen, führen als Erklärung dafür, warum es ihnen als Kind und Teenager schwer fiel, sich mit Büchern zu befassen an, daß niemand Interesse für ihre wirklichen Leseneigungen zeigte. Frau B. wuchs als Einzelkind in einer durchaus lesefreundlichen familiären Atmosphäre auf, denn ihr Vater hatte als freischaffender Journalist zahlreiche Bücher und hielt auch seine Tochter immer wieder zum Lesen an. Dennoch betont diese, daß sie stets langweilige oder Bücher moralischen Inhalts vorgelesen und geschenkt bekommen habe. Sie macht diesen Umstand rückblickend auch für die Tatsache verantwortlich, daß sie keinen Genuß am selbständigen Erlesen von Texten entwickelt habe. Ein Interesse an belletristischen Texten und Büchern entstand bei ihr erst während ihres Studiums. Offensichtlich orientierte sich Frau B. während ihrer Kindheit und Jugend ganz am Vorbild der Mutter, einer gelernten Hauswirtschafterin, auf die Bücher und Lesen nur geringe Reize ausübten, und die ihrer Tochter über die erwähnten moralisierenden Verse und Texte hinaus keine Anregungen bot und auch nicht gerne vorlas.

Beleg Frau B.(1953), Gesamtschullehrerin: "Ja, vorgelesen wurde mir auch, ich erinnere mich an die Märchen. (...) Ich fand die Märchen oft unheimlich. Und ich habe mich oft gegruselt.(...) Ich hatte keine Schwierigkeiten (beim Lesenlernen), aber ich habe immer ungern gelesen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, daß ich irgendwann mal gesessen habe mit einem Buch. Auch nicht auf Reisen, im Urlaub oder so. Ich dachte auch, daß ich es vielleicht vergessen hätte, aber ich habe noch einmal mit meinen Eltern gesprochen, und da hat es sich auch bestätigt. Ich habe so ein paar Weihnachtsbücher gelesen, aber nicht viel. Mir haben die Bücher einfach keinen Spaß gemacht."

Frau G., die mit zwei Geschwistern zwar in einer Familie aufwuchs, in der sporadisch vorgelesen oder Geschichten erzählt wurden, entwickelte weder als Kind noch als Teenager Freude am Lesen von Texten und Büchern. Auch sie erklärte diese Abneigungen in der Jugend mit einer wenig stimulierenden Heranführung an Bücher und Literatur durch die Eltern.

Beleg Frau G.(1962), ungelernte Sachbearbeiterin: Ihr hattet aber Bücher zu Hause? "Ja, es gab schon Bücher, aber die haben nie eine große Rolle gespielt. Für meinen Bruder wohl mehr, der hat sie sich dann einfach genommen. Für mich hatten die Bücher überhaupt keine Bedeutung." Die Bücher bei euch, waren die frei zugänglich? "Ja, mein Bruder ist ganz anders an Bücher herangegangen, der hat sich auch welche gewünscht, seinen Interessen entsprechend. Von meiner Schwester, die 2 1/2 Jahre älter ist, weiß ich das gar nicht. Ich wußte gar nicht, was mich interessiert, und ich denke, sie haben auch nichts unternommen, um es rauszukriegen. Wenn sie sich darum bemüht hätten, dann wäre da auch was bei rausgekommen. Sie hätten auch was gefunden, was für mich interessant ist. Dieser Kram von meinem Bruder, das interessierte mich sehr wenig, Vorzeit und Saurier und so einen Kram. Dann kannst Du Dich auch nur an wenige Bücher erinnern, die Du geschenkt bekommen hast? "Ich habe welche gehabt, aber die haben mich wirklich nicht interessiert, über Tiere oder so etwas. Das hat mich schlichtweg nicht interessiert. Waren das dann Bücher, die Du geschenkt bekommen hast? "Ja, müssen wohl, denn gewünscht habe ich mir keine."

In diesen beiden Belegen wird noch einmal deutlich, daß die bloße Bereitstellung von Büchern für Kinder noch keine Leseförderung darstellt. Bücher als Medium sind offensichtlich nicht immer reizvoll genug, als das sie um ihrer Selbst willen betrachtet bzw. gelesen zu werden. Der Umgang Texten muß vielmehr vermittelt werden. Frau B. und Frau G. entdeckten ihr Interesse an literarischen Texten durch das Studium bzw. über Freunde und Anregungen durch die eigenen Kinder. Beide sind allerdings mit Büchern für sich selber bis heute sehr wählerisch und lesen tendenziell eher wenig und oft "gegen den Strom" der Unterhaltungsliteratur und populären Bestseller.

Beleg Frau G.(1962), wie oben: "Und manche Sachen, die ich so lese, die liest sonst kein Schwein, und da habe ich dann niemanden um darüber zu sprechen. Das finde ich auch oft doof. So, wie die 'Iacocca-Biographie' oder die 'Qumran-Rollen'. (...) Und das Buch, was alle lasen, 'Das Parfüm', finde ich schon irgendwie eklig, da mag ich nicht drüber sprechen."

Gemeinsam ist den "unerwarteten" wie den "späten" Lesern aller drei Generationen, daß sie es jeweils bedauern, erst so spät respektive beinahe gar nicht, den Zugang zu Büchern gefunden zu haben. Ihnen allen war und ist es wichtig, die eigenen Kinder intensiver an Bücher und Lesemedien heranzuführen. Hier soll noch einmal Frau J. als "unerwartete" Leserin zu Worte kommen:

Beleg Frau J. (1958), Gymnastiklehrerin/Bewegungstherapeutin: "Allerdings ist mir die Beschäftigung mit Büchern bei meinen Kindern sehr wichtig, weil ich es eigentlich sehr schön finde, wenn einer sich mit Büchern beschäftigt und viel liest. Ich beneide eigentlich Leute, die dann sagen können: 'Ich habe es mir das Wochenende über gemütlich gemacht mit einem dicken Wälzer und einen dicken Schmöker durchgelesen'."

Die in Büchern wiedergegebenen Sichtweisen und Einschätzungen bieten, besonders für die späten und unerwarteten Leser, nicht zuletzt auch die Möglichkeit, sich Rat bei der Beurteilung und der Bewältigung unbekannter Situationen einzuholen. Für Herrn F., einen "unerwarteten" Leser[43] ), stellt Literatur so ein Stück Lebenserfahrung dar, die die fehlende eigene ersetzen oder ergänzen kann. Da er sich nach eigener Einschätzung nur sehr mühsam zum Leser entwickelte, ist ihm die Lesesozialisation seiner Kinder ein um so größeres Anliegen. Durch diese möchte er ihnen Welterfahrung aus und mit Büchern nahebringen.

Beleg Herr F.(1947), Tontechniker/Hausmann: Ist es Dir wichtig, daß sich Deine Kinder mit Büchern beschäftigen? "Ja, das ist mir wichtig. Weil ich eigentlich denke es ist schade, wenn man nicht belesen ist. Ich habe oft das Gefühl, das mir was fehlt. Wenn ich bei andern Leute höre, was die so gelesen haben und damit auch ein Stück Lebenserfahrung mit einflechten können, dann denke ich, das fehlt mir. Jedes Ding, was du gelesen hast stellt ja meistens ein Problem dar. Und je nachdem, ob der sich gut oder schlecht aus der Situation gerettet hat, oder wie man es selbst machen würde, und jede Situation, die du schon mal selbst durchgespielt hast im Kopf, ist für dich etwas leichter in den Griff zu kriegen, wenn sie auf Dich zukommt."

Nicht selten dienen Erfahrungsberichte und Ratschläge auch als Orientierungshilfe für eigene Entscheidungen. Auf den deutlichen Trend der Leser, auf diese Weise Lebenshilfe einzuholen, verweist auch die in den letzten Jahren sprunghaft angestiegene Sachbuch- und Ratgeberproduktion. Neben Sach- werden auch belletristiche Texte zur Linderung von Trauer und Schmerz herangezogen. Für Frau G. z.B., wurde ein bestimmtes literarisches Genre, die Liebesgeschichte, immer dann bedeutsam, wenn für sie tragische Ereignisse vorgefallen waren:

Beleg Frau G.(1948): "Immer wenn es mir schlecht geht, oder sich wieder irgendwas ereignet hat, auch damals als meine Mutter starb oder eine große Liebe auseinanderging, dann lese ich Liebesgeschichten jeder Art. Das tröstet richtig. Entweder weil es denen so gut geht oder weil es im Buch alles noch tragischer verläuft, als man glaubt, es sich überhaupt vorstellen zu können."

Die bis hierhin zitierten und dargestellten Leseerfahrungen meiner Informanten belegen eindeutig, daß das Lesen in einzelnen Lebensphasen seine Bedeutung im Zuge unterschiedlicher - vom Leser zugewiesener - Funktionen und Einsatzvarianten verändert. Die retrospektive Betrachtung der Lesesozialisation und deren Ausprägungen in unterschiedlichen Zeitkontexten verweist darauf, daß Lesen zu einem beträchtlichen Teil durch die Generationsspezifik geprägt wird, zum anderen aber deutlich geschlechtsspezifische Züge trägt. Vor allem die Auswahl der verfügbaren Medien, der Kanon der Schullektüren und das Einbeziehen anderer moderner Medien unterliegt dem Einfluß der historischen Kontexte. Lesarten und Präferenzen der Lesestoffe, sowie auch die Intentionen des Lesens in Alltag und Freizeit sind stark geschlechtsabhängig geprägt.

Kann ich mit der vorliegenden Untersuchung zwar keine Repräsentativität beanspruchen, so lenkt sie dennoch das Interesse volkskundlicher Lebenslauf- und Bewußtseinsforschung auf das Lesen im Leben, seine Hintergründe, Verankerungen, Ausprägungen und vor allem Bedeutung für die Leser unterschiedlicher Generationen. Nicht zuletzt bietet sie Ansätze und Hintergründe für weiterführende Arbeiten, zum Forschungsfeld Lesen aus volkskundlicher Sicht.

 

Fußnoten:

[1])Es ist vielleicht auch als eine Art Fortsetzung des - oft heimlichen - Lesens abends im Bett, unter der Bettdecke, von dem mir zahlreiche Befragte aus ihrer Kindheit berichteten. Ich gehe hierauf Kapitel VI., im Unterpunkt 4.4 näher ein.

[2])Etwa 80% der befragten Paare oder Haushaltsvorstände hatten das Hamburger Abendblatt abonniert. Zwei Befragte bezogen die Süddeutsche Zeitung regelmäßig, zwei die tageszeitung und einer die Frankfurter Rundschau. Daneben gab es mehrere Abonnenten der Wochenzeitung "Die Zeit".

[3])Für das Verständnis des Begriffs der "inneren Ruhe" in Bezug auf das Lesen bestand unter den Befragten ein Konsens. Sie alle subsumierten darunter, daß ein Leser aufgrund der positiven äußeren Begleitumstände und einer entspannten inneren Bereitschaft zum Lesen in der Lage ist, sich auf Texte zu konzentrieren.

[4])Frau Sch. gehört zu denjenigen Informanten, die aufgrund ihres starken Leseinteresses und der vielen Nachmittage die sie als Kinder lesend verbrachten, auch immer wieder von den Müttern als "Stubenhocker" kritisert wurden und zum spielen im Freien angeregt wurden (Vgl. hierzu Kapitel IV).

[5])Die Umstellung auf die Zeitstrukturen eines Berufslebens dürfen für das Leseverhalten nicht unterschätzt werden. Besonders krass ist der Unterschied für Schüler, die quasi von einer "Halbtagsbeschäftigung" auf Vollzeit umsteigen müssen. Kommen längere Fahrtzeiten hinzu, so reduziert sich die potentielle Lesezeit oft um bis zu 50%.

[6])Auf die Bedingungen, unter denen das "Urlaubslesen" gerade auch für die Mütter, aber eigentlich für alle anderen Befragten zum persönlichen Genuß wird, gehe ich weiter unten noch ein (V.3.1).

[7])Auf die Veränderung des Leseverhaltens mit dem Eintritt in den Beruf verweist auch die Stiftung Lesen (Hrsg.): Lesen im internationalen Vergleich. Mainz 1990. Teil 1, hier S.11/12: "Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, daß unabhängig vom Bildungsstand der Berufseintritt den Anteil der Leser in der Bevölkerung beträchtlich verändert. Dieses Phänomen bestätigt Ergebnisse, wonach das Buch vor allem in der Funktion der Wissensvermitlung im Zusammenhang mit Berufsausbildung, Aus- und Weiterbildung genutzt wird, hingegen in der Funktion als Unterhaltungsmedium mehr und mehr an Bedeutung verliert".

[8])Unter den Befragten der ersten Generation waren Pensionäre/Innen bzw. Rentner/Innen: Frau N. (1930); Frau L. (1931); Frau F. (1933); Frau K. (1935); Herr G. (1928); Herr L. (1928); N.(1929); Herr W. (1932); Herr Z. (1932).

[9])Problematisch bei der Heranziehung bisheriger Forschungsergebnisse zur Mediennutzung im Alter ist zum einen die Unterschiedlichkeit mit der Altersgrenzen gezogen werden. Meist wird eine pauschale Eingruppierung vorgenommen: "60 Jahre und älter"; allein die von ARD und ZDF inzwischen fünfmal erhobene Langzeitstudie unterteilt in die 60-69jährigen und in die ab 70 Jahren: Berg, Klaus; Kiefer, Marie-Luise (Hrsg.): Massenkommunikation I-V. Eine Langzeitstudie zur Mediennutzung und Bewertung. 1964-1996, zuletzt Baden-Baden 1996. Vgl. hierzu auch Kübler, Hans-Dieter: Wie benützen alte Menschen die Medien? und Rogge, Jan-Uwe: Medien und Alter - eine Sichtung der Forschungsliteratur. Beide in: merz - medien und erziehung 2/1991. S. 73-80 u. S.81-89. Hier Rogge, S.83/84: "Die Tageszeitung ist die herausragende Informationsquelle für ältere Menschen. Und auch das Radio wird wegen seiner politischen Informationen gesucht. Das Fernsehen hat dagegen Unterhaltungs-wert, der Zeitschrift kommt ein Ratgebercharakter zu und das Buch wird vor allem der Bildung wegen gesucht.(...) Unabhängig vom Bildungsstatus nimmt das Interesse an Büchern ab, und das Fernsehen als ein leicht zu handhabendes Medium, das zudem viele Sinne zugleich anspricht, gewinnt an Bedeutung."

[10])Ebda., S.84.

[11])Es würde den Rahmen meiner Untersuchung sprengen, die Diskussionen der Gerontologie zum Mediennutzungsverhalten älterer Menschen hier ausführlich behandeln. Zumal diese Untersuchungen das Lesen vorwiegend in Form von Zeitungslektüre berücksichtigen.

[12])Gemeint ist das umstrittene Buch von Betty Mahmoody "Nicht ohne meine Tochter", das nach seinem Erscheinen länger als ein Jahr lang auf der Spiegel-Bestseller-Liste stand.

[13])"... keine andere Kultur- oder außerschulische Bildungseinrichtung kann einen so hohen Prozentsatz der Bevölkerung erreichen und erzielt eine so große Breitenwirkung hinsichtlich Alters- und Sozialstruktur ihrer Benutzer, wie eine ausgebaute öffentliche Bibliothek." Empfehlungen des Deutschen Städtetages 3/1987, zitiert in: Jahresbericht der HÖB. Hamburg 1990. Vgl. auch Ziegenhagen, Beate: Öffentliche Bibliotheken und Schulbibliotheken. In: Rosebrock, Cornelia: Lesen im Medienzeitalter. Weinheim und München 1995. S. 127-135, hier S.127/128. In der Bundesrepublik existieren etwa 4.700 öffentliche Bibliotheken mit hauptamtlichem Personal. Auf diese entfallen 79% der Medienbestände und 88% der Entleihungen. Darüberhinaus gibt es etwa 9.000, die durch ehrenamtliches Personal betreut werden.

[14])Im folgenden werde ich einige Ergebnisse am Beispiel Hamburgs darstellen, nicht zuletzt auch deswegen, weil etwa zwei Drittel meiner Befragten die dortigen Bücherhallen als Nutzer frequentierten.

[15])HÖB (Hrsg.): "Wir liefern Wissen". Hamburg 1992. Zur Geschichte der HÖB vgl. Pieler, Peter-Hubertus: Anfänge und Entwicklung der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen. Hamburg 1990 (unveröff. Magisterarbeit). Das Inkrafttreten des Groß-Hamburg-Gesetzes integrierte die Volksbüchereien Altonas, Harburgs, Wandsbeks und der Landgemeinden in die Stiftung, so daß sich deren Einzugsgebiet enorm vergrößerte. Die erste Hamburger Öffentliche Bücherhalle wurde 1899 in den Kohlhöfen durch die "Patriotische Gesellschaft von 1765" eröffnet. Mit der Einrichtung, dem Ausleihsystem und der Möglichkeit des freien Zugangs der Leser zu den Büchern, folgte man dem Vorbild der englischen Kommunal Bibliotheken. Bald entstanden weitere Bücherhallen, und im Jahre 1919 wurde das Bibliothekennetz in eine Stiftung des privaten Rechts eingebracht, die ihre Gelder von der Freien und Hansestadt Hamburg erhielt. Die erste "Freihandbücherei" Deutschlands eröffnete man 1933 in Hamburg-Eppendorf.

[16])Um die Motivationen und Interessen ihrer Nutzer besser einschätzen zu können, führte die HÖB in den Jahren 1990 und 1992 zwei Nutzerbefragungen durch und ergänzte die Analysen 1992 mit einer Telefonbefragung. Vgl. auch HÖB (Hrsg.): Jahrbuch 1992. Hamburg 1993. S. 37. Bereits 1974 stellte Bodo Fischer fest, daß Menschen um die 40 Jahre, die Bücherhallenangebote am wenigsten nutzen, Schüler und Studenten hingegen die aktivste Klientel bilden. Die potentiellen Nutzergruppen der Berufstätigen, Hausfrauen und besonders der weiblichen Rentner stellen ein relativ passives, noch nicht ausgeschöpftes Leserpotential dar. Auffällig ist die Tatsache, daß die Erhebungen mit fast zwanzigjährigem Abstand nahezu identische Ergebnisse brachten. Ders.: Benutzerstruktur und Benutzerverhalten in der Hamburger Öffentlichen Bücherhalle. Hamburg 1974.

[17])Vgl. HÖB (Hrsg.): Jahresbericht, wie Anm. 12, S.38/39: 42% der Schüler, 62% der Studenten, 43% der Beamten und 28% der Selbständigen sind regelmäßige Nutzer der Bücherhallen. Die Hamburger Ergebnisse decken sich auch mit den anderen bundesweit erhobenen Ergebnissen in den alten Bundesländern. Ziegenhagen, wie Anm. 9, S.129: Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erreichen Öffentliche Bibliotheken Kinder und Jugendliche überproportional. Bibliotheksstatistiken weisen aus, daß von den 6-10Jährigen etwa 50-60% Bibliotheken besuchen und nutzen.

[18])Siehe auch HÖB (Hrsg.): Jahrbuch, wie Anm. 12, S.25,40. Fischer, wie Anm. 12, S.31. Er ordnet seine, ebenfalls in Hamburg erhobenen, Ergebnisse in den bundesweiten Forschungsstand ein, und konnte feststellen, daß gerade die noch nicht als Nutzer erschlossenen Bevölkerungsgruppen in ähnlichen Größenordnungen im gesamten Bundesgebiet lokalisiert wurde. Die berufsspezifische Verteilung der Leser erwies sich allerdings in Hamburg insgesamt als ausgewogener als im Bundesgebiet. Die Dominanz der leitenden Angestellten und Beamten ist in Hamburg deutlich geringer.

[19])Vgl. HÖB (Hrsg.), wie Anm. 12, S.38: Die häufigsten Nutzungsanlässe sind nach den eigenen Angaben der Nutzer Freizeit und Unterhaltung (60%), Ausbildung und Weiterbildung (37%). Die Ausleihquote der Kindermedien beträgt noch nicht einmal 10%, zeigt aber steigende Tendenzen.

[20])Frau P. berichtete zudem, daß man die Schüler am von ihr besuchten Gymnasium schnell animierte für schulische Zwecke die Hamburger Staatsbibliothek zu nutzen, die in der Nähe lag. Außerdem wurde sie als Oberstufenschülerin von den Lehrern in den Gebrauch des Hamburger Weltwirtschaftsarchives eingeführt. Dieses frühe Vertrautmachen von Schülern mit wissenschaftlichen Bibliotheken und Archiven ist bis heute nicht selbstverständlich - von den jüngeren Informanten der dritten Generation berichtete niemand davon.

[21])Gemeint sind hiermit Reihen wie "Angelique", Krimiserien oder populäre Bestseller-Romane von J.M. Simmel, H. Konsalik, A. Cordes und anderen Autoren.

[22])Vgl. dazu Bree, Günter; Schlamp, Günter: Bibliothek von unten. Das hessische Bibliotheksmodell. In: JuLit 1/93, S.19ff. Hier: S.20/21. Sie verweisen auch darauf, daß die Institution der Schulbibliothek nach wie vor ein "Stiefkind" in der bundesdeutschen Bibliothekslandschaft ist, denn ihre Einrichtung ist nicht fest im Schulsystem verankert. Durch die Einbeziehung einer Schulbücherei in den Unterricht können Schüler spielerisch mit bibliographischen Grundkenntnissen vertraut gemacht werden, aber auch die häusliche Lesesozialisation kann durch eine der Schule angegliederte attraktive Schulbücherei effektive Unterstützung erfahren. Wird die Schulbücherei auch für Autorenlesungen, kleine Aufführungen, Vorlesewettbewerbe und als Treffpunkt genutzt, entsteht so eine schulinterne kulturelle Kommunikationsbasis, die zusätzlich die Identifikation der Schüler mit der Schule verstärkt.

[23])Neuere Forschungen haben ergeben, daß im Gegensatz zu den früheren Lesergenerationen, unter den Jugendlichen heute rund 70% Zugang zu einer Schulbibliothek haben. Darüberhinaus sind etwa zwei Drittel Mitglied in einer öffentlichen Bibliothek, nutzen diese aber höchstens zu 5% wöchentlich. Vgl. Bonfadelli, Heinz; Fritz, Angela: Lesen im Alltag von Jugendlichen. In: Lesesozialisation 1. Gütersloh 1993. S. 7-214, hier S.14.

[24])In der jüngeren Forschung zum Leseverhalten, wurde auch dem "Abbruch von Lesekarrieren" nachgegangen. Renate Köcher ist der Auffassung, daß es immer wieder nichtlesende Bezugspersonen oder Partner sind, die das Leseverhalten beeinflussen. Dies.: Lesekarrieren - Kontinuität und Brüche. In: Lesesozialisation 2. Gütersloh 1993. S. 215-310, hier S. 270-276: Ein vorübergehender oder gar völliger Leseverzicht wird auch mit Desinteresse des jeweiligen Partners am Lesen begründet. Ehemalige- oder Nichtleser/Innen leben weitaus häufiger mit Partnern zusammen, die selten lesen, als kontinuierliche Leser/Innen. Einen derart negativen Einfluß, wie ihn Köcher statuiert wurde mir von meinen Informanten nicht formuliert. Im Gegenteil, es gingen, bis auf eine Ausnahme beide Partner souverän und positiv mit den unterschiedlichen Lesintentionen und -vorlieben um, auch wenn einzelne durchaus als langsame, oder wenig lesende Personen skizziert wurden.

[25])Dabei wurden Titel wie Ken Follet: Säulen der Erde; Noah Gordon: Der Medicus; Rosamunde Pilcher: Die Muschelsucher; Michael Chrichton: Dino-Parc; Jostein Gaarder: Sophies Welt; Joy Fielding: Lauf Jane, Lauf! genannt.

[26])Angela Fritz verweist ebenfalls auf die Kompensation fehlender Bildungschancen durch einen erhöhten Buchkonsum, gerade bei denen, die nach dem Krieg in ihrer beruflichen Aufbauphase standen. Für sie bestand die Notwendig mangelnde formale Bildung durch verstärktes Buchlesen auszugleichen. Ihre Gewährspersonen. Ihre Gewährspersonen, denen vom Alter her meine erste Generation entspricht, bekannten sich ebenfalls besonders stark zur klassischen Literatur. Vgl. dies.: Lesen im Medienumfeld. Eine Studie zur Entwicklung und zum Verhalten von Lesern in der Mediengesellschaft. Gütersloh 1991. S.38 u.93.

[27])Seine Tochter lernte nur sehr mühsam lesen und ihre stockende Bemühungen sich Texte zu erlesen, beschäftigte die Familie lange Zeit. Die Eltern versuchten sogar ihr Lesen durch Tonbandaufnahmen und Abspielen derselben zu verbessern. Außerdem versuchte Herr P. sie mit Buchgeschenken zu motivieren.

[28])Im Elternhaus brauchte sie diese "Waffen" natürlich nicht einzusetzen. Trotz ihrer Erfolge hat sie sich mit den hochgestochenen "elaborierten" Sprachmustern nie wohl gefühlt und speist aus dieser Quelle nach wie vor ein gewisses Mißtrauen gegenüber bildungsfördernden Absichten durch Literatur. Frau L. ist die einzige befragte Mutter unter meinen Informanten, die angab, das Leseverhalten ihrer Kinder nicht bewußt zu fördern. Über das Leseverhalten in ihrer eigenen Familie sagte sie: "Ich bin doch bei uns die einzige, die wirklich liest."

[29])Berg; Kiefer, wie Anm. 6, hier Band V. Baden-Baden 1996.

[30])Daß das Lesen in der Schule vorrangig im Dienst der Wissensvermittlung steht, wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit als gegeben vorausgesetzt.

[31])Auf diese nicht unbedeutende Funktion von Lektüre im Leben verweist auch Köcher, wie Anm. 20, S.280/281.

[32])Vgl. Knoll, Joachim; Stefen, Rudolf: Pro und Contra BRAVO. Baden-Baden 1978; Vogel, Andreas: Die Leserschaft der populären Jugendpresse. Markt- und Leseranalyse. In: Media Perspektiven 1/1996. s. 18-29.

[33])Bereits kurz nach ihrem ersten Erscheinen in Deutschland im Jahre 1956 erhitzen sich angesichts dieser Jugendzeitung die Gemüter. Was als Film- und Fernsehzeitschrift startete, entwickelte sich im Lauf der Jahre rasch zu einem Musikblatt für junge Leute. Mit einfachen, aber wirkungsvollen redaktionellen Konzepten gelang es, die Zeitschrift auf Erfolgskurs zu halten und immer wieder neuen Lesernachwuchs heranzuziehen. Im Jahre 1959 sorgte der erste "Starschnitt" von Brigitte Bardot für Aufregung und hohe Auflagen.

[34])Nicht zuletzt hat der ausführliche Aufklärungsteil die Zeitschrift zu dem gemacht, was sie heute ist. Unter dem Pseudonym "Dr. Sommer" bearbeitete ein Team täglich Leserbriefe zu Fragen der Sexualität und Pubertät.

[35])Schildt, Axel: Von der Not der Jugend zur Teenager-Kultur. Aufwachsen in den 50er Jahren. In: Ders.; Sywottek, Arnold (Hrsg.): Modernisierung im Wideraufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1993. S.335-348.

[36])Stil und Aufmachung der "Bravo", mit vielen Fotos, knappen Texten und ständig "neuen" Berichten über Stars der Musikbranche, finden sich mittlerweile in zahlreichen Produkten des "Yellow-Press"-Sektors. Zeitschriften wie "Das goldene Blatt", "Frau im Spiegel", "Praline", sind die Pendants für erwachsene Leser. Wichtig ist die Vermittlung von Sensation, vermeintlichen Insiderkenntnissen über die Wohlhabenden dieser Welt und populäre Zeitgenossen, sowie ein bißchen Sexualität, die z.B. mit dem "Liebespaar der Woche" präsentiert wird. Die Lektüre entsprechender Blätter wurde mir von niemanden im Zusammenhang mit Kauf und regelmäßiger Lektüre genannt. Vorwiegend finden sich diese in den Lesezirkelmappen in Frisiersalons oder in Wartezimmern von Arztpraxen.

[37])Eine kleine Revolution bedeutete die Verbreitung der Transistorradios in Deutschland etwa 1961. Die Radiohörer wurden dadurch autark von den großen, Steckdosen abhängigen Radiogeräten in der Wohnung und konnten auch im Freien Musik und Nachrichten hören oder im Schwimmbad die Fußballberichterstattung verfolgen.

[38])Eigentlich alle Befragten räumten ein, als Fernsehzuschauer die Anziehungskraft von Serien, wie z.B. "Dallas" und "Denver Clan" oder "Lindenstraße" ein. Schon die erste Fernsehfamilie des deutschen Fernsehens "Familie Schölermann" fesselte ganze Familien vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher.

[39])Die Geburtsjahrgänge vor 1955 erlebten häufig den Kauf eines Fernsehgerätes erst als Teenager oder nach ihrem Auszug von zu Hause. Die meisten gaben an, daß ein Fernsehgerät erst Ende der 50er Jahre oder zu Beginn der 60er angeschafft wurde. Viele Familien konnten die Anschaffung auch erst später erübrigen. Die "Renner" in der Zuschauergunst waren neben den bereits erwähnten Familienserien Sportsendungen, Fußballübertragungen, die ersten Quiz- und Showsendungen. Lediglich die dritte Generation wuchs in den meisten Familien bereits "mit" einem Fernseher auf. Für sie wurden Sendungen wie die berühmte "Sesamstraße" konzipiert.

[40])Vgl.Erlinger, Hans-Dieter; Stötzel, Dirk Ulf (Hrsg.): Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungsprozesse und Trends. Berlin 1991.

[41])Junge Familien sahen sich außerdem vor die Problematik gestellt, wer die Kinder während ihrer Abwesenheit, z.B. für einen Kino- oder Theaterbesuch betreute. Für sie war ein Fernsehgerät, wenn sie sich eines leisten konnten, der willkommene Ersatz für außerhäusliche Aktivitäten. Frau M. (1959): "Mein Vater hat mir erzählt, daß sie sich als wir Mädchen klein waren dann auch bald einen Fernseher gekauft hätten, um die Kosten für einen Babysitter zu sparen und sich so die Unterhaltung ins Haus zu holen."

[42])Zu diesem Begriff vgl. auch Peiser, Wolfram: Die Fernsehgeneration. Eine empirische Untersuchung ihrer Mediennutzung und Medienbewertung. Opladen 1996. Wüllenweber, Walter: Wir Fernsehkinder. Eine Generation ohne Programm. Reinbek 1996. Beide verweisen auf das Fernsehen als das "virtuelle Lagerfeuer" der modernen Mediengesellschaft.

[43])Einige Aussagen von Herrn F.(1947) wurden bereits im Zusammenhang mit leseabstinenten Elternhäusern zitiert. Im Gegensatz zu seinen Eltern, bedeutet der Umgang mit Büchern für ihn ein Stück Lebensqualität.