Zusammenfassung
Gegenstand dieser Arbeit ist die Modellierung raum-zeitlicher Musterbildungsphänomene
in elektrochemischen Systemen. Solche Selbstorganistaionsphänomene
entstehen aus dem Zusammenspiel einer positiven Rückkopplung und einer
räumlichen Kopplung. Die Aufgabe der Arbeit bestand somit in der Analyse
der räumlichen Kopplung, also der Art und Weise, wie unterschiedliche
Bereiche der Elektrode während einer elektrochemischen Reaktion miteinander
"kommunizieren", sowie der Untersuchung des Wechselspiels dieser Transportprozesse
mit der Reaktionskinetik. Darüber hinaus hat auch die Versuchsführung
einen Einfluß auf die Musterbildung in der Elektrochemie.
Fast alle elektrochemischen Systeme können in drei Systemklassen
eingeteilt werden. Bei den beiden ersten Systemtypen ist die positive Rückkopplung
auf das Potential zurückzuführen. Solche Systeme weisen eine
N-förmige Strom-Spannungs-Charakteristik auf. Sie können in zwei
Kategorien eingeteilt werden: NDR-Systeme (negative differential resistance)
sind dadurch charakterisiert, daß die Instabilitäten auf dem
Ast negativ differentiellen Widerstandes auftreten. Bei HNDR-Systemen (hidden
negative differential resistance) aber finden Selbstorganisationsphänomene
auf einem Ast der Strom-Spannungs-Kurve mit positiver Steigung statt. Bei
dem dritten Systemtyp wird die positive Rückkopplung nicht durch das
Potential verursacht, sondern durch einen anderen Mechanismus, z.B. eine
chemische Autokatalyse oder einen Phasenübergang erster Ordnung. Die
Strom-Spannungs-Charakteristik ist in diesen Fällen S- oder Z-förmig.
Es hat sich gezeigt, daß alle drei Systemtypen durch Aktivator-Inhibitor-Modelle
beschrieben werden können. In den beiden ersten Typen stellt das Potential
den Aktivator dar. Der Inhibitor ist im NDR-System durch die Konzentration
der reagierenden Spezies gegeben, im HNDR-System durch die Bedeckung einer
adsorbierenden Spezies. Im dritten Systemtyp stellt die Variable, die den
Rückkopplungsmechanismus verursacht, den Aktivator des Systems dar,
und das Potential übernimmt die Rolle des Inhibitors.
Bei der Beschreibung der Transportprozesse konnte von einem experimentell
bestätigten Modell von G. Flätgen und K. Krischer ausgegangen
werden , welches zeigt, daß die räumliche Kopplung über
das Potential durch die Migrationsströme im Elektrolyten verursacht
wird. Potentialunterschiede an der Elektrode induzieren demnach einen Migrationsstrom,
der bestrebt ist, diese auszugleichen. Anders als in chemischen Systemen
findet hier die Kommunikation zwischen den einzelnen Bereichen der Elektrode
nicht durch einen Diffusionsprozeß, sondern durch einen Migrationsprozeß
statt. Es konnte gezeigt werden, daß die räumlichen Kopplung
über die Migrationsströme langreichweitig ist. Die Untersuchung
der Eigenschaften dieser langreichweitigen Kopplung sowie ihre Wirkung
auf die Musterbildung in den drei oben genannten Systemtypen standen im
Mittelpunkt in dieser Arbeit. Des weiteren wurde die Auswirkung der Versuchsführung,
also ob die Reaktion potentiostatisch oder galvanostatisch geführt
wird, auf das dynamische Verhalten analysiert. Es konnte gezeigt werden,
daß die galvanostatische Versuchsführung eine globale Kopplung
induziert.
Die Reichweite der langreichweitigen Kopplung ist durch einen geometrischen
Parameter b der Zelle gegeben, nämlich
durch das Verhältnis des Abstandes zwischen Arbeits- und Gegenelektrode
und dem Arbeitselektrodenumfang. Die Stärke der Kopplung ist proportional
dem Verhältnis von spezifischer Leitfähigkeit des Elektrolyten
zur Geschwindigkeitskonstanten der Reaktion.
Es wurde gezeigt, wie die beiden Parameter der räumlichen Kopplung,
ihre Reichweite sowie ihre Stärke auf die Frontdynamik im bistabilen
Bereich bei NDR-Systemen wirkt: Bei kleinen Reichweiten breitet sich eine
Front mit konstanter Geschwindigkeit aus, während sie sich bei großer
Reichweite beschleunigt ausbreitet. Dieser Effekt ist beispielsweise bei
der Reduktion von Peroxodisulfat an Silber und bei der Oxidation von Kobalt
in Phosphorsäure gemessen worden. Es wurde weiterhin gezeigt, daß
die Stärke der globalen Kopplung über den externen Schaltkreis
nicht nur proportional zum externen Widerstand ist. Sie ist auch eine Funktion
der Parameter des Elektrolyten und der Geometrie der Zelle: Sie ist proportional
zur spezifischen Leitfähigkeit des Elektrolyten und zum Kehrwert des
geometrischen Parameters b. Die Wirkung dieser
globalen Kopplung auf die Frontdynamik ist durch ihre charakteristische
Parameterabhängigkeit geprägt: Bei kleiner Reichweite wird die
Ausbreitung der Front qualitativ beeinflußt. Die Front breitet sich
ohne globale Kopplung mit konstanter Geschwindigkeit aus; mit zunehmender
globaler Kopplung aber wird die Front beschleunigt. Bei großer Reichweite
hingegen wird die Frontdynamik durch die globale Kopplung nicht wesentlich
verändert, die Übergänge werden lediglich etwas schneller.
Durch die Nicht-Lokalität der räumlichen Kopplung breiten sich
auch Pulse im anregbaren Regime beschleunigt aus. Im oszillatorische Bereich
existiert eine Vielfalt raum-zeitlicher Muster von einer stehenden Welle
mit einem Knoten, die der homogenen Oszillation überlagert ist, bis
hin zu raum-zeitlichem Chaos. Eine solche stehende Welle mit einem Knoten
wurde z.B. im Peroxodisulfatsystem beobachtet, raum-zeitlich chaotische
Dynamik z.B. während der anodischen Oxidation von Kobalt.
Erstaunlicherweise kann in einem HNDR-System unter bestimmten Bedingungen
eine Bifurkation zu stationären Strukturen (Turing-Bifurkation) auftreten.
Erstaunlich deshalb, da die Stärke der Aktivatorkopplung immer größer
ist als die der Inhibitorkopplung. In Reaktions-Diffusions-Systemen sind
Turing-Bifurkationen nur möglich, wenn umgekehrt die Aktivatordiffusion
kleiner ist als die Inhibitordiffusion. Es wurde gezeigt, daß für
die elektrochemische langreichweitige Kopplung über das Potential
diese Turing-Bedingung nicht gilt. Auch bei NDR-Systemen ist dies der Fall,
es gibt aber in diesen Systemen eine weitere Einschränkung, die die
Herausbildung stationärer Strukturen verhindert: In beide, in die
Dynamik des Aktivators und des Inhibitors, geht der Reaktionsstrom in gleicher
Weise ein, so daß die Stärken der lokalen Terme nicht unabhängig
voneinander variiert werden können. Es wurde des weiteren gezeigt,
daß es im HNDR-System im oszillatorischen Regime zu komplexer raum-zeitlicher
Musterbildung kommen kann.
In elektrochemischen Systemen, die eine S- oder Z-förmige Strom-Spannungs-Charakteristik
aufweisen, ist es, unseren Ergebnissen zufolge, sogar schwerer, Parameter
zu finden, bei denen das System homogen ist, als solche bei denen es räumlich
oder raum-zeitlich strukturiert ist. Es treten neben Turing-Strukturen
auch komplexe mixed-mode-Oszillationen auf. |