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Kapitel 3 - Herkunft aus öffentlichen Institutionen | Übersicht |


26 Briefe des Tyrannen?

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Pseudo-Phalaris:
Briefe, lateinisch.
Leipzig: Jacob Thanner, 31. V. 1498.
Signatur: 8º Auct. Gr. II, 3506 Inc.
Provenienz: Alexanderstift Einbeck, 1831

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8° Auct. Gr. II, 3506 Inc. (Ausschnitt)
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Berühmte Legenden und Erzählungen ranken sich um die Gestalt des Tyrannen Phalaris, der im sechsten vorchristlichen Jahrhundert in der sizilischen Stadt Akragas (Agrigent) herrschte. Kurz nach der Gründung der Stadt um 580 durch griechische Kolonisten schwang sich Phalaris während eines Festes zum Tyrannen auf und führte der Überlieferung nach ein grausames Regiment. Ob ihm diese Charakterisierung gerecht wird oder ob auch hier wie so oft bei der Beurteilung der älteren Tyrannis die in der späteren Literatur gängigen Topoi vorherrschen, sei dahingestellt. Immerhin förderte Phalaris die Kunst und Philosophie, auch wenn die bekannteste Erzählung, die sich mit seinem Namen verbindet, ein ganz anderes Bild vermittelt. Der Tyrann soll dem Künstler Perillos den Auftrag erteilt haben, einen ehernen, im Inneren hohlen Stier herzustellen, um darin seine Feinde lebendig rösten zu können. Perillos soll der erste gewesen sein, der auf diese Weise den Tod fand. Angeblich hätten die Schreie der Sterbenden von außen wie das Gebrüll des Stieres geklungen. Die Geschichte könnte auf zwei historisch gesicherte Tatsachen verweisen, einerseits auf die Herkunft des Phalaris aus Kreta (kretischer Stier), andererseits auf Kontakte zwischen Akragas und Karthago in Nordafrika, wo Menschenopfer auf ganz ähnliche Weise dargebracht wurden.

Welchen Charakter auch immer Phalaris gehabt haben mag, die Briefe, die in einer kleinen Sammlung unter seinem Namen kursierten und die im hier gezeigten Druck ediert wurden, hat er nicht geschrieben. Am Ende des 17. Jahrhunderts entlarvte der englische Gelehrte Richard Bentley (1662 – 1742) die Texte als Fälschung: Sie sind in attischem Griechisch geschrieben, nicht im sizilischdorischen Dialekt, den Phalaris gesprochen haben muss. Zudem werden Städte erwähnt, die zu Phalaris’ Lebzeiten noch gar nicht existierten. Die Briefe stammen vermutlich von einem Sophisten des zweiten Jahrhunderts. All das wussten aber weder Franciscus Aretinus, als er die lateinische Übersetzung anfertigte, noch der Leipziger Drucker Jacob Thanner, als er das Buch 1498 produzierte.

(JM)