Zusammenfassung
Das vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in seinen Entscheidungen entwickelte
Verbraucherleitbild des ?durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger
Durchschnittsverbrauchers? wird in der vorliegenden Arbeit anhand von Befunden aus der
Konsumentenforschung kritisch überprüft. Insbesondere wird der Frage nachgegangen, ob die
Qualitätswahrnehmung bei Lebensmittelkäufen in der vom EuGH zugrunde gelegten Form real
existiert oder lediglich eine Idealvorstellung darstellt.
Zu diesem Zweck wird zunächst das Verbraucherleitbild des EuGH im Hinblick auf die
Qualitätswahrnehmung bei Lebensmitteln analysiert und vom Leitbild des flüchtigen deutschen
Durchschnittsverbrauchers abgegrenzt. Dem besseren Verständnis dient ein grober Überblick
der rechtlichen Grundlagen, sowohl in Deutschland als auch in der EU.
Die Besprechung von Forschungsergebnissen zur Qualitätswahrnehmung bei Lebensmitteln
beschäftigt sich im ersten Teil mit grundlegenden Erkenntnissen zum Wahrnehmungs- und
Informationsverhalten der Konsumenten. Dabei wird deutlich, dass es sich bei der
Produktwahrnehmung des Verbrauchers um einen subjektiven und selektiven Vorgang handelt,
den eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Der Aufnahme und Verarbeitung aller angebotenen
Informationen stehen sowohl die begrenzten Kapazitäten der Verbraucher als auch deren
Entlastungsstreben entgegen.
Die Betrachtung der speziellen Qualitätswahrnehmungsabläufe bei Lebensmitteln im zweiten Teil
beginnt mit einer Abhandlung zum vielschichtigen und kontrovers diskutierten Begriff der
Lebensmittelqualität. Das als objektiv angesehene, auf physiko-chemischen und sensorischen
Analysen beruhende Verständnis der Lebensmittelqualität unterscheidet sich von der subjektiv
wahrgenommenen Lebensmittelqualität, wie sie dem Verbraucher als Basis zur Präferenzbildung
dient.
Obwohl die Qualität eines Lebensmittels, bedingt durch die Vielzahl der einwirkenden Faktoren
und die individuell unterschiedliche Meinungsbildung, von jedem Menschen anders gesehen wird,
folgt der eigentliche Wahrnehmungsvorgang bestimmten Regeln und lässt sich theoretisch
darstellen. Da nicht alle den Käufer interessierenden Produkteigenschaften zum Zeitpunkt des
Kaufs zugänglich sind, bedient sich der Verbraucher sogenannter Qualitätsindikatoren. Durch
den indirekten Charakter der Merkmalserfassung treten nachweislich Fehler auf, weshalb die
Verbraucher die Beschaffenheit von Lebensmitteln vor einem Kauf nicht immer korrekt ermitteln.
Hieraus kann sich eine falsche Produkterwartung ableiten, die unter Umständen zu einer
veränderten Wahrnehmung des tatsächlichen Produkterlebnisses führt. Wenn solche
Fehlperzeptionen bei nicht verifizierbaren Eigenschaften (sogenannten Glaubenseigenschaften)
auftreten, lassen sie sich durch Produkterfahrungen, auch auf längere Sicht, nicht korrigieren.
Begünstigt wird die Fehlbeurteilung von Lebensmitteln durch die Fülle und Unübersichtlichkeit
des derzeitigen Informationsangebotes, welches die Kapazitäten der Verbraucher nur
unzureichend berücksichtigt, sowie durch das Wissen der Anbieter um die Möglichkeiten, wie sie
Wahrnehmungsverschiebungen herbeiführen.
Obwohl eine steigende Qualitätsorientierung der Verbraucher besteht, wirken sich in der Regel
auch qualitätsunabhängige Faktoren auf den Lebensmittelkauf aus. Neben bestimmten
Gewohnheiten und sozialen Komponenten verhindern vor allem Kostenfaktoren, dass die
präferierte Qualität erworben wird. Letzere umfassen neben finanziellen Auslagen auch
Aufwendungen anderer Art, zum Beispiel zusätzlicher Zeitaufwand und Wege.
Trotz erheblicher Informationsmengen und dem Empfinden einer tendenziell abnehmenden
Qualität des Gesamtangebotes sehen sich die Verbraucher in den meisten Fällen als relativ
kompetente Marktpartner und halten sich demnach für fähig, erfolgreiche Entscheidungen zu
fällen. Verunsichernd wirken vermeintliche und reale Gesundheitsrisiken, denen die meisten
Konsumenten aber mit einer zuversichtlichen Beurteilung ihrer persönlichen Risiken (?optimistic
bias?) begegnen.
Die kritische Überprüfung des Verbraucherleitbildes des EuGH ergibt, dass dem Käufer zwar
durchaus ein verstärktes Interesse an Qualität und Qualitätsinformationen unterstellt werden darf,
die vom EuGH vorausgesetzte Verständigkeit und Informiertheit unter den derzeitigen
Bedingungen aber weit hinter der juristischen Fiktion zurückbleibt. |