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Kapitel 3 - Herkunft aus öffentlichen Institutionen | Übersicht |


28 Zwischen Spätrenaissance und Barock

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Wendelin Dietterlin:
Architectura: de constitutione symmetria, ac proporzione quinque columnarum.
Nürnberg: Caymox 1598/99.
Signatur: 2° Math. Arch. I, 1365 Rara
Provenienz: Michaeliskloster Lüneburg, 1853

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2° Math. Arch. I, 1365 Rara (Ausschnitt)
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Das Werk des Straßburger Architekten, Malers und Radierers Wendelin Grapp, genannt Dietterlin (1550 – um 1599), ist das wohl bedeutendste Druckwerk der deutschen Spätrenaissance. Dabei fällt die Architectura im Vergleich zu den architekturtheoretischen Arbeiten der Zeit insofern aus dem Rahmen, als Dietterlin in erster Linie Maler und nicht Architekt oder Mathematiker war. Die auf den Studien des antiken Architekturschriftstellers Vitruv basierende Säulenordnung hat Dietterlin als erster auch auf die Malerei und die angewandten Künste übertragen. Sie stellt den Rahmen für phantasievolle, reichhaltige Ornamentik dar. Ein derartiger Einfallsreichtum war singulär im ausgehenden 16. Jahrhundert und weist in seinem nahezu impressionistischen Ausdruck, in Körperlichkeit und Belebtheit voraus in die Formensprache des Barock.

Die von Dietterlin ausgeführten Innenausmalungen von Gebäuden sind leider sämtlich untergegangen, doch existieren zum Teil noch Vorzeichnungen bzw. Nachstiche. Dennoch beruht Dietterlins Ruhm ganz wesentlich auf der Architectura mit ihren über 200 radierten Tafeln und den aufwändigen Entwürfen für allerlei Bauteile, Säulen, Wandgestaltungen, Portale, Tore, Grabmale, Wappen, Fenster, Kamine oder Brunnen. Zielgruppe des Werks waren Maler, für die Dietterlin Anregungen und Vorlagen bereitstellen wollte, weniger Bildhauer und Baumeister, für die die Entwürfe dann doch zu elaboriert gewesen sein dürften. In der Tat scheint Dietterlins Werk auch entsprechend rezipiert worden zu sein: Anhaltspunkte dafür gibt es in Wolfenbüttel, Bückeburg und Paderborn, aber auch in Süddeutschland.

Die Editionsgeschichte der Architectura ist kompliziert und erstreckt sich über die gesamten 1590er Jahre. Die Zusammenstellung der 209 Tafeln der Endfassung scheint 1598 erfolgt zu sein, die Publikation 1598 / 99. Mit den zahlreichen Abbildungen ist das Buch das erste in dieser Größenordnung durch Radierung illustrierte Werk und kann – angesichts der Abnutzung der noch unverstählten Platten beim Druck – nicht in einer sonderlich hohen Auflage hergestellt worden sein. Die bei der Ausführung der Drucke bewiesene kunsthandwerkliche und technische Perfektion zieht den Betrachter bis heute in ihren Bann.

(JM)